Der Titel "Dialoge im Einwanderungsland Deutschland" führt ein wenig in die Irre, stimmt aber natürlich. Denn Leipzig liegt ja - man vergisst es ja zuweilen - in Deutschland. Nicht ganz so am Rand wie andere ostdeutsche Städte, bei der Zuwanderung sogar recht zentral. Als Integrationsmotor sogar schon seit Jahrzehnten. Das Herder-Institut ist eine Legende.

Dort fanden 2013 die hier versammelten fünf Dialoge im vergangenen Jahr statt. Die Texte im Buch spiegeln diese Dialoge, fassen sie zusammen und versuchen, sie anhand verschiedener soziologischer Ansätze zu Einwanderung und Integration auszuwerten. Es gibt mehrere. Schon die Wissenschaft also streitet durchaus, wie die diversen Stufen von Einwanderung, Assimilation und Integration funktionieren. Oder ob sie überhaupt funktionieren. Was ja ein heftiges Streitthema ist seit den 1980er Jahren, als man nach der Euphorie der Gastarbeiter-Anwerbung in den 1950er und 1960er Jahren und der als positiv erlebten multikulturellen Gesellschaft der 1970er Jahre begann, den Status der Eingewanderten als problematisch zu betrachten.

Aus künstlerischer Sicht als tiefes menschliches und soziales Problem, aus politischer Sicht zunehmend abschottend und auf restriktive Abwehr bedacht. Es dauerte tatsächlich bis zur 1998 startenden rot-grünen Regierung, dass Deutschland sich endlich als Einwanderungsland begriff und definierte. Was nicht unbedingt heißt, dass es die notwendigen Strukturen schuf, um den Eingliederungsprozess zum Erfolg zu machen. Was der deutschen Politik fast immer fehlte, war die Außensicht. Konservative Mehrheiten bevorzugten immer die Innensicht, die jede Zuwanderung als Bedrohung betrachtet und zu begrenzen versucht.Doch so eine Haltung erschwert auch die Integration all derer, die schon da sind, die oft schon – wie die Kinder und Enkel der einstigen türkischen, italienischen, jugoslawischen Einwanderer, schon lange da sind. Das beginnt in der Schule, wo gerade Kinder aus dem arabischen Kulturkreis massive Probleme bekommen, und hört bei der Arbeitsplatzsuche nicht auf, wenn die in den Herkunftsländern erworbenen Qualifikationen nicht anerkannt werden, die erworbenen deutschen Sprachkenntnisse aber auch nicht genügen, um qualifiziertere Tätigkeiten auszuüben.

In Leipzig gehören Menschen mit türkischer Herkunft zwar auch unter den Migranten zu einer Minderheit. Aber kaum eine Zuwanderergruppe wurde gerade im Film derart intensiv begleitet und dargestellt wie die der nach Deutschland eingewanderten Türken. So beschäftigt sich der erste Dialog in diesem Buch auch mit diesen Filmen – und mit ihrer Veränderung im Lauf der Zeit, denn was in den 1980er Jahren als Problematisierung begann, mündete ja mittlerweile in eine eigene Filmwelt, die die jüngeren Generationen als selbstverständlichen Teil einer Gesellschaft zeigen, die sich mit den Zugewanderten selbst geöffnet und verändert hat.

Wesentlich typischer für Leipzig sind die Gruppen der Vietnamesen, Iraker und Spätaussiedler, die alle ganz unterschiedliche Erfahrungen mit ihrer Wahlheimat gemacht haben. Die auch aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland kamen. Leipzigs Vietnamesen sind ja die einst als Vertragsarbeiter in die DDR gekommenen Menschen, die nach 1990 die Chance ergriffen, sich selbstständig zu machen und kleine Familienunternehmen zu gründen, die auch Kinder und Enkel ernähren. Im Leipziger Bildungskanon fallen die Kinder und Enkel positiv auf, weil sie – mit Unterstützung ihrer Eltern – alles tun, um über einen guten Bildungsabschluss ihre Chancen im Berufsleben zu verbessern.

Ganz ähnlich geht es den Kindern der Spätaussiedler, die ab 1990 als “Kontingentflüchtlinge” aus den ehemaligen GUS-Staaten nach Deutschland kamen. Die Eltern haben oft noch so ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache – mit der Kultur viel weniger. Manche von ihnen – aber auch die meisten Kinder – beherrschen beide Sprachen, Russisch und Deutsch. Und manche träumen sogar in beiden. Der Dialog zu diesem Thema macht Vieles sichtbar, was aus der Innenperspektive so nicht sichtbar wird. Denn selbst der Sprung zwischen zwei relativ nah verwandten Kulturen erfordert eine große Bereitschaft zur Veränderung und vor allem einen großen Anpassungswillen. Was übrigens die meisten Einwanderer auszeichnet: Sie wollen lernen, wie die Sprache, die Kultur und die Arbeitswelt ihres neuen Heimatlandes funktioniert. Dahinter steckt eine große Lern-Leistung, die sich in Sprachkursen oder im Ausfüllen eines bürokratischen Einbürgerungstests nicht erschöpft.Eine Leistung, die um so größer wird, je größer die Distanz der Herkunftskultur ist. Was in diesem Buch die irakischen Flüchtlinge, die vor allem noch in der Regierungszeit Saddam Husseins nach Deutschland flohen, erzählen können. Wer genauer liest, merkt auch, dass sie natürlich nach den Jahren im Exil auch fast alle Brücken in die alte Heimat abgebrochen haben, wenn diese nicht vorher schon durch staatliche Willkür und Verfolgung zerstört worden sind. Es geht eben beim Thema Zuwanderung nicht einfach nur um ein paar Zimmer, Betten und Essensgutscheine auf Zeit und dann gehen die Geflohenen wieder “nach Hause”.

Denn das Land, in das sie zurückkehren könnten, gibt es meist nicht mehr. Ihr Heimatland ist dieses Deutschland, das sich so schwer tut, tatsächlich eine lebendige und gut ausgestattete Einwanderungskultur zu entwickeln. Wobei Leipzig ganz bestimmt zu den Städten gehört, das darin schon wesentlich weiter ist als viele andere Städte im Osten. Was ja bekanntlich nicht verhindert, dass eine Minderheit versucht, die Stadt wieder in eine abgesperrte Provinz zu verwandeln.

Was übrigens nicht in diesen Dialogen thematisiert wurde, ist der Gewinn, den diese Aufnahmebereitschaft und die Integration von Menschen aus aller Welt einer Stadt wie Leipzig bringt.

Dafür hat Kristina Skorniakova noch einen Essay beigefügt, der sich mit der Nationen-Definition Johann Gottfried Herders beschäftigt, der vor 200 Jahren schon ein Weltverständnis hatte, an dem auch reihenweise deutsche Politiker sich messen lassen müssen. Nationen sind für ihn keine mit künstlichen Grenzen versehenen Machtbezirke von irgendwelchen Parteien, Königen oder Diktatoren, sondern – ganz im Sinne Goethes gedacht – Organismen, in denen sich kulturelle, sprachliche und soziologische Gemeinsamkeiten verdichten und damit ein Gemeinsames schaffen, was sie von anderen Nationen unterscheidet. Was aber nicht bedeutet, dass sich diese Organismen nicht mehr verändern oder gar zu diesem plakativen Nationen-Begriff erstarren, aus dem der moderne Nationalismus seine Zündmasse gewinnt.

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Die Farben verlieren sich ineinander
Kristina Skorniakova, AKV Edition Hamouda 2014, 14,90 Euro

Im Gegenteil: Jede Nation ist eine Gemeinsamkeit auf Zeit, die einem ständigen Wandel unterworfen ist – und die auch fähig zur Assimilation und zur Agglomeration ist. Was dann den Bezug zum poetischen Titel des Buches herstellt: “Die Farben verlieren sich ineinander …”

Ein höchst aktuelles Buch also in einer Zeit, in der auch Leipzig wieder neu über Asyl, Migration und Integration nachdenken muss. Denn dieser Prozess hat immer zwei Seiten. Auch die Gastgeber müssen lernen, damit umzugehen. Und wenn sie klug sind, machen sie was draus.

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