Die Deutschen lieben philosophische Romane. So scheint es zumindest, wenn man das deutsche Feuilleton liest und die üblichen Preisträgerlisten zu den diversen Literaturpreisen. Christopher Ecker hat auch schon ein paar. Noch nicht die ganz großen. Aber das kommt noch, wenn er so weitermacht. 2013 sorgte er mit seinem 1.000-Seiter "Fahlmann" für Furore. Jetzt hat er was Kleines nachgeschoben.
Auch im Mitteldeutschen Verlag, der gerade den dicken “Fahlmann” in zweiter Auflage vorbereitet. Ist natürlich die Frage: Jubeln nur die Kritiker? Oder lesen das die Leute auch? Vielleicht daheim im Lesesessel, mit Kopfhörern auf? Auch wenn “Die letzte Kränkung” mit 120 Seiten eher schmal daher kommt, ist auch das kein Buch für die Straßenbahn oder zum Posieren im Café. Ein “atmosphärisch dichtes Vexierspiel”, nennt es der Verlag. Aber das ist es nicht nur innerhalb der Geschichte, die den Leser an eine fast vergessene Erzähltradition erinnert, die auch einmal in Deutschland sehr beliebt war – die surreale Geschichte, einst beliebt bei Gustav Meyrink, Manfred Kyber, Alfred Kubin, der jungen Anna Seghers.
Später in der Phantastischen Bibliothek von Suhrkamp noch liebevoll gepflegt. Und dann beendete Suhrkamp irgendwann sein Engagement für diese Reihe. Und das war’s dann. Natürlich hat es mit dem, was heute als SF und Fantasy verkauft wird, nichts zu tun. Mit den Wurzeln der phantastischen Literatur schon eher, die aus einer Verstörung heraus entstand. Man denke an Edgar Allan Poe, dessen Geschichten zwar scheinbar von phantastischen Erscheinungen und blankem Horror leben. Aber wer sie genauer liest, merkt, dass es um die ganzen seltsamen Fragen des Ichs, der Wahrnehmung, der Angst vor dem Kontrollverlust, der Furcht vor dem unbewusst in einem selbst Schlummernden geht.
Das, was dann ein halbes Jahrhundert später Sigmund Freund begann, wissenschaftlich zu untersuchen. Und was dann – nach Freud – die deutschen Schriftsteller faszinierte. Gerade weil es scheinbar so diffus und unergründlich ist. Denn was ist es denn, dieses seltsame Ich, das wir denken und von dem wir annehmen, das seien wir selbst. Was passiert, wenn es verloren geht? Oder wenn auch nur ein Teil verloren geht? Wenn uns die Phantasie einen Streich spielt, die Erinnerung trügt oder gar ein Teil der Erinnerung verloren geht?
So wie es dem Helden dieser Geschichte geht, der in einem Fischerdorf in der Bretagne gelandet ist und sich partout nicht erinnern kann, was vorher war. Manchmal reißen Erinnerungsfetzen auf, die aber noch viel verwirrender sind als die eh schon verwirrende Gegenwart in diesem Dorf während der deutschen Besatzungszeit. Was hat er mit Solange zu tun, die versucht ihm nah zu kommen und deren Ehemann Yann auf See verschollen ist? Ist er das aber wirklich? Was ist mit dem Pfarrer, der ihn behandelt, als wäre er ihm seit Langem vertraut und er würde ihm übel nehmen, dass er seine gewohnte Rolle nicht mehr spielt? Und warum steckt er ihm Geld zu? Und warum hat der Held, der versucht, sich eine neue Identität zu finden, einen Revolver? Ist er mit einer Aufgabe in diesem Dorf gestrandet, die er erfüllen muss? Und was wissen der Holländer und der seltsame Fremde darüber? Warum tun die Leute so, als wüssten sie, wer er ist, weichen aber aus, wenn er zu fragen beginnt?
Und dabei ist der namenlose Held durchaus hellwach. Ein kleiner philosophischer Knackpunkt in der Novelle ist das Nachdenken über die drei Kränkungen der modernen Menschheit, über die die meisten Leute gar nicht nachdenken. Aber sie sind natürlich präsent und sorgen dafür, dass auch scheinbar bodenständige Menschen geradezu beleidigt reagieren, wenn man ihnen zumutet, sich dessen immer mal wieder zu bewusst zu werden.
Die erste Kränkung hat Kopernikus dem Abendland zugefügt: Er hat die Erde aus dem Mittelpunkt des gedachten Universums gestoßen und das heliozentrische Weltbild geschaffen. Damit hat er nicht nur die Erde aus dem Mittelpunkt der Welt gestoßen, sondern auch den Menschen, der sich so gern als Krone der Schöpfung verstehen will und als besonderes Objekt der Aufmerksamkeit Gottes.
Was dann den Boden für die zweite Kränkung schuf: Die Entthronung des Menschen als Krone der Schöpfung durch Darwin. Auf einmal war der Mensch nur ein Abkömmling einer Millionen Jahre zurückreichende Zahl von tierischen Vorfahren, Produkt einer Auslese, kein originär von Gott geschaffenes Produkt aus Lehm. Das hat ja, wie man weiß, das 19. Jahrhundert erschüttert und noch heute verbarrikadieren sich viele Menschen hinter dem Schutzwall, man könne das leugnen, indem man die Bibel zum Maßstab aller zu wissenden Dinge macht.
Und die dritte Kränkung ließ nicht lange auf sich warten. Das war dann Sigmund Freud, der recht nachhaltig darauf hinwies, dass der Mensch nicht immer Herr im eigenen Kopf ist, sondern allerlei Un- und Nichtbewusstes das Leben und Handeln, Denken und Fühlen der Menschen beeinflusst.
Eigentlich müsste auch noch die vierte Kränkung hierher, über die Jürgen Große in seinen beiden philosophischen Bänden “Der gekränkte Mensch” (Leipziger Literaturverlag) so ausgiebig nachdenkt, eine Kränkung durch das Ausgeliefertsein des Menschen an eine Gesellschaft, die alles verwertet und auch Menschen, Gefühle, Erwartungen in Produkte verwandelt. Aber schon die Tatsache, dass sich zwei Autoren fast parallel mit dem Thema so auseinandersetzen – Jürgen Große in Berlin und Christopher Ecker in Kiel – zeigt eigentlich, wie tief dieses Gefühl in unserer Gesellschaft sitzt. Und wie sehr es auch mit einer Suche nach einem Ausweg verknüpft ist.
Der sich dem namenlosen Helden bei Ecker als ein phantastischer Ausweg anbietet. Womit er wieder an die Kubin-Generation anknüpft, die es genauso gemacht hat. Wenn ihre Helden schon an der als verwirrend erscheinenden Realität zu verzweifeln drohen, dann erlaubt es zumindest die literarische Erzählweise, ihnen auch die Flucht auf die andere, die imaginäre Seite zu ermöglichen. Für den Leser wird es dann natürlich sehr ungewiss, weil so ein Übergang in der Erzählung ja auch wieder das Selbstverständnis des Lesers hinterfragt: Wie kann ein Mensch so selbstverständlich akzeptieren, dass in seinem Hotelzimmer ein derart seltsames Ding existiert, das auch noch Geheimnis bleiben muss? Warum nur?
Findet sich der Mensch tatsächlich so leicht mit bizarren Erscheinungen ab, integriert sie einfach in sein Weltverständnis und tut dann so, als sei die Welt weiterhin in Ordnung? Ist das nicht mit realen Dingen, die gegen jegliche Vernunft verstoßen, genauso? Wie verlässlich sind eigentlich unsere Maßstäbe für das, was als normal und akzeptabel empfunden wird?
Die letzte KränkungChristopher Ecker, Mitteldeutscher Verlag 2014, 14,95 Euro
Und wie schnell wird es diffus, wenn sich die Wahrnehmungen zu verschieben beginnen und das ach so vertrauenswürdige Gehirn anfängt, nicht mehr ganz so vertrauensvoll zu agieren?
Man sieht: Es steckt eine Menge Philosophie hinter dem phantastischen Ansatz der Geschichte, die dann so ausgeht, wie so viele Geschichten aus diesem Genre, das man durchaus auch ein fatalistisches nennen könnte. Denn wenn man beginnt, über all diese komplexen Dinge nachzudenken, die unsere Persönlichkeit ausmachen, kommt man schnell in die Welt von Franz Kafka und Ken Kesey. Und wird beim Lesen auch ein bisschen wütend, denn die gewöhnliche Ratio sagt einem doch, dass man sich so nicht verlieren darf. Und dass auch der Alkohol, dem Eckers Held mehr als heftig zuspricht, keine Lösung ist. Weder für die eh schon komplizierten menschlichen Beziehungen in diesem Dorf, noch für den Wiedergewinn eines selbstbestimmten Ich.
Ist der Held also nur ein Säufer, der seinen klaren Verstand geopfert hat, weil ihm die Welt so nicht auszuhalten war? Ist es doch der kluge Yann, der sich vor seinem Verschwinden schon in Bücher flüchtete? – Es gibt am Ende natürlich keine Antwort. Nur eine neue Bedrohung, denn auch den deutschen Besatzern ist dieser seltsame Eigenbrötler mehr als suspekt. Was dann eine neue Interpretation eröffnet. Aber auch eine neue Verunsicherung: Kann es sein, dass wir irrationale Gesellschaftsstrukturen akzeptieren, weil wir in der Lage sind, das Irrationale als Bestandteil unseres Lebens zu akzeptieren? – Da wird es ein klein wenig abgründig. Aber es könnte ein Licht auf unser Verständnis von Welt werfen. Auf das der Deutschen mit ihrem seltsamen Verhältnis zu Macht und Herrschaft sowieso. Vielleicht blüht deshalb das Genre der phantastischen Novelle immer wieder aufs neue, erschreckt und fasziniert, weil Einiges darin so sehr an unsere nur oberflächlich rationale Wirklichkeit erinnert.
Verranstaltungstipp:
Gemeinsam mit den Autoren Stefan Petermann und Poljak Wlassowetz ist Christopher Ecker zum Lesefest “Leipzig liest” am Freitag, 14. März, ab 21.30 Uhr im Lindenfels Westflügel bei “UV – die Lesung der unabhängigen Verlage” zu erleben. Die Moderation des Abends hat Sabine Franke.
www.facebook.com/pages/Christopher-Ecker/104432412929127
www.mitteldeutscherverlag.de
Keine Kommentare bisher