Schwierige Sache, das mit den Gedichten. Wann hören sie auf, Gedichte zu sein und werden zum Aphorismus? Wenn man nicht aufpasst, geht das ganz schnell. In neun Zeilen zum Beispiel und 14 Worten. Das passiert Gustav Lüder immer wieder. Kommt wohl eben so im Verlauf von 50 Jahren ab und zu mal vor.

Heute ist der einstige Unternehmer 85, ein kritischer Zeitgenosse, der augenscheinlich ein Leben lang neben der Liebe zur Literatur auch die skeptische Sicht auf die Politik bewahrt hat. Nachlesbar in seinen beiden Romanen “In die bessere Gesellschaft” von 2011 und “Die Dezernentin” von 2014. Wie das funktioniert mit dem Aufstieg, dem Neid, der Netzwerkerei, den Verschwörungen und Gerüchten in kleinen Städten, weiß er genau. Irgendwann weiß man, wie menschliche Gesellschaften funktionieren, wie schnell sich die Grüppchen verbandeln und die Honoratioren dafür sorgen, dass Projekte zu Fall kommen, Veränderungen abgewürgt werden oder unliebsame Windmacher kaltgestellt werden.

Und wenn man sich diese ganzen Wilhelm-Raabe-Landschaften in Deutschland so anschaut, dann merkt man bald, dass dieselben Klüngeleien auch in größeren und ganz großen Städten geschehen. Es ist schon ein kleines Wunder, dass sich dieses Land tatsächlich modernisiert. Aber Politiker möchte der Mann, der seine Gedichte aus 50 Jahren in diesem Bändchen gesammelt hat, doch nicht werden. “Es ist einfacher / die Rolle / eines / Pazifisten / als die / eines / gewählten / Politikers / zu spielen.”- “Verschiedene Rollen” hat er diesen Gedicht-Aphorismus genannt.

Man merkt: Hinter dem Dichter steckt auch ein kritischer Zeitgenosse, der gern ein wenig seine Erkenntnisse über unsere Gesellschaft unterbringen will, augenzwinkernd zumeist, denn wer ehrlich mit sich ist, weiß, wie sehr menschliche Schwächen immer wieder eine Rolle spielen. Weder die Vernunft noch die gern beschworenenen Werte bestimmen das Leben der meisten Menschen. Den einen geht es um Macht, um Einfluss, um Geld, den anderen um Rache, Liebe oder ein ungestörtes Leben. Da schaut einer wie Gustav Lüder zu, sehnt sich nach einer friedlicheren Welt (“Eine weiße Wolke / trägt meine Träume fort …”) und weiß doch, dass genau in diesem Moment wieder Kriegsschiffe unterwegs sind, Männer in Uniformen, die Dörfer und Städte verwüsten werden.

Wenn einer ein Leben lang solche kleinen Texte schreibt, sie auch da und dort veröffentlicht, kommt auch so ein wenig gesammelte Weltsicht dabei heraus. Viel romantische Hoffnung, immer ein wenig unterminiert durch winzige Verschiebungen in Deutungen und Worten, die Lüder vornimmt. “Die Straßenschlacht tobt”, beginnt sein Gedicht “Silvester”. Ein paar Worte, und man sieht all diese nicht zu zügelnden Väter vor sich, die in der Schießerei zum Jahreswechsel ihr Temperament austoben. Der “Pulverdampf” kommt wenig später auch im Gedicht “Im Grenzbereich” wieder zur Sprache als “von Pulverdampf / geschwärzte(s) Tuch.”

Ein Gedicht, das 1961 genauso gültig gewesen sein muss wie heute, wo wieder völlig überforderte Politiker merken, dass sie einer Entwicklung nicht Herr werden und nach Abschottung rufen. “Grenzen markieren Herrschaftsräume”, schreibt Lüder. Manchmal muss man die Dinge einfach wieder benennen, um ihr Wesen zu begreifen.

Ist der Mann nun verbittert? Nicht wirklich. Es hat sich ja am Wesen der Menschen nichts geändert. Nur die Namen der handelnden Narren sind andere, die Parteiabzeichen auch. Der Geist ist derselbe, jener zerrüttete Geist, der sich in Herrschaft flüchtet, weil ein Machtlossein nicht ertragen wird. Sie berauschen sich daran, andere Menschen hinter sich her traben zu lassen, egal, wohin, Hauptsache, sie traben. Irgendwann kennt man diese Typen. Und schreibt dann solche Verse: “Der Leithammel ist ein hohes Tier, / meinen die Herdenschafe, / und sie schenken ihm ihr Vertrauen ….” Ein Motiv, das auch andere bissige Dichter schon aufgegriffen haben.

Aber Lüder kennt auch noch den anderen Effekt, den all jene erleben, die nicht der blökenden Herde nachlaufen. Dann wird der Einzelgänger niedergemacht, wird gegen die Individualisten, die schwarzen Schafe gewettert, “die den Schafsköpfen zuwider.”

Wieder so ein Gedicht, das zum Aphorismus tendiert. Daneben stehen dann aber auch immer wieder kleine Naturbilder, lässt sich der Autor von Wetter- und Lichtphänomenen inspirieren und ist jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie das alles so unbehelligt weiterläuft, unbeeinflusst von den kleinen Taten der Menschen. Im Großen spiegelt sich die Faszination des Beobachters. Und dann blättert man um und sieht ihn wieder den Kopf schütteln über die Narreteien der Menschen, ihre Eitelkeit, ihre Selbstverblendung und ihren Opportunismus. So ein wenig scheint dem Hildesheimer dabei auch der quirlige Professor Lichtenberg über die Schulter zu schauen: Glaubst du wirklich, dass die sich noch ändern?

Es ist schon erstaunlich, dass einer wie Lüder da nicht resigniert, wo er doch nun schon Generationen von aufgeblasenen Leithammeln erlebt hat, meist schön maskiert wie in “Maskerade”: “Es gibt kein Lied, das sie nicht singen können, die in den ersten Reihen / steh’n …”

Man kann schon ganz schön abgeklärt werden im hohen Alter, wenn man die ganze Zeit die Augen und Ohren offengehalten hat, sich Seins dachte und vor allem geschafft hat, sich aus den größten Hammeleien herauszuhalten, die in der Regel eigentlich nur große Mauscheleien sind, in denen die Hammel versuchen, ihr Scherflein beiseite zu schaffen. Wie der “gewählte Politiker” in “Das Spiegelbild”, der sich eines Tages unverblümt zurückzieht “auf sein steiles / Bankkonto in / der Schweiz”.

Man bekommt also quasi ein Doppelbändchen mit kleinen, symbolkräftigen (Natur-)Gedichten und jeder Menge Gedichte, die ganz flott und unverhofft zum Aphorismus werden. Aber so wird’s Lichtenberg seinerzeit auch gegangen sein. Man möchte eigentlich nur lauter Gedichte schreiben, und dann drängelt sich doch die mauschelige Gegenwart in den Text. Da kann man dann nur noch Pointen setzen.

Gustav Lüder Unzählige Fische, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2015, 12 Euro.

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