Am 24. November gibt es eine bilderreiche Buchpremiere in Lindenau. Der Pro Leipzig e.V. lädt dazu ins Gemeindehaus der Liebfrauenkirche ein. Das ist hart an der Grenze zu Plagwitz, kurz vorm Bahnhof Plagwitz. Aber es ist Lindenau. Manchmal braucht man eine Menge Zeit und gutes Schuhwerk, um einen ganzen Leipziger Stadtteil kennenzulernen. Oder ein Buch mit lauter Ansichtskarten.
Diese Bände mit hunderten historischer Kartenmotive haben sich bei Pro Leipzig längst zu einer ganzen Serie entwickelt. 2010 hat das mal mit dem großen Standardwerk zur Leipziger Geschichte der Ansichtskartenverlage begonnen: “Bilderbogen” hieß das. Da wurde schon sichtbar, wie viele spannende Ansichten vor allem des Leipzigs um 1900 in alten Ansichtkarten überdauert haben und wie facettenreich sich damit ganze Stadträume rekonstruieren lassen. Das Material, das emsige Leipziger Sammler in oft jahrzehntelanger Sucharbeit zusammengetragen haben, macht aber nicht nur das große Ganze erlebbar, sondern auch das Detail.
Das wurde dann in den Folgebänden sichtbar zu Großzschocher, Connewitz, der Südvorstadt, Möckern & Wahren. Jeder Stadtteil hat seine eigene Geschichte, seine eigenen Sehenswürdigkeiten, schillernden Persönlichkeiten und legendären Orte. Und fast alles ist irgendwann zwischen 1890 und 1930 mal im Postkartenbild festgehalten worden, manchmal gleich dutzend- und hundertfach, weil die bunten Karten natürlich auch gleichzeitig Werbematerial und Botschaftsträger waren. Wenn Palmengarten, “Drei Linden” oder Charlottenhof auf der Rückseite (die Bilderseite war immer die Rückseite der Postkarte) abgebildet waren, mussten Emil und Emilie gar nicht mehr viel hinschreiben in das kleine verbliebene Schreibfeld als: “Wir waren hier. Das Wetter war schön. Das Essen war lecker.” Oder Ähnliches.
In Millionenzahlen gingen die Bildermotive damals auf die Reise. Thomas Nabert, der in diesem Band wieder eine Menge Fachwissen zur Geschichte der Leipziger Ansichtskartenverlage und zur Regionalgeschichte Lindenaus beisteuerte, vergleicht die Ansichtskarten mit den heutigen E-Mails. Denn damals gab es ja noch kein Internet. Man grüßte und verabredete sich via Postkarte und pfiff auf die Bedenken in Bundes- und Reichstagen, was den so wichtigen Persönlichkeitsschutz betraf. Postgeheimnis hieß das damals, heißt es heute immer noch, auch wenn heutige Politiker sich im “Neuland” Internet wieder anstellen, als hätte man es mit völlig neuen Phänomenen zu tun. Statt den Bürgern selbst die Wahl zu lassen, was sie offen vermailen und was nicht, wo Schutzräume sinnvoll sind und staatlich auch gesichert werden müssen – und wo nicht.
Der Unterschied ist freilich, dass um 1900 kein Geheimdienst und kein Konzern aus den hin und her eilenden Postkartengrüßen ein Fahndungsbild für einen einzelnen Absender machen konnte, auch wenn das deutsche Geheimdienste hinfort mit aller Macht versuchten, indem sie Briefe und Postkarten abfingen.
Das ist ein anderes Thema. Aber man sieht: Das Sammelobjekt Ansichtskarte regt an zum Denken nach rechts, links und voraus, oder auch mal um die Ecke, rüber über den jahrhundertealten Dammweg, der Leipzig quer durch die breite Elsteraue mit Lindenau verband. Darüber erzählt Thomas Nabert gleich im Vorwort, denn es ist ein Stück Leipziger Geschichte, das fast schon vergessen ist: dass die berühmte Via Regia über Jahrhunderte ein mehr recht als schlecht befestigter Knüppelweg war, der aus Lützen kommend beim Dorf Lindenau schon mal die Kleine Luppe überquerte, um dann durch ein immer hochwassergefährdetes Gebiet als einzige halbwegs sichere Verbindung nach Leipzig zu führen.
Und so lernt man beim Blättern schon bald, dass das heutige Gejammer über “Jahrhunderthochwasser” mehr Übertreibung als Realismus ist, denn “Jahrhunderthochwasser” sind in der Elsteraue fast das Normale. Ein Bild im Vorwort zeigt die vom Hochwasser 1799 zerstörte Lindenauer Chaussee. Weiter hinten findet man dann auch Postkarten mit den Hochwasserereignissen von 1899 und 1909. Und natürlich gibt es auch ein ausführliches Kapitel zu den Leipziger Hochwasserregulierungen, die durch das Hochwasser von 1909 erst so richtig in die Gänge kamen und die alte Auenlandschaft für immer veränderten. Natürlich betraf das Lindenau direkt, denn mit dem Bau des Elsterbeckens und der gegenüber dem alten Damm um 3 Meter höher gelegenen Zeppelinbrücke wurde die Verbindung in den Leipziger Westen erstmals sicher und tatsächlich trocken. Gleichzeitig gingen viele alte Wasserläufe – wie das Kuhstrangwasser bei Lindenau oder weiter südlich bei Schleußig die Rödel – verloren.
Ebenso nachhaltig waren all die Bau- und Erschließungsarbeiten, die Karl Heine gestartet hatte – der Karl-Heine-Kanal fließt ja zum Teil über Lindenauer Flur, der Lindenauer Hafen liegt sogar ganz drauf. Und man staunt wieder, wie sehr auch hier das heutige Argumentieren die damaligen Absichten verdreht. Wenn es nach Karl Heine und seinen Mitstreitern gegangen wäre, hätte Leipzig einen großen Güterschiffhafen bekommen – und zwar dicht am Stadtzentrum, dort, wo sich heute das Schreberbad befindet. Diese Pläne wurden genauso wenig umgesetzt wie der Traum, das Elsterbecken zu einer Art Leipziger Binnenalster zu machen.
Der Lindenauer Hafen aber war niemals dazu vorgesehen, mit dem Leipziger Gewässernetz verbunden zu werden. Er sollte in den 1930er/1940er Jahren der eigentliche Endpunkt für die Güterschifffahrt auf dem Elster-Saale-Kanal werden. So bewahren Ansichtskarten auch Geschichte, Pläne, Visionen. Und natürlich gibt es auch hunderte Motive, die einfach zeigen, wie Lindenau aussah. Vieles ist verschwunden und gehört heute zu den Lindenauer Legenden – wie eben der Charlottenhof, der Lindenauer Zement, der Palmengarten, der Kuhturm oder das Prießnitz-Bad. Andere Gebäude sind alte Bekannte, haben aber ihre Nutzung komplett verändert – so wie der einstige Ballsaal des “Drei Linden”, der sich im Lauf der Jahrzehnte zur Musikalischen Komödie mauserte, oder das am Lindenauer Markt erbaute Hotel “Deutsches Haus”, in dem heute das Theater der Jungen Welt logiert.
Es ist wie in den anderen porträtierten Leipziger Stadtteilen auch: Die Postkarten erzählen auch von einer Zeit, in der die Randgemeinden und eingemeindeten Dörfer zu neuen Ausflugszielen für die Leipziger wurden. Die beliebtesten Gaststätten hatten dann eben nicht nur Billard- und Gesellschaftszimmer, sondern oft genug auch große Freisitze und Biergärten, in denen man bei Ausflügen zu Fuß oder mit der neu installierten Straßenbahn einkehren konnte. Auch das ein wesentliches Stück Gesellschaftsgeschichte: Es gab auch im Adressbuch eindeutig mehr Gaststätten als Rechtsanwälte. Das soll heute anders sein, heißt es in der Einführung ins Buch – womit man dann weiß, wo Streitigkeiten vor 100 Jahren ausgetragen wurden und wo sie heute landen.
Es gibt auch wieder die umfangreichen Bilderstrecken zu den Fabriken, Läden und Handwerksbetrieben in Lindenau. Man sieht sogar die Bauarbeiter schachten beim Tieferlegen der Lütznerstraße, sonst wäre die Straßenbahn nicht unter der Eisenbahnbrücke durchgekommen. Man sieht Kleingartenanlagen und Sportvereine entstehen. Und man sieht Kinder und Erwachsene vor ihren Wohnhäusern versammelt, während der Wanderfotograf um absolutes Stillhalten bittet, denn er will ja Haus und Bewohner für die Ewigkeit festhalten.
Zwischengestreut sind viele Firmenbriefköpfe all der mehr oder weniger berühmten Unternehmen, die einst in Lindenau ansässig waren und dem heftig wachsenden Vorort (Lindenau wurde 1891 nach Leipzig eingemeindet) tausende Arbeitsplätze boten. Im Buchteil mit den alten Fabriken sieht man dann auch die rauchenden Schlote beidseits des Karl-Heine-Kanals. Stolz zeigen andere Karten dann wieder die neu entstandenen Kirchen und Schulen und man ahnt, dass auch in diesem Vorort so eine Art städtisches Selbstbewusstsein wuchs und ein paar Honoratioren durchaus mit dem Gedanken spielten, Lindenau zur selbstständigen Stadt zu machen. Damals war es die Landesregierung, die dem Unfug Einhalt gebot. (Ähnliches kann man ja auch im Stadtteillexikon “Stötteritz” nachlesen).
Aber trotzdem zeigen die rund 450 Kartenmotive, dass Lindenau im Konzert der Leipziger Stadtteile eine unverwechselbare Geschichte hat, die es deutlich von seinen Nachbarn, von der Kernstadt oder gar den Stadtteilen in den anderen Himmelsrichtungen unterscheidet. Übrigens auch in der Bausubstanz, denn gerade Lindenau hatte unter den Bombenverlusten des 2. Weltkrieges relativ wenig zu leiden, was dort einen Großteil der gründerzeitlichen Bausubstanz erhielt und die wilden Auswüchse des Plattenbaus in der DDR-Zeit verhinderte. Selbst der 1. Weltkrieg spielt im Ortsbild eine Rolle, denn der brachte den rasanten Umbau Lindenaus zum komplett mit gründerzeitlichen Standardbauten harmonisierten Stadtteil zum Stoppen, so dass sich auch viele Zeugnisse des 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Stadtbild erhielten – zumindest bis in die 1970er/1980er Jahre, bevor die Leipziger Stadtplaner rigoros begannen, abzureißen, was ihnen als “alter Plunder” erschien.
Und so hat man wieder eine kompakte und mit Bilderflut frappierende Stadtteilgeschichte vor sich, die am Ende noch mit ein paar Motiven aus den 1930er und 1960er Jahren ausklingt. Aber da war das große Zeitalter der Ansichtskarten schon vorbei, die Landschaft der Postkartenverlage ausgedünnt. Heute sind viele dieser alten Ansichten dann wieder Vorlage für Rekonstruktionen im Stadtbild. Ein paar mal taucht im Buch auch das repräsentative Haus am Palmengarten auf, das dieser Tage als “Capa-Haus” wieder zu neuem Leben erwacht – samt stilvollem Café im Erdgeschoss, das im Dezember eröffnen soll. Grund genug eigentlich, eine neue Postkartenserie aufzulegen.
Wilfried Grylla, Thomas Nabert “Lindenau. Ein Leipziger Stadtteil auf alten Ansichtskarten”, Pro Leipzig, Leipzig 2015, 19 Euro
Termintipp:
Die Buchpräsentation für “Lindenau. Ein Leipziger Stadtteil auf alten Ansichtskarten” findet am Dienstag, 24. November, um 18 Uhr im Gemeindesaal der Liebfrauenkirche in der Karl-Heine-Straße 110 statt.
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