Heute mal etwas zur Entspannung. Ein bisschen christlich. Kommt ja auch aus dem St. Benno Verlag. Ein bisschen weiblich. Was man so als Glaubenslaie nicht ganz versteht: Bekommen christliche Männer einen anderen Kalender? Mit mehr Bumms, mehr Action und mehr Testosteron? - Das wäre zumindest seltsam. Ein Blick auf die Website des St. Benno Verlages zeigt freilich: Es gibt gar keinen Kalender für Männer.

Hier zumindest nicht. Anderswo schon. Aber das hat dann eher selten mit christlichem Leben oder gar einem Einklang mit sich und seiner Welt zu tun. Das stille AutorInnen-Kollektiv des St. Benno Verlags hat zwei sinnende Frauen aufs Cover gepackt und “Kalender für Frauen” drauf geschrieben, obwohl nichts zu Menstruation, zu Schwangerschaft oder Menopause drin steht. Dafür jede Menge Dinge, die auch Männer beherzigen sollten. Eigentlich hat der Kalender sogar drei Unter-Überschriften. Die eine fasst zusammen, was man in diesem Buch auch wirklich findet: “Impulse, Gedanken, Anregungen für jeden Tag”.

Und die andere zeigt den Spannungsbogen, der hier auf jeder einzelnen Seite aufgemacht wird: “Natürlich leben. Christlich leben.” Mit Betonung auf dem ersten Teil der Botschaft, auch wenn jede Seite gespickt ist mit kleinen Bitt- und Dankgebeten, christlichen Gedichten, einem Segen und manchmal auch kleinen Andachten. Unterlegt sind die einzelnen Tage mit schönen Fotos, die vom Leben erzählen, von der Faszination der Natur und der Jahreszeiten, von Wachstum und Weite. Da und dort taucht auch der bekannte Fisch auf oder der Regenbogen. Die modernen digitalen Bildarchive halten ja heute Millionen solcher Bilder bereit, in denen sich christliche Symbolik wiederentdecken lässt, die aber auch das allgemeine menschliche Fasziniertsein von der gigantischen Schönheit unserer Welt einfangen. So gesehen schon mal ein richtig stimmungsvolles christliches Bilderbuch.

Übrigens ohne den aus Kalendern sonst bekannten Platz für eigene Notizen und Termineinträge. Es ist eher ein Blätter- und Andachtskalender. Aber nicht nur.

Denn der andere Aspekt – “Natürlich leben” – ist harmonisch mit eingebaut. Er korrespondiert mit dem Kalender-Titel: “Alles hat seine Zeit”, zu finden in der Bibel im Buch der Prediger, Kapitel 3, oft gehört. Gerade, wenn menschliche Vergänglichkeit zum Thema wird. In der modernen Luther-Übersetzung: “Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde …” Das gilt für das ganze Leben. Und so ist es auch im Kalender eingebaut. Oder um Maria Radziwon aus ihrem kurzen Vorwort zu zitieren: “Gerade dann, wenn Herausforderungen zu meistern sind oder Ihnen der Alltag zu schaffen macht, kann es gut tun, innezuhalten und den großen Themen des Lebens und Glaubens nachzuspüren.”

Um diese “großen Themen” geht es. Sie gehören eben nicht nur zum Glauben und strukturieren die Welt der Gläubigen. Sie stammen 1:1 aus der Welt, in der  auch alle anderen Menschen leben. Leben könnten, wenn sie denn den Mut und die Kraft haben, sich immer wieder darauf zu besinnen, dass man nicht zum Hetzen und Jagen, zum  besinnungslosen Arbeiten und Geldverdienen auf der Welt ist. Zum Außer-sich-Sein. Denn dann rast man zwar durch sein Leben, hat’s aber am Ende nicht gelebt. Das steckt alles in diesem Satz, der natürlich in der Bibel noch viel ausführlicher ist. Und auch in diesem Kalender, der im Grunde eine große, besinnliche Interpretation des Themas ist. Natürlich kommen auch all die Stellen drin vor, an denen wir selbst aus der Spur geraten. Im Februar zum Beispiel geht es ums Ärgern. Da wird auch Kurt Tucholsky zitiert: “Das Ärgerliche am Ärger ist, dass man sich schadet, ohne anderen zu nützen.”

Es sind nicht nur Bibel und christliche Autoren, die zitiert werden. Auch wenn diese natürlich überwiegen. Aber wer so komplex das Menschliche-Allzumenschliche thematisiert, der begegnet auch den großen Denkern der Menschheitsgeschichte – bis hin zu Laotse und Gandhi. Oder gar diesem Mathematikergenie aus Leipzig: Gottfried Wilhelm Leibniz. Er kommt im Mai zum Thema Ordnung und Harmonie zu Wort. Denn auch das strukturiert unser Leben – die innere Ordnung ist durch die äußere Ordnung bedingt. Und wer Ordnung in seiner Umgebung schafft, schafft in der Regel auch Ordnung in seinem Geist. Chaos ist wirklich keine sinnvolle Lebensform.

In 365 Tagen finden erstaunlich viele Anregungen Platz. Und es sind nicht nur 12 oder 14 Leitgedanken, wie Maria Radziwon schreibt, sondern viele mehr. Manche eher beiläufig mit kleinen Geschichten, Anekdoten oder Gleichnissen ins Buch gestellt. Und gerade diese Beiläufigkeit zeigt, wie komplex unser Dasein tatsächlich ist. Im Juni darf Anne Frank das Thema Glück / Glücklichsein benennen – und wie wenig dazu gehört, um es zuzulassen. Einmal umblättern, und man ist bei Nelson Mandela und dem Thema Angst / Angsthaben. Und dem schönen Satz aus seiner Antrittsrede als Präsident: “Wenn du dich klein machst, erweist du damit der Welt keinen Dienst.”

Natürlich kommt auch die Bergpredigt vor und die große Frage, wie wir es schaffen, den Frieden zu leben. Krieg kann jeder Idiot. Frieden ist schwerer, mühsamer und langwieriger. “Selig, die Frieden stiften …” Wobei der Bergpredigt überraschenderweise gleich ein Text zu regionalen Produkten folgt. Eigentlich muss es gar nicht mehr hingeschrieben werden: “Liebe, das sind Worte und Taten”, heißt es in einem Gebet an der Stelle. Wer die Schöpfung liebt (auch wenn er sie nicht als Schöpfung bezeichnet), beginnt nachzudenken über alles, was er tut. Der hält auch deshalb manchmal inne, weil er nachdenken will über Urteile und Maßstäbe zum Beispiel, auch die im Juli bedacht. Denn dass heute so viele Maßstäbe falsch und grundverkehrt sind, hat auch damit zu tun, dass sich viele Mitmenschen eben keine Zeit mehr nehmen, die eigenen Urteile und Maßstäbe immer wieder auf den Prüfstand zu stellen.

Und was daran ist jetzt eigentlich so weiblich, dass es nur ein Kalender für Frauen sein soll? – Die eingestreuten Backrezepte für diverse schöne (und christliche) Brotsorten? – Nicht wirklich.

Ein wenig vielleicht die Heraushebung von berühmten Frauen aus der christlichen Geschichte – Hildegard von Bingen, die Jungfrau von Orleans oder Teresa von Avila zum  Beispiel. Aber das kann ja für Herren der Schöpfung nur eine Bereicherung sein. Genau wie alles andere. Zum Beispiel das Nachdenken über so alltägliche Dinge wie Vertrauen und Vertrauen-Können, was durchaus ein Unterschied ist. Oder das Ziele-Setzen. Welche Ziele  setzt man sich wirklich? Oder setzen einem andere Leute die Ziele und man rennt wie ein Hamster im Laufrad?

Oder im August, wenn man in der  Hängematte liegt, ein  sehr schönes Thema zum Nachdenken: “Welche Sorte Mensch sind Sie?” Oder – man hat ja manchmal Urlaub: “Einmal anders leben”. Oder wie wär’s mit: “Fürchte dich nicht!”? Im September begegnet man der  Geduld und – in einem sehr schön forcierten Text von Angela Rinn – dem Erntedank. Denn eine Nation, die jährlich Millionen Tonnen von Lebensmitteln in den Müll schmeißt, die hat wirklich keinen Grund, Erntedankfeste zu feiern.

Im Oktober gibt es auch “Die Kunst der kleinen Schritte”, hier mit einem schönen Text von Antoine de Saint-Exupéry unterlegt mit diesem schönen letzten Satz: “Lehre mich die Kunst der  kleinen Schritte!” Und das geht natürlich im Herbst munter weiter mit Trost, Behüten, dem befreiten Lachen oder den so wichtigen Ruhe-Pausen-Ritualen. Viele Menschen verderben sich die Aus-Zeiten, weil sie sie genauso leistungsorientiert vollpacken wie ihren Alltag. Es lohnt sich, über  kleine und große Rituale nachzudenken. Und – ein echtes Geschenk, das man sich so selten gönnt: die Sorglosigkeit.

Vieles in unserem Leben ist – da sind wir schon im November – “Einstellungssache”, wir bestimmen in Vielem selbst, wie wir uns in diesem Leben platzieren. Oder – auch hier einer diese herrlichen Tucholsky-Sätze: “Das Leben ist gar nicht so. Es ist ganz anders.”

Natürlich geht es in der Vorweihnachtszeit sehr viel um Geschenke – und was wir damit eigentlich vermitteln wollen. Und es geht – in einem Text von Peter Hahne – um eine “Weihnachtsmannfreie Zone”: “Die Ware Weihnacht, wie sie heute angeboten wird, ist nicht die wahre Weihnacht.” So kurz kann man das sagen. Aber beherzigt man das auch? Und wer denkt, der Dezember wäre den Prophetinnen ferner Zeiten gewidmet, der wird herrlich enttäuscht, denn hier bekommt man Jane Austen und Edith Piaf vorgestellt – Literatur und Musik als Spiritualität. Wenn man denn auch mal über Spiritualität nachdenken möchte. Und das kann man ja sehr gut, wenn’s zwischen den Jahren mal ein bisschen stiller wird. Sofern man wagt, sich diese Stille zu gönnen. Aber wer sich von diesem Kalender durchs Jahr begleiten ließ, der ist eigentlich darauf eingestimmt. Und wer nicht beten mag, hat mit all den Anregungen genug Futter zum Nachdenken – morgens beim Den-Tag-Beginnen oder zwischen den Tagen, Wochen, Jahreszeiten. Zumindest wird eines angeregt: Der Wunsch, die Welt und die Zeit, die einem geschenkt sind, ein bisschen aufmerksamer wahrzunehmen.

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