Es ist ein Mords-Trumm von Buch, das die drei Leipziger Wissenschaftler Thomas Ahbe, Michael Hofmann und Volker Stiehler jetzt vorgelegt haben, 800 Seiten dick zu einem Thema, von dem man zuweilen schon glaubte, dass es jetzt durchdekliniert wäre, reif für die Ablage: den Herbst 1989 und die Sache mit der Redefreiheit. Mit der alles beginnt. Freiheit ist kein Himmelsgeschenk und keine Gnade, sondern der Moment, an dem Menschen den Mut finden, den Mund aufzumachen.
Ohne tatkräftige Unterstützung des Leipziger Kulturdezernats, der Stadtwerke Leipzig und der Stiftung Bürger für Leipzig wäre dieses Buch nie erschienen. Es wäre schlicht unbezahlbar geblieben. Und damit nicht erreichbar für alle, die nach 25 Jahren so das seltsame Gefühl haben, dass die Ereignisse von damals immer weiter umgedeutet und vereinnahmt werden von Leuten, die diesen Zeitenbruch in ihrem Sinne instrumentalisieren. Dabei wird dieser Herbst Stück um Stück zum plakativen Bild einer Zeitenwende, bei der sich alles auf eine kleine Gruppe von Bürgerrechtlern und Pfarrern fokussiert, während das eigentlich Faszinierende an diesem Herbst 1989 einfach verschwindet, regelrecht in buntem Kitsch ersäuft wird.
Typisch dafür war die schiere Blindheit der Leipziger Stadtverwaltung bei der Einladung der Gäste zum Festakt am 9. Oktober 2014, als man zwar Kurt Masur und Bernd-Lutz Lange einlud, die drei damaligen SED-Funktionäre Meyer, Wötzel und Pommert aber nicht. Das ist keine bloße Gedankenlosigkeit oder Begrenzung auf die wichtigsten Bürgerrechtler, wie OBM Burkhard Jung behauptet – dann wären auch Masur und Lange nicht auf der Einladungsliste aufgetaucht. Es ist genau die heutige Geschichtsbereinigung, die den Herbst 1989 zu einem Aufstand der Heiligen umdeutet und einfach nicht wahr haben will, wie komplex das alles war und wie das seinerzeit auch den Staatsapparat und die Staatspartei zerriss. Und vor allem: dass die erlebte Gewaltlosigkeit nie so geschehen wäre, wenn nur der kirchliche Anteil an den Ereignissen dabei eine Rolle gespielt hätte.
Gerade der 9. Oktober ist gekennzeichnet davon, dass der Protest nicht nur mit 100.000 Mutigen auf die Straße ging (die hätten schon lange in keine Kirche mehr gepasst, auch nicht in die fünf Leipziger Kirchen, die an diesem 9. Oktober 1989 geöffnet waren), sondern auch die ersten Leipziger Spitzenfunktionäre die Parteidisziplin verließen (und damit auch die Sprachlosigkeit) und sich mit dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange, dem Theologieprofessor Peter Zimmermann und Gewandhauskapellmeister Kurt Masur zusammensetzten, um den “Aufruf der Sechs” zu verfassen, der am Abend dann in den Kirchen und über den Stadtfunk verlesen wurde.
Der Aufruf ergänzte die beiden vorher schon von den Basisgruppen und vom Neuen Forum lancierten Aufrufe zur Friedfertigkeit. Aber er war auch zum ersten Mal eine Botschaft aus den Sphären der Macht, dass man zum Dialog bereit war (nicht zu verwechseln mit den späteren Dialog-Erklärungen). Das war das Neue daran – und es gibt viele Teilnehmer dieser Demonstration, die sich daran erinnern, dass ihnen eine Last vom Herzen fiel, als sie den Aufruf hörten.
Und in den ersten Tagen nach dieser wichtigen Demonstration war man sich in Leipzig sehr wohl bewusst, welches Gewicht diese paar Sätze hatten, die auch von drei wichtigen Leipziger SED-Funktionären unterschrieben waren.
Den Aufruf findet man – neben den Aufrufen der Basisgruppen und des Neuen Forums im Anlagenteil des Buches, dessen Grundmaterial im Grunde seit 1996 vorliegt. Da hatte Volker Stiehler die Gewandhausgespräche schon verschriftlicht. Nur veröffentlicht wurden sie nicht. Das war bislang eine echte Lücke in der Erinnerung an den Herbst 1989. Vor fünf Jahren holte sich Stiehler Verstärkung mit Ahbe und Hofmann. Sie wollten sein Buchprojekt um ihren sozialwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Sachverstand ergänzen. Das ist gleich im Einstiegsteil des Buches nachzulesen, dem, was Thomas Ahbe so locker “Einführung: Gewalt oder Verhandeln?” benannt hat. Dabei ist es eine dringend notwendige Ergänzung zu all den sonstigen Geschichten zum Herbst 1989, die das Ganze gern auf die Kirche, die Bürgerrechtler und das “Wunder” der Gewaltlosigkeit beschränken.
Das aber ist immer nur – bestenfalls – die halbe Geschichte. Selten genug wird auch die andere Seite, die Seite der Macht, beschrieben. Lieber wird sie verteufelt oder banalisiert, frei nach dem Muster: Die waren ja eh nur auf Konfrontation aus und haben dann klein beigegeben. Im Grunde ist es überfällig, dass dieser Teil der Staatsgeschichte endlich auch einmal separat beschrieben wird. Ahbe tut es in einigen Teilen in dieser Einführung, die auch zeigt, wie sehr die Ereignisse im Vorfeld des Herbstes bis hinein in die staatlichen Apparate wirkten. Angefangen bei den Massenfluchten über Ungarn, die besetzten Botschaften in Prag und Warschau bis hin zu den harten Reaktionen der Polizei auf die Proteste in Dresden, Berlin (am 7. Oktober), aber vorher auch in Leipzig. Exemplarisch im Buch zu finden ist die Demonstration von 15.000 Bürgern am 2. Oktober, die schon friedlich auf dem Ring demonstrierten. Dokumentiert sogar durch Tonbandaufnahmen des Fotografen Gerhard Gäbler, die im Grunde die ersten echten Dokumente des Dialogs waren, der damals begann.
Und sie machen hörbar, wie die friedlichen, aber wütenden Leipziger die Polizisten zur Rede stellten, die ihnen am Marx-Engels-Platz (dem heutigen Goerdelerring) den Weg verstellten. Eine Wut, die über Wochen gewachsen war, denn genauso hatte die Polizei zuletzt auch jedesmal den Nikolaikirchhof abgeriegelt, hatte wahllos Menschen verhaftet und war mit Gewalt gegen die Anwesenden vorgegangen, die sie gerade erst in ihrem Kordon eingeschlossen hatten. Später – in den Gesprächen im Gewandhaus und im Academixer-Keller – würde dann auch offenkundig werden, in welcher schizophrenen Situation sich die eingesetzten Bereitschaftspolizisten befanden, junge Männer, die ja nur ihren Wehrdienst bei der Bereitschaftspolizei ableisteten und auf einmal mit Schild, Helm und Gummiknüppel ausgerüstet gegen die blanke “Konterrevolution” losschlagen sollten. So hatten es ihnen ihre Vorgesetzten eingebläut. Und dann standen sie Menschen gegenüber, die ihre Mütter, Väter, Arbeitskollegen hätten sein können und in vielen Fällen wohl auch waren. Gäblers (heimlich aufgenommene) Tonbandaufnahmen sind kostbar. Sie zeigen noch viel deutlicher den wachsenden Mut der Leipziger, ihre berechtigten Erwartungen an eine Änderung im Land zu artikulieren.
Wie die Leipziger den Funktionären das Sprechen beibrachten – gleich im zweiten Teil der Buchbesprechung.
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