Da hat er aber etwas angerichtet, dieser William Skakespeare, als er in seinem Stück "Ein Wintermärchen" das Königreich Böhmen kurzerhand ans Meer verfrachtete und Antigonus mit dem Schiff "The Deserts of Bohemia" erreichen lässt. Ein Irrtum? Oder eine poetische Freiheit? - Egal. Denn der Dichter konnte vor 400 Jahren nicht wirklich ahnen, welche Aktualität seine kleine Weltverschiebung 350 Jahre später bekommen würde.
Und zwar gerade für die Bewohner dieses weltabgeschiedenen Böhmens, das seit 1918 nicht mehr Teil eines österreichischen Vielvölkerstaates war, sondern Herz eines neuen Staates, der sich auf einmal mitten im Herzen Europas wiederfand, mit starken Freunden. Zumindest auf dem Papier. Doch schon 1938 erlebten die Bewohner der tschechoslowakischen Republik, was Verträge wert sein können, wenn nebenan ein GröFaZ sich an keine Regeln mehr hält und mit Drohungen und Rücksichtslosigkeit Politik macht. Das Münchner Abkommen wurde nicht nur für die CSR zur Katastrophe, sondern auch für das westliche Europa, dessen Staatsmänner glaubten, sich mit den Zugeständnissen an Hitler ein bisschen Frieden erkaufen zu können.
Bekommen haben sie einen Krieg und ein gespaltenes Europa, dessen östliche Hälfte hinter einem Eisernen Vorhang verschwand. Mitsamt Böhmen, das – wie all die anderen Nationen östlich der Elbe – erlebte, wie das ist, völlig abgeschnitten zu sein von der Welt. Vom weiten und freien Meer sowieso.
Doch wenn Politiker sich einmauern, beginnen Dichter, sich mit den Dingen zu beschäftigen. Intensiv und phantasievoll und sprachbegabt, wenn sie gut sind. Und wenn ein dichterisches Motiv sich geradezu aufdrängt, dann wird es gleich mehrfach aufgegriffen. Ein Thema, das den Germanisten und Literaturprofessor Reiner Neubert besonders intensiv beschäftigte, als er an den Universitäten Pilsen und Budweis zur Gastprofessur weilte. Das war nach der “Wende”. Und die Zeit des Abgeschnittenseins vom Meer war eindeutig vorbei.
Die Texte, die das alte Shakespearsche Motiv aufgreifen, stammen deshalb auch alle aus der Zeit des Abgeschnittenseins. Und sie bestechen durch ihre völlig unterschiedlichen Blickwinkel auf das Thema. Da ist zum einen Franz Fühmanns “Böhmen am Meer”, zehn Jahre nach dem Krieg entstanden, in dem zwar die Vertreibung aus dem Sudetenland scheinbar eine Rolle spielt – aber tatsächlich erzählt Fühmann eine andere, sehr emotionale Geschichte von Heimatlossein, menschlichem Anstand und Vertrauen. Darin Shakespeare natürlich wieder nah. Könige und Königreiche sind auch dem alten englischen Dichter immer nur Staffage gewesen. Bewähren müssen sich seine Helden in dramatischen, aber zutiefst irdischen Konflikten. Und das Unheil kommt dort über die Welt, wo die Königreiche wichtiger werden als die menschliche Ehrlichkeit.
Die Heimatlosigkeiten beginnen, wo “die Sache” regiert. Und so entstand 1964 auch ein Gedicht von Ingeborg Bachmann, das in seiner Vielschichtigkeit nicht nur Reiner Neubert begeistert, sondern auch Erich Fried fasziniert hat, der mit der Kennerschaft des Dichters in einem Essay erkundet, wie sich hier die Be- und Entgrenzung eines Landes, der Sprache und der (zutiefst verschreckten und verunsicherten) Dichterin ineinander weben: Prag als ein möglicher Ort der Abweisung und des Aufgenommenseins. Und zugleich ist es ein Text, der den Sommer 1968 vorweg zu nehmen scheint.
Was dann in Volker Brauns Stück “Böhmen am Meer” (das Neubert in diesem Lesebuch in einer neuen, bislang noch nicht veröffentlichten Fassung bringt) thematisiert – als Ende und völligen Verlust einer Utopie mit Protagonisten, die dem eigenen Leben nur noch so fatalistisch begegnen können wie die Helden in “Warten auf Godot”. In diesem Fall von Aversionen zerfressen, die dicht unter der Oberfläche lauern. Das Meer ist verseucht. Vom Shakespearschen “Wintermärchen” ist nichts mehr zu finden.
1988 setzte sich auch die tschechische Schriftstellerin Libuse Monikova mit dem Motiv auseinander, krempelte es aber einfach um und machte sich Gedanken darüber, was für ein Reich Böhmen eigentlich sein könnte, wenn es wirklich bis zum Meer reichen wollte? Welche Länder wären eigentlich so schuldlos, dass sie hätten dabei sein dürfen? Denn der Großmachtwahn, den Fühmann in seiner Geschichte zitiert, war ja nicht nur ein deutscher. Auch andere Staaten glaubten in der Geschichte immer wieder, sie müssten auf Kosten der anderen wachsen und mächtig werden. Monikova geht die Sache mit echtem Humor an – und all diese Großmäuler der Geschichte erscheinen da eher wie Diebe und Ganoven, die sich immer wieder völlig daneben benommen haben.
Und auch eine faszinierende Geschichte von Hans Magnus Enzensberger findet sich in der Sammlung, schon 1987 erschienen, auch wenn er die Handlung ins Jahr 2006 verlegte. Und wüsste man nicht, dass er diesen Prag-Besuch vor der Samtenen Revolution geschrieben hat, würde man es fast wie eine heutige Geschichte lesen, so punktgenau hat er ein Prag nach dem Untergang des Sozialismus beschrieben. Und ob es solche Schwärmer, wie er sie beschreibt, nicht auch heute in Prag gibt – wer weiß das schon?
Neubert selbst versucht die unterschiedlichen Motive der Texte selbst in seinem Vorwort zu bündeln und einzusortieren. Denn augenscheinlich drängte sich in der 40-jährigen Isolation der Länder hinterm Eisernen Vorhang das Shakespearesche Motiv von “Böhmen am Meer” (oder eben: nicht mehr am Meer) geradezu auf, bündelte auch Assoziationen wie Verlorensein, Inseldasein, Heimatlosigkeit, aber auch Flucht und Verschwinden wie in Zuzana Brabcovas “Weit vom Baum”.
Was Neubert in diesem Lesebuch noch einmal kontrastiert durch die märchenhaften Bilder von Sylvia Graupner, die in Leipzig an der HGB studiert hat und heute in Annaberg lebt. 2013 – just zur Jahrhundertflut – stellte sie in Zwickau ihre Bilder zum Thema “Böhmen am Meer” aus, die Neubert dann anregten, all die Geschichten zu “Böhmen am Meer” mal in einem Buch zu vereinen. Wobei Graupners Bilder eindeutig eine weitere Palette poetischer, verspielter Motive beisteuern. Es sind eindeutig Bilder aus einer Zeit, in der das Goldene Prag wieder unbeschränkten Zugang zum Meer hat, Menschen wieder Lust am Träumen haben. Die neue Utopie quasi als Gegenpol zu den gescheiterten Utopisten Volker Brauns oder dem Verlorenheitsgefühl von Ingeborg Bachmann.
Man kann sich durchaus seine eigenen Gedanken machen zu diesem Stoff. Am Ende geht es ja nicht um Inseln oder Königreiche, sondern um das Menschseindürfen unter zuweilen beklemmenden Zuständen. Oder um die Kraft, Mensch zu bleiben bei aller Gefährdung. Also eher ein Anrege-Lesebuch für alle, die nicht allzu fest darauf vertrauen, dass der Weg ans Meer (immer) offen ist.
Reiner Neubert (Hrsg.) “Liegt Böhmen am Meer? Ein literarisches Lesebuch“, Lychatz Verlag, Leipzig 2015, 19,95 Euro
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