Mancher Buchhändler wird versucht sein, das Buch zu den Indianerbüchern zu stellen - neben Cooper, Welskopf-Henrich und Karl May. Aber es stünde besser neben Neutsch, Bräunig oder Plenzdorf. Denn die Geschichte, die der 1957 Geborene hier erzählt, ist ein Stück DDR-Geschichte. So ein bisschen auch seine eigene, ein wenig verfremdet. Aber mit dem unverkennbaren Geruch der Zeit.

Eine Familien-Saga ist es nicht. Der Titel ist also in mehrfacher Hinsicht etwas irreführend. Auch wenn zwei Familien darin eine Rolle spielen – die Tröschs und die Tippners. Aber das ist wie in jeder Partnerschaft: Beide bringen ihre Familie mit ein. Man trifft sich spätestens auf der großen Hochzeitsfeier. Naja, wenn diese stattfindet und Klara sie nicht vier Tage vor der Angst abgesagt hätte. Was Sven Trösch eigentlich eine Warnung hätte sein sollen. Wie so Vieles in der Beziehung zu Klara Tippner, seiner großen Jugendliebe, deretwegen er sogar extra in den Schulchor gegangen ist.

Tschök hat seinen Roman in zwei Teile geteilt. Er hat sie – ganz in der Tradition von Willi Bredel (“Die Väter”, “Die Söhne”, “Die Enkel”) – mit “Die Eltern” und “Die Kinder” betitelt. Der erste Teil ist etwas kürzer. Er erzählt davon, wie sich die Tröschs in ihrem kleinen Eigenheim kurz vorm Wald und mit guter Sicht auf die Eisenbahnstrecke, die durchs Tal führt, mit der Arbeit, dem Leben und der noch recht jungen DDR arrangieren, die schon all die Zeichen der Mangelverwaltung und der Bevormundung zeigt, die ihr 30 Jahre später den Garaus machen sollten.Er erzählt auch vom noch etwas rustikalen Versuch der Tippners, eine kleine Familie zu gründen mit all den Nöten und Abhängigkeiten, die aus dem Mangel entstanden. Erstmals näher kommen sich die beiden Familien, als Hanni Tippner bei Margot Trösch Rat sucht – nachdem sie zur Abteilungsleiterin hochgelobt und in die SED genötigt worden war, wurde sie nach ihrem Parteiaustritt zur Zuarbeit für die Stasi erpresst. Margot – selbst an einer Parteischule tätig – rät ihr, fortan nichts mehr zu tun, was sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren kann.

Tschök gelingt es sehr gut, dieses sanfte, wattige Gefühl einer Gesellschaft zu beschreiben, die ihre Ideale längst in Pappmaché verwandelt hat und jetzt nur noch darauf aus ist, die Menschen zu braven Parteisoldaten und Normerfüllern zu machen. Eigeninitiative ist nicht erwünscht, Diskussion erst recht nicht. Die beiden Familien gehen damit durchaus unterschiedlich um. Aber die Kinder bekommen den Zwiespalt früh mit. Und sowohl Hannas Tochter Klara als auch Sven Trösch reagieren auf den Druck, der sich in ihrer Schulzeit nach und nach immer mehr bemerkbar macht. Es beginnt mit der Studienlenkung und hört auch nicht auf, als Sven zusätzlich zu den drei Jahren Armee, zu denen er sich sowieso schon verpflichtet hat, auch noch Berufsoffizier werden soll. Nichts gibt es umsonst in diesem Land, keine Funktion, keine Wohnung, keinen Studienplatz.

Der zweite Teil ist dann ganz und gar die Geschichte von Sven und Klara. Sven, der versucht, sich irgendwie den Erwartungen anzupassen und am Ende in der Metallarbeiterstadt Riesa beschäftigt ist, den Mangel an Transportfahrzeugen durch eine Art Tauschbörse zu verwalten. Ein Job, den die Leiter der Fuhrparks nach Jahren der Kungelei schon im Schlaf beherrschen und zu dem sie den studierten Transportingenieur gar nicht brauchen. Klara ist Lehrerin geworden – erlebt aber schon an ihrer einstigen Schule, wie das ist, wenn hinter den Kulissen Missgunst und Feigheit die Strippen ziehen und ein ganzes Lehrerkollektiv, das eben noch neugierig auf die Neue war, über die zuständigen Ämter dafür sorgt, dass sie möglichst woanders eingesetzt wird. In Riesa zum Beispiel, wo sie vom Regen in die Traufe kommt und lernt, was Mobben auf sozialistisch heißt. Das Ergebnis ist für Sven wie Klara eine Situation, aus der es eigentlich keine Auswege mehr gibt. Denn in einem Land, in dem übergeordnete Stellen entscheiden, was jedem zusteht, bleibt nicht viel Raum für Widerspruch oder gar den Versuch, ein eigenes, unzerbrochenes Leben zu leben.

Diejenige, die daran zerbricht, ist Klara. Auch wenn sie mit Sven gemeinsam noch eine Zeit lang versucht, das gemeinsame Leben irgendwie wieder mit Inhalten zu füllen, die davon ablenken, dass eigentlich alles schon vorbei ist, dass fortan derselbe Job, dieselbe Routine, die immergleiche Maskerade das Leben bestimmen werden. Spät merkt Sven, dass Klara ihm entgleitet und sich in einen anderen Menschen verwandelt, der mit ihm fast nichts mehr teilt. Und als er es merkt, hat auch er nicht mehr die Kraft oder den Ehrgeiz, seine Liebe zu retten.Das Ende ist dann entsprechend tragisch. Und typisch für das, was eine geschlossene Gesellschaft mit jenen Menschen anrichtet, die atmen wollen, ein Rückgrat haben und ihr Leben selbst gestalten wollen. Zu Tausenden haben sie in den 1980ern einen Ausreiseantrag gestellt. Ein Ausweg, der Klara verwehrt wird. Auch an dieser Stelle konnten sich die anonymen Apparate noch rächen und ihre Macht über den Einzelnen demonstrieren. Eine Situation, die Klara dann nicht mehr aushält. Und die Sven nur noch in einem augenscheinlich von allen Gefühlen abgekapselten Zustand erlebt.

Dabei schildert Tschök das Land so plastisch, dass einem noch nachträglich graut vor dieser Tristesse, vor den heruntergewirtschafteten Fabriken, den notdürftig hergerichteten Wohnungen, der amtlichen Herzlosigkeit, den finsteren Rechthabern in den so genannten Kollektiven, den klapprigen, heruntergefahrenen Bussen, mit denen Klaras Vater die Frauen aus den Dörfern für die Nachtschichten in der Textilfabrik einsammelt …

Auf dem Titel ist nun natürlich nicht die “Feuerschlange” zu sehen, die alte Dampflok, die sich Jahrzehnte durch die Täler quälte. Denn ihre Zeit war 1990 genauso abgelaufen wie die der kaputten Fabriken und der Mangelverwaltung. Auch Sven wird sich eine neue Wohnung und einen neuen Job suchen müssen. Ein neues Ideal wohl nicht. Die Erzählzeit sind die frühen 1990er Jahre, als im Osten Sachsens die politischen Veränderungen genauso mit den wirtschaftlichen Veränderungen einher gingen wie anderswo im Osten. Die Textilindustrie im Erzgebirge wurde abgewrackt, Eisenbahnstrecken stillgelegt und demontiert.

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Feuerschlange
Stefan Tschök, fhl Verlag Leipzig 2014, 12,95 Euro

Die Rückschau fällt durchwachsen auf. Aber wer vergessen hat, warum die DDR nicht lebbar war, der hat hier eine selten plastische Geschichte über dieses Land, das sich im Grunde selbst den Hals umgedreht hat. Auch wenn es natürlich all diese grauen Rechthaber in Ämtern und Funktionen waren, die jedes Fünkchen Eigensinn misstrauisch beäugten und auch bestraften mit all den Mitteln, die sie hatten. Selbst völlig blind, für die Irrationalität ihrer Vorstellungen – was bei Tschöks Schilderungen der Armeezeit sehr spürbar wird.

Am Ende wird einem Klara zwar fremd, man versteht sie so wenig wie Sven, der ihre Geschichte erzählt. Aber es ist ihre Geschichte, die hier glüht und berührt. Gerade weil sie unter den Bedingungen leidet und am Ende erlischt wie eine Kerzenflamme, der der Sauerstoff fehlt.

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