Man hat ja immer so eine Hoffnung. Gerade in so einem Jubiläumsjahr, in dem sich auch mal ein paar mehr Wissenschaftler in die Archive knien und die Fakten überprüfen für die ab Herbst erscheinende neue Stadtgeschichte. Nach 100 Jahren haben sich so viele neue Fehler in die städtische Überlieferung eingeschlichen, dass man Leipzig eigentlich nicht mehr wiedererkennt.
Es ist quasi ein zweites Leipzig entstanden neben dem realen, eines aus lauter Legenden, Märchen und Flickschustereien. Einer schreibt vom anderen ab. Fehler werden nicht nur fortgeschrieben, sondern noch erweitert. Manche sind geradezu fest ins Korsett der Stadt genagelt. Wahrscheinlich werden wir an dieser Stelle mal – ganz so, wie es Otto-Werner Förster auf seiner Website (siehe unten) auch tut – die schlimmsten Mythen aufdröseln müssen.
Es wäre schön gewesen, wenn es Mathias Sachsenweger und Luise Holste geschafft hätten, all die angesammelten Fettnäpfchen zu vermeiden. Aber das haben sie leider nicht. Vielleicht auch deshalb nicht, weil sie zwar die übliche Sekundärliteratur durchschmökert, aber das dort oft und gern Kolportierte für bare Münze genommen haben. Was etwas verständlicher wird, wenn man weiß, dass Prof. Dr. Mathias Sachsenweger zwar aus Leipzig kommt, hier bis zur “Wende” als Mediziner tätig war, seitdem aber eine eigene Augenarztpraxis in Landshut betreibt. Da sitzt man als eingefleischter Leipziger nicht mehr direkt an der Quelle. Geschrieben hat er das Buch zusammen mit seiner Tochter Luise Holste, die noch in Leipzig lebt. Da gibt es genug Anlässe, beim Heimatbesuch auch mal die ganzen angesagten Orte zu besuchen, von denen alle reden. Oder einige Magazine ständig reden.
Deswegen mischt sich natürlich in diesem Buch die Liebe zu Leipzig mit der Begeisterung für einige Örtlichkeiten wie den “Drallewatsch”, die Spinnerei oder Auerbachs Keller. Und die Idee, das Buch sozusagen wie eine persönliche Einladung zum Kennenlernen der Stadt zu gestalten, ist natürlich anrührend. Auf zehn Seiten führen die beiden Autoren ein in das, was ihnen an Leipzig immer besonders gefallen hat – Thomaner, Kaffeehauskultur, Gemiedlichkeit. Danach bieten sie ihren besonderen kulturellen Erkundungsgang durch die Innenstadt an – vom Hauptbahnhof über den Markt und den Augustusplatz zum Neuen Rathaus. Und danach schildern sie in einzelnen Kapiteln die verschiedenen Seiten der Stadt: Geschichte, Literatur, Musik, Kunst, Gaumenfreuden, Dialekt und Auenlandschaft.
Was will man mehr? Das ist eine schöne Mischung. Und es wäre auch schön, wenn alles stimmen würde. Immerhin werden im Kapitel Literatur auch die beiden legendären Leipziger Lexikon-Verlage (Brockhaus und Meyer) gewürdigt. Aber an den entscheidenden Stellen haben die beiden leider nicht ins Lexikon geschaut. Was schade ist. Vielleicht sollte es schnell gehen. Das kennen Schriftsteller und Autoren: Ist man erst einmal so richtig im Schreiben, möchte man eigentlich durch nichts mehr gebremst und gestört werden. Dann wird der Stil flüssig und die Sache erzählt sich praktisch von selbst.
Manchmal leider zu sehr. Und so stolpert man über manche hübsche Kamelle. Das geht los mit der ersten deutschen Nationaloper, ein Titel, den die beiden flott mal dem 1842 in Leipzig aufgeführten “Wildschütz” von Albert Lortzing verpassen. Eindeutig ein Lustspiel. Aber Nationaloper war der andere Schütz, “Der Freischütz” von Weber, 1821 uraufgeführt in Berlin.
Zu den echten Legenden gehört, dass die Stadt einst planmäßig um den Markt herum gebaut wurde. Was unmöglich ist: Der Markt ist jünger als die um 1165 gegründete Stadt. Und als hätte man’s erwartet, erzählen auch diese beiden, die Disputation von 1519 hätte in der Pleißenburg stattgefunden, auf deren Grundmauern das Neue Rathaus errichtet wurde. Und Friedrich August I. ist den Alliierten nach der Völkerschlacht wohl auch nicht entgegen gegangen, um sie zu begrüßen. Dazu war er zu sehr König. (Was jüngst erst Sabine Ebert in ihrem Roman “1815” schön feinfühlig geschildert hat.) Manches ist einfach zu schön flott erzählt. Das passiert. Aber so kommen die Legenden nach Leipzig – oder gar der berühmte Moses Mendelsohn, den die beiden Autoren im Gedenkkupferstich für das 1794 geschlossene “Richters Kaffeehaus” entdeckt haben wollen. Aber es handelt sich dabei um den Arzt Dr. Salomo Burgheim. Nachzulesen im 1990 erschienenen “Leipzig zu Fuß” aus dem Forum Verlag, ein verdienstvolles Buch, das in seiner Qualität und Faktengenauigkeit seither nicht wieder erreicht wurde.
Was einfach tragisch ist. Und was dann Büchern wie diesen hier leider nicht gut tut, auch wenn das Anliegen so schön und verständlich ist. Aber je öfter man dieses mulmige Gefühl bekommt, dass wir da vor 25 Jahren alle schon mal weiter waren, umso skeptischer schaut man sich um und fragt sich: Ist wirklich das Internet an allem schuld? Oder nehmen wir die schönen Dinge nicht mehr ernst? Nicht mehr ernst genug?
Matthias Sachsenweger, Luise Holste “Leipzig. Musik-, Kultur- und Messestadt“, Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2015, 14,95 Euro
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Oh ja, in Leipzig werden schon recht viele Details gerne etwas zurechtgelegt.
So wie sich eine Zeitlang hartnäckig das Gerücht hielt, die alte Trinitatiskirche habe schon mal dort gestanden, wo jetzt die neue (“St. Tetris”) steht. Die gerne gepflegte Sprechweise “gegenüber dem Neuen Rathaus” hat einige Eingeborene schon ziemlich gefoppt, weil sie natürlich an “gegenüber dem Hauptportal” dachte. Ich persönlich finde nicht, dass der wirkliche alte Standort (ungefähr da, wo jetzt die Anna-Magdalena-Bach-Schule [ehemals Manetschule] steht) als “gegenüber” dem Neuen Rathaus zu bezeichnen sei.
Gibt noch mehr Gerüchte, die gepflegt werden.