Berge von Büchern sind mittlerweile schon erschienen zum unheimlichen Wirken der Stasi. "Die Stasi war mein Eckermann", meinte Erich Loest, als er sich (mit einer Menge Wut im Bauch) mit diesem Thema beschäftigte. Schon damals war Stutzen angesagt, denn Johann Peter Eckermanns "Gespräche mit Goethe" gelten ja nicht als Verzerrung des großen Dichters. Denn Berichten und Berichten - das sind augenscheinlich völlig verschiedene Welten.

Was auch Martin Morgner so erfahren haben muss, als er sich die Akten, die das MfS über ihn angelegt hat, zu Gemüte führte. Heute ist der 1948 Geborene Dozent für Neuere und Neueste Geschichte des Historischen Instituts der Jenaer Universität. Er war an der Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte beteiligt, war auch mal Grünen-Abgeordneter, Dramaturg in Altenburg-Gera und Chemnitz. Ursprünglich hatte er Ökonomie studiert, war also auf dem besten Weg, ein ordentlicher DDR-Kader zu werden. Aber nach einer ersten Erfahrung mit dem Staatsapparat auf Kreisebene stieg er aus und suchte einen neuen Weg für sich, der ihn in die Puppentheater-Szene der DDR führte. Nicht ganz ohne Schleifen und Brüche, denn solche Ausstiege sahen die Staatsverwalter gar nicht gern.

1973 musste er nicht nur zur Fahne einrücken – wo er den Dienst mit der Waffe komplett verweigerte und Bausoldat wurde -, in diesem Jahr beginnen auch die Aufzeichnungen der Überwacher, die dem aufmüpfigen jungen Mann alles Mögliche zutrauten – von der Staatsgefährdung bis zur Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Doch Martin Morgner legt in diesem Buch keine weitere Analyse des seltsamen Denkens der Überwacher vor. Das ist mittlerweile von anderen schon zur Genüge getan worden. Er lässt die Texte für sich sprechen, indem er sie einfach gegenüberstellt – links die Original-Protokolle der diversen MfS-Offiziere mit ihren strammen Begründungen dafür, warum sie diesen M. für ein gefährliches Subjekt halten und sich eine enge Beobachtung seiner Aktivitäten, ein Aushorchen in persönlichen Gesprächen, eine Kompletterfassung seines persönlichen Umfeldes und die Beschlagnahme seiner persönlichen Aufzeichnungen wünschen. (Wer sich dabei an die Denk- und Arbeitsweisen heutiger Geheimdienste erinnert fühlt, liegt wahrscheinlich gar nicht so falsch – solche Apparate tendieren immer dazu, ein unersättliches Eigenleben zu entwickeln.)

Gerade die eigentlich verblüffend banalen Anfänge der Beobachtung machen recht deutlich, wie schnell einer in der DDR zum Beobachtungsobjekt wurde, wenn er nicht ins vorgegebene Raster der Funktionäre passte – die falschen Fragen stellte, die falsche Haartracht trug, die Rolle von Funktionären und Wirtschaftslenkern hinterfragte oder eben, wie Morgner, einfach die amtlichen Berufslaufbahnen verließ und eigene Wege suchte. Postwendend machten ihn die MfS-Überwacher zum “Wühler” und leiteten für den Bausoldaten die erste Überwachungsmaßnahme ein – die am Ende mit einem sanften Plopp endet: Nichts von dem, was die Offiziere breitbrüstig behauptet hatten, konnte man dem unangepassten Burschen nachweisen. Der Staatsfeind war kein Staatsfeind.

Aber das bewahrte ihn nicht davor, übergangslos gleich 1975 wieder Objekt des nächsten Überwachungsvorgangs zu werden. Jetzt nahm die MfS-Verwaltung Gera den Burschen in ihre Beobachtungskartei auf und beargwöhnte seine Arbeit am Geraer Puppentheater und sein Fernstudium in Leipzig. 1980 folgte der nächste Vorgang, als der Versuch mehrerer Puppenspieler und Künstler aus der ganzen DDR, eine eigene Künstlergemeinschaft in Mecklenburg  zu gründen, die staatlichen Spürhunde aufs höchste alarmierte. In den ausgewählten Protokollen ist nicht nur zu lesen, wie emsig das MfS versuchte, Morgners Umfeld mit allerlei IMs zu besetzen, sondern auch, wie man alle Machtmittel nutzte, auf die Beteiligten Druck auszuüben und die beobachteten Gruppen zu zersetzen.

Deswegen landete das Wort zersetzen auch im Titel. Gerald Diesener versucht den Titel im Nachwort zwar auch in die Perspektiven eines oder mehrerer gelebter Leben einzuordnen, zitiert die Markovschen Zeitenbrüche, die auch dafür sorgen, dass ein Leben durchaus aus mehreren gelebten Leben bestehen kann. Eine Perspektive, die natürlich auch in diesem Buch sichtbar wird. Denn unübersehbar hat das, was die Stasi-Offiziere protokolliert haben, zwar irgendwie etwas mit Morgners Leben zu tun – aber aus ihrer Perspektive der amtlichen Verdächtigung sehen sie einen völlig anderen Menschen, ein gefährliches Subjekt, dessen unangepasste Handlungen allesamt gegen ihn verwendet werden können.

Martin Morgner hat dagegen einfach die zeitlich parallel entstandenen eigenen Texte gesetzt – Gedichte zumeist, Ausschnitte aus seinen Theaterstücken, Bilder aus dem Freundeskreis, von Bulgarienreisen, Aufführungen und Auftritten. Im letzten “Beobachtungsteil” unter dem Kürzel “Bühne” taucht dann auch die Gruppe “Liede(h)rlich” auf, zu der auch Stefan Krawczyk gehörte. Das Kapitel weist also sichtlich schon über das Jahr 1984 hinaus, mit dem das Buch endet. Auch die Gruppe “Liede(h)rlich” wurde “zersetzt” und Stefan Krawczyk wurde zu einem Gesicht des Protestes innerhalb der DDR, während Morgner weiter darum rang, die schwelenden Probleme des Landes in Stücken fürs Puppentheater zu gestalten – gegen den zähen Widerstand der Funktionäre.

Eigentlich muss Morgner da auch nichts mehr kommentieren. Die Leser des Buches sehen rechts sein zum Teil sehr unangepasstes, sehr kreatives, aber auch immer um künstlerische Verwirklichung ringendes Leben, links stehen die sturen, von stalinschem Jargon triefenden Protokolle der Überwacher, die jedes Abweichen vom amtlich Normierten nur als Angriff auf Staatsmacht und Sozialismus zu interpretieren verstehen. In ihren Beobachtungsprotokollen wird die komplette Erstarrung der Macht sichtbar. Wenn diese Leute diesen Jargon tatsächlich so auch dachten, dann bedeutet das natürlich auch, dass sie gar nicht (mehr) fähig waren, irgendetwas von dem, was im Land geschah, zu begreifen. Die völlige Sprachunfähigkeit von 1989 ist hier ja schon in aller protokollarischen Gräue zu lesen. Und dass Menschen wie Martin Morgner ihre künstlerischen Ambitionen nun ausgerechnet darin sahen, die Wirklichkeit zu benennen und den öffentlichen Diskurs zu suchen, das konnte mit diesem betonierten Misstrauen nur kollidieren.

Dass diese unheimliche Nähe zu den staatlichen Beobachtern nicht ganz spurlos an Morgner vorbei ging, das ist in etlichen der Texte zu lesen – aber es steckt auch in diesem Titel. Wobei die “Zersetzte Zeit” auch noch mit einem anderen Titel korrespondiert: Margerete von Trottas “Die bleierne Zeit” von 1981. Quasi eine Korrespondenz über Grenzen hinweg. Nur dass Morgners Geschichte 1984 nicht endet. Im Gegenteil: Da schrieb er noch ein Gedicht mit den Zeilen “Es ist für nichts noch nicht zu spät”. “Wende 1984” hat er es benannt. Quasi als Ausklang und Übergang in eine Zeit, die er in diesem Buch nicht mehr protokolliert.

Das Wesentliche über die “Zersetzte Zeit” ist gesagt. Und das Verblüffende ist eigentlich: Die Mächtigen waren schon 1973 bis 1984 genauso sprach- und ahnungslos, wie sie 1989 auftraten. Das Leben pulst in diesem Buch eindeutig auf den Seiten mit Morgners Texten und Fotos, gegen die die amtlichen Protokolle wie grauer Staub wirken, der Rost einer Macht, die an nichts mehr glaubt und keine Visionen mehr hat. Eine Gegenüberstellung, die auch keinen Kommentar mehr braucht.

Martin Morgner “Zersetzte Zeit. 1973 – 1984, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2015, 29 Euro

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