Der Patchworld Verlag in Berlin versucht in seinem Programm immer neue Grenzwanderungen. Das Feld, das sich der Verlag da vorgenommen hat, ist groß. Und wirkt seltsam exotisch. Denn wenn man die Medien der deutschen Gegenwart so betrachtet, dann ist Deutschland kein internationales Land, eines, dessen Kultur im Austausch mit den Kulturen, Sprachen und Religionen der Welt steht. Es hat eine Leitkultur aus grauem Beton. Fertig der Lack.

Es ist eine inhaltslose Leitkultur. Die nichts leitet, nicht verschmilzt, nichts ausstrahlt. Deswegen sind auch sämtliche Denkmale der jüngeren Gegenwart, die irgendwo im Land für teuer Geld hingestellt werden, eher ein Ausdruck bürokratischer Tristesse als irgendeiner Leidenschaft. Begeisterung gibt es nur als mediale Zirkus-Inszenierung. Und die langweiligsten aller Langweiler dürfen die Podien nutzen, um von dort ihre simplen Weltverweigerungen zu verkünden. Die in der Regel grimmigste Abwehr sind – gegen Migranten, fremde Religionen, unverstandene Kulturen und Lebensstile. Es ist verblüffend: Deutschland war noch nie so weltoffen wie heute und gleichzeitig so sehr von trister Abwehr aller Farben dominiert.

Das fällt auf, wenn man so ein Buch in die Hand bekommt. Geschrieben hat es ein Wanderer zwischen den Welten. Ein ganz besonderer. Denn Hans Freudenthal wurde in Deutschland geboren, ging hier zur Schule, fühlte sich hier zu Hause – bis zu dem Tag, an dem sein Vater in allerletzter Minute fliehen musste. Im Nachwort geht Freudenthal auf diese seltsame Situation ein, in der sich viele jüdische Intellektuelle in der Nazi-Zeit befanden. Viele hatten im Ersten Weltkrieg gekämpft und waren mit Eisernen Kreuzen dekoriert worden, sie waren in die Kultur, die Gesellschaft, die Arbeitswelt fest integriert, die meisten hatten mit der jüdischen Religion schon längst nichts mehr zu tun, waren fester Teil der bürgerlichen Elite im Land.

Und dann begann die Hetzjagd der Nazis gegen alles, was sie verabscheuten: Kommunisten, Behinderte, Sozialdemokraten, Zigeuner, Juden, … Erst wurde den jüdischen Mitbürgern die gesellschaftliche Teilhabe entzogen, dann folgte die wirtschaftliche Ausgrenzung, dann der steigende Druck, der am Ende in den Holocaust überging. Viele dachten, wie Freudenthals Vater, dass sie diesen Spuk abwarten könnten. Irgendwann würde es doch vorbei sein. Am Ende bot Brasilien die Zuflucht in letzter Minute, auch wenn der Vertriebene dort nie wirklich heimisch wurde. Seine beiden Söhne, die er mitnahm, hatten es etwas leichter. Hans wurde Zahnarzt, lernte auch Portugiesisch als zweite Sprache und fühlt sich zu Hause in Sao Paulo.Doch seine Lebensbilanz, die er im Ruhestand mit dem Schreiben von Skizzen, Anekdoten und kleinen Geschichten begann zu ziehen, sieht doch etwas seltsam aus. Da hat er jahrelang erfolgreich als Zahnarzt praktiziert, spürt aber umso deutlicher, dass er nie wirklich so flexibel wie die Brasilianer geworden ist. Spät reifte in ihm die Erkenntnis, dass er selbst eine Brücke ist. Aus der Vergangenheit in die Zukunft. Sein Sohn ist es, der in der brasilianischen Kultur wirklich angekommen ist. Aber auch eine Brücke zwischen Brasilien und Deutschland ist er, aber auch eine von der brasilianischen zur jüdischen Kultur seiner Vorväter. Alles ist da.

Es bestimmt die Art seines Erzählens, seinen Humor, die Farben seiner Geschichten. Selbst die verwirrenden Erlebnisse auf seinen Europa-Reisen, auf denen er sich fremd fühlt, ausgegrenzt. Eine Donauschiffsreise stellt ihn auf die Probe, denn während die Reiseleitung starr nach Schema F die Route und die Ausflüge herunterspult und sogar bestimmt, wer mit wem am Tisch zu sitzen hat, wird ein winziger Kommunikationsfehler für ihn zu einem Abenteuer, bei dem er dem Schiff zu Lande hinterher reisen muss.

Und ruckzuck sind diese alten deutschen Ängste wieder da: Nur ja nichts falsch machen. Ein kleiner Fehler, und man wird bestraft und zurückgelassen. Was sich so leicht, so lebendig erzählt liest, entlarvt eine ganze Welt, die so existenziell ist wie 1930 oder 1890. Es steckt so tief drin. Da wechseln die Zeiten und die Regierungen – die verkniffene Ordnungssucht lebt weiter. Aber ist das ganz Deutschland? Oder gehört nicht auch die lebendige Phantasie, der Witz, das kreative Nachdenken über Gott und die Welt dazu?

In Freudenthals Geschichten lebt das Alles. Es ist die Kunst der kleinen Form, die auch von deutschen Verlagen so ungern gepflegt wird – sehr zum Ärger jener Autoren, die diese Form beherrschen. Deswegen fällt dem Patchworld-Verlag nun ausgerechnet Hemingway ein als Vergleich, obwohl Freudenthals kurze Texte mit dessen Erzählungen wirklich nichts zu tun haben. Auch wenn ein Tiger drin vorkommt, der den Reisenden nun just in einer Kathedrale in Barcelona überfällt. Kein echter Tiger, nur ein Sinnbild der Schwermut, die ihn immer wieder überfällt. Das ist das Stück Romantik in Freudenthal, dessen Humor immer wieder dem eines Ephraim Kishon ähnelt. Nicht ganz so optimistisch, aber oft von der selben Lust geprägt, sich selbst und die Welt, die einen umgibt, nicht gar so schrecklich ernst zu nehmen. Auch die Frauen und Kinder nicht.Das kippt manchmal um. Auch ein Stück europäischen Fatalismus hat Freudenthal sich bewahrt, der tief in den Büchern des alten Testaments wurzelt, mit dessen Motiven er gern spielt. Aber auch die moderne Politik löst in dem angejahrten Erzähler eine gewisse Ernüchterung aus. Auch weil er im Lauf seines Lebens gelernt hat, dass sich die meisten Menschen nicht wirklich von den Politikern unterscheiden, die sie gewählt haben. Sie sind genauso verantwortungslos, ruhm- und geldversessen, ihnen ist die Rettung der Welt genauso egal wie die Zukunft. Sie verprassen den Reichtum der Welt und schauen mit gnädiger Verachtung auf alle herab, die es nicht genauso machen.

Und siehe da. Irgendwie ähnelt das so exotische Brasilien darin augenscheinlich dem exotischen Deutschland, das sich so verflixt viel Mühe gibt, nicht exotisch sein zu wollen.

Die Geschichten Freudenthals lesen sich zwar, als hätte er sie in deutscher Sprach hingetupft und – manchmal auch ganz bewusst als grimmiger alter Mann – den unbelehrbaren Zeitungen geschickt, die doch auch mal was Wahres über die Gegenwart veröffentlichen sollten. Aber tatsächlich hat Freudenthal die kurzen Texte in brasilianischem Portugiesisch geschrieben. Vier Übersetzer haben sich daran gemacht, die Texte ins Deutsche zu übertragen und deutlich zu machen, dass Freudenthal in Brasilien eine durchaus besondere, unverwechselbare Stimme ist. In deutsch aber klingt Vieles so vertraut, dass man sich eher wundert, dass der pensionierte Zahnarzt nicht doch echte Tiger auftreten lässt.

Aber das ist dann wohl wieder unsere eigene Sicht auf das, was wir aus einem Land wie Brasilien erwarten. Klar, das medial bekannte Brasilien kommt auch drin vor – zuweilen mit bissiger Wut erzählt, etwa wenn Freudenthal schildert, wie ein Senior sich absichtlich wie ein abgerissener Bettler anzieht, um ungeschoren mal einen Besuch in einer Favela bei seinem Fußpfleger zu machen. Oder wenn er die Zeitungsnachrichten kommentiert, in denen wieder über einen irgendwo nach Afrika verkauften brasilianischen Nachwuchsfußballer berichtet wird.

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Ein Tiger in Barcelona
Hans Freudenthal, Patchworldverlag 2013, 18,00 Euro

Er liebt seine Heimat ja doch. Auch weil er seine Landsleute ohne verklärten Blick betrachtet. Dazu hatte er zu viele verwöhnte Kinder aus reichen Häusern auf dem Zahnarztstuhl. Und er kennt sich selbst, schreibt sogar mehrere dieser kleinen Feuilletons über die Widersprüchlichkeit der eigenen Vorlieben oder über seine Alpträume, aus denen ihn kein hochbezahlter Psychiater erlösen kann. So werden viele der erzählten Geschichten, die eigentlich fatal beginnen, kleine Mutmacher fürs Leben. Für ein Leben irgendwie zwischen den Kulturen, Emotionen und Erzähltraditionen, die dem Leser wohl zu recht sehr vertraut vorkommen.

www.patchworldverlag.info

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