Bevor sich André Herrmann, der Antreh, im Sommer auf nach Brüssel macht (was er am 1. April angekündigt hat und trotzdem ernst meint), hat er für seine dagebliebenen Leipziger und die anderen Gutverträglichen ein Büchlein fertiggemacht. Sogar ein dickes. Ein Klassenkampfbuch für Klassenkämpfer.
Eigentlich ist es selbst schon das Buch über einen langen Abschied. Denn bevor André Herrmann vor acht Jahren nach Leipzig kam und für das übergeschnappte Stadtmarketing die Marke “Hypezig” erfand, kam er ja aus einem Land weit jenseits der Zeit. Aus Sachsen-Anhalt. Da ist er großgeworden in einer Kleinstadt, wie es da mehrere gibt. Eine schöner und kleiner als die andere. Los ist zwar nix, wenn nicht gerade Dorfdisko ist oder Ehemaligentreffen. Aber das heißt ja nicht, dass das Sichloslösen so einfach ist, auch wenn man sich nach dem irgendwie geschafften Abitur schwört, ja nie wieder herzukommen. Nix wie weg, sagt sich also der Buchheld André und versucht’s mal mit Potsdam. Eigentlich weiß er sowieso nicht, was er mal machen will. Nur eins weiß er: Dableiben und versumpfen, das will er auf keinen Fall.
Da geht es ihm wie dem Autor, der natürlich beteuert, das alles frei erfunden ist. Ist es natürlich auch. Auch wenn es den Buch-André auch irgendwann (nach einem Zwischenspiel bei einem großen Online-Buchhändler) nach Leipzig verschlägt, um Politikwissenschaft zu studieren. Genauso wie den Autor. Aber nicht nur Mitglieder linker Parteigruppen sollten aufpassen, wenn er irgendwo mal eine “Klassenkampf”-Lesung macht. Es geht nicht um Barrikaden und auch nicht um Karl Marx (der wird nicht mal erwähnt). Aber es geht um das große Dazwischen, das jeder erlebt, der noch ein bisschen Neugier hat aufs Leben, wenn die Schule aus ist. Das kann quälend sein. Gerade dann, wenn auf dem Kompass nicht zu erkennen ist, wo’s hingehen soll. Manche machen es ja dann ganz fix, studieren das Nächstliegende, gründen Familie, machen Bausparvertrag, kriegen Kinder. Oder sie bewerben sich gleich für acht Jahre beim Bund.
Das erfährt man dann spätestens nach einem Jahr beim Ehemaligentreffen. Jedenfalls an Andrés Schule ist das so. Und er schwört sich: Da geh ich nie hin.
Wie das aber so ist bei den kessen Damen und Herren der Lesebühnen (und André Herrmann ist ja gleich in zwei Lesebühnen eine der tragenden Herkulesgestalten – beim “Schkeuditzer Kreuz” in Leipzig und bei “Fuchs & Söhne” in Berlin): Aus den schrägsten Ideen werden die schönsten Geschichten. Die wildesten sowieso. Erst recht, wenn einer auch noch was abzumachen hat mit seinem Nest, aus dem er gefallen ist. Und dieser Autor hat was abzumachen. Es ist keine Abrechnung. Es ist viel schöner. Mit verblüffender Liebe zu diesem spröden Landstrich, seinen Bewohnern und ihrer Sprache hebt er das verlorene Ländchen Sachsen-Anhalt zurück auf die literarische Landkarte. Da war’s nun tatsächlich gefühlte 26 Jahre komplett verschwunden. Züge machten einen großen Bogen drumherum. Wer was auf sich hielt, erwähnte bestenfalls mal Leipzig, Berlin und Goslar, vermied aber möglichst jede Anspielung auf das dazwischen. Eine Menge Leute hatten sich ja mit verblüffendem Erfolg alle Mühe gegeben, dieses seltsame Ländchen durch eine kleine Zeitverschiebung (“Wir stehen früher auf”) gänzlich von der Landkarte verschwinden zu lassen. Nur in Leipzig wunderte man sich, dass immer wieder verblüffte junge Leute auftauchten, die Boah und Eije sagten und Bauklötzer staunten, dass es in einer Stadt mehr geben könnte als eine Bahnhofskneipe, ein Arbeitsamt und einen Dönermann ohne Arbeitserlaubnis.
Aus so einem Staunen können turbulente Geschichten entstehen. Die lässt der André seinen Antreh erleben, jedes Jahr aufs Neue – wie beim “Murmeltiertag”. Nur dass die Helden in seiner Schon-wieder-Geschichte trotzdem älter werden, Kinder kriegen, einen Job finden (oder auch nicht) und seltsame Dinge tun. Und sie geben sich alle Mühe, den Helden der Geschichte jedes Mal zum Ehemaligentreffen zu bekommen, das so peinlich ist wie wahrscheinlich alle – erst recht, wenn die andern anfangen zu erzählen, was sie schon alles erreicht haben. Einzige Ausnahme ist Andrés Kumpel Maik, von dem er Stein und Bein schwört, dass er den nun tatsächlich komplett erfunden hätte. Das mag glauben, wer will, denn im späteren Teil der Geschichte, in der Buch-André schon glücklich in Leipzig gelandet ist und neben der völlig unnützen Politikwissenschaft auch noch einen eigenen Blog betreibt (na so was), wird in der zunehmend vom Leben gezeichneten Runde der 2005-er-Absolventen auch fröhlich darüber diskutiert, woher der Antreh eigentlich alle diese witzigen Geschichten über das kleine Städtchen in Sachsen-Anhalt hat. Und ob es diese ganzen komischen Gestalten tatsächlich gibt, hihi.
Aber davon leben natürlich auch diese Geschichten. Denn eigentlich sind’s ja lauter echte Lesebühnen-Geschichten. Andere hätten drei bis vier Geschichten-Bände draus gemacht samt beigelegter CD. Auch André Herrmann hat das ganze Buch eingelesen. Beim Verlag ist es noch angezeigt, das Hörbuch “Tnaller”. Ist aber schon vergriffen.
Die Tnaller gehören zu den wichtigsten Utensilien in dieser Kleinstadt, in der man sich entweder so einer kleinen Halbwüchsigen-Truppe anschließt und professionell irgendwo rumhängt oder sich am Kiosk die Kante gibt. Wenn’s wieder Tnaller gibt, ist Maik der erste, der sich den Golf volllädt und dem Volkssport Briefkastensprengen nachgeht. Es gibt noch eine zweite Beschäftigung in diesem zeitversetzten Ländchen, wie nun schwarz auf weiß zu lesen ist: Pflastersteine abgreifen, wenn mal irgendwo Baustelle ist oder mal ein paar lose liegen. Mit Pflastersteinen kann man augenscheinlich alle glücklich machen.
Herrmanns Geschichten leben dabei von dieser ganz speziellen Mischung aus Trotz, Aufbegehren, Weglaufenwollen und doch jedes Mal erfahren, wie schmerzvoll vertraut ihm das alles ist. Es kommt so ziemlich jede Grausamkeit drin vor, die die Erfinder des modernen Arbeitsmarktes sich für die ostdeutsche Provinz ausgedacht haben. Hilfreich ist das dem Burschen, der da Weihnachten für Weihnachten wieder im vertrauten Ambiente landet, alles nicht. Man kann auch aus lauter Verzweiflung zum Schreiben kommen. Oder aus Protest. Man kann ja seine Heimat lieben mit all ihren Narreteien – aber ein Blog ist eigentlich ganz gut geeignet, um sich aus der Misere herauszuschreiben. Und auch eine etwas abgeklärtere Haltung zur Welt zu gewinnen. Also dann doch noch irgendwie groß zu werden. Das mit dem Erwachsenwerden ist eine andere Sache. Da muss man vorher abbiegen. Am besten gleich nach dem Abitur. Phantasie und Neugier abgeben an der Kasse, Iro gegen Anzug tauschen. Und durchplanen den Rest. Freundliche Anrufer, die einem am Telefon die neuen Tarife für die Versicherung verraten, gibt es ja genug.
So nebenbei fällt einem also auch auf, wie erwachsen Deutschland eigentlich ist. Und dass die in Sachsen-Anhalt wohl nur den Fehler gemacht haben, sofort erwachsen sein zu wollen. Also gleich in den Die-Rente-ist-sicher-Modus zu schalten. Armes Ländchen. Aber wer bei den Kapiteln 2005, 2006, 2007 und so weiter noch denkt, das könne nicht gut ausgehen für den Helden, so etwas könne nur in einer gewaltigen Depression enden, der merkt dann schon, je mehr er sich aufs Finale 2014 hinarbeitet, dass man mit Tnallern ganz schön weit kommt und eine durchgeknallte Phantasie das beste Heilmittel gegen das sumpfige Gefühl ist, das einen dermaßen herunter ziehen will, wenn es schon mal nach Thale gehen muss. Da hat der Held am Ende noch eine Lesung spendiert bekommen.
Auf der Website des Verlages gibt es noch ein paar Leseproben für alle, die das Hörbuch nicht bekommen haben. Und am 20. Mai liest Herr Herrmann selbst aus seinem dicken Abschied-von-Zuhause-Klassenkampf-Roman in Horns Erben in Leipzig. Ist also eine Chance für die Groupies, auch mal ein Autogramm zu bekommen.
Und alle, die bei seiner Verkündung, er würde nach Brüssel gehen, in Tränen ausgebrochen sind, verspricht er hochheilig, dass er seinen Blog nicht abschalten und weiter zu den Auftritten der Lesebühnen jettet, in denen er eigentlich zu Hause ist. Und wer das nicht aushält so lange, der kann ja dies dicke Ding hier lesen. Es soll Leute geben, die haben es an einem Abend geschafft.
André Herrmann “Klassenkampf“, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2015, 19,90 Euro
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