Es gibt Geschichten, die erzeugen, wenn sie durch die Medien publik werden, eine enorme Betroffenheit. Wenig später jedoch flaut die Berichterstattung ab. Irgendwann sind die Opfer in diesen Fällen bald vergessen. Hatun S. aus Berlin zum Beispiel, die 2005 von ihrem Bruder ermordet wurde. Ein Fall, der den 1980 geborenen Autor Juno Stein zutiefst verstörte, wie er schreibt. Aus der Verstörung ist ein nachdenkliches und einfühlsames Buch geworden.
Wer es sucht, sollte sich vom Cover nicht verunsichern lassen. Das ist einer jener Fälle, in denen Thema und Bildaussage sich völlig verfehlen. Es geht nicht um ein kleines Mädchen und auch nicht um Heuschrecken. Es handelt auch nicht irgendwo im nahen oder mittleren Osten, wie das Foto suggeriert, sondern mitten in Deutschland, in Berlin. Mit einzelnen Blenden in das Heimatland der Familie, aus der die junge Mutter Narun stammt, die Türkei.
Am Ende des Buches betont Juno Stein, der von Beruf her Systemelektroniker ist und derzeit an der TU Berlin studiert, dass sein Buch eine Fiktion ist und mit realen Geschehnissen nichts zu tun hat. Was wichtig ist. Denn so genannte Ehrenmorde passieren auch in Deutschland – weniger, als mancher Medienhype vermuten lässt, aber trotzdem jeder einer zu viel. Und jeder verstörend, weil er nicht ins Bild zu passen scheint. Wie kann ein Bruder einfach seine Schwester umbringen, fragt Juno Stein?
Seit Jahren beschäftigt er sich mit dem Thema, liest die Fachliteratur dazu, versucht die Muster zu begreifen. Was nicht einfach ist, wenn man in einer freien Gesellschaft aufgewachsen ist, in der auch das Recht auf selbstbestimmte Liebe und Partnerschaft gilt.
Dass es da einen Konflikt der Moralvorstellungen, Lebenswelten und Berührungen zwischen diesen Welten gibt, ist nicht neu. Doch was bedeutet das für die direkt Betroffenen? Die jungen Menschen aus diesen tief im Islam verwurzelten Familien, die in Deutschland ihre eigenen Lebensvorstellungen verwirklichen wollen? – Die erste Antwort, die Stein plastisch erlebbar macht, ist natürlich, dass es gar nicht um den Islam geht, sondern um gesellschaftliche Moralvorstellungen, die aufeinander prallen. Die Szenen, die Stein um den gealterten Familienpatriarchen Rebaz und seine Jugend in einem kurdischen Dorf in der Türkei erzählt, dürften so manchen Leser an eines der berühmtesten Bücher der Weltliteratur erinnern: “Djamila” von Aitmatow.Es geht um dasselbe Aufeinanderprallen der Zeiten, Kulturen und Vorstellungen von Liebe, Ehre und Moral. Auch wenn das Herkunftsland ein anderes ist. Es geht um dieselbe dörfliche Enge, die stets beobachtende Strenge der Dorfgemeinschaft und die Bewertung jeder Handlung, jedes öffentlichen Auftritts nach den strengen Maßstäben einer Moral, die sich über Jahrhunderte in Gesellschaften ausgebildet haben, die sich kaum veränderten und hinter deren Strenge auch die gelebte Armut steckt. Den europäischen Reisenden, die das alles im 17., 18. Jahrhundert zum ersten Mal als Zaungäste beobachteten, kam das sehr exotisch und romantisch vor – vom Brautraub bis hin zum mit Blut abzugeltenden Rachedurst.
Aber was passiert mit den Menschen, die aus solchen streng patriarchalischen Gesellschaften in ein Land wie die Bundesrepublik gespült werden und hier auch nach Jahrzehnten noch nicht wirklich heimisch sind, sondern ihre mitgebrachten Vorstellungen von Moral und Ehre auch als stabilisierenden Schutzwall aufgebaut haben gegen eine Gesellschaft, in der alles käuflich scheint und die Frauen an jeder Plakatwand wie halb entblößte Huren dargestellt werden?
Juno Stein versucht, in jede einzelne Person seiner Geschichte einzutauchen und das Ganze aus ihren Augen zu erzählen. In einem knappen, drängenden Stil, der manche Szenen noch beklemmender macht. Nicht nur den Mord an Narun, der schon auf den ersten Seiten geschieht. Stein schlüpft nicht nur in die Rolle ihres Bruders, der eine Laufbahn als Fußballer vor sich hat und doch zum Mörder wird, weil ihm der Familienvater die Wiederherstellung der Familienehre auf die Schultern legt. Auch in die Haut von Rebaz schlüpft der Autor, versucht zu verstehen, warum der bettlägerige Mann, der sein ganzes Leben lang für seine Familie geschuftet hat, jetzt so mit der – aus seiner Sicht – beschmutzten Ehre der Familie hadert.
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Das kennt man ja selbst aus deutschen Dörfern, wie einen das von Vorurteilen geprägte Gerede der Leute in den Wahnsinn treiben kann. Oder zu Taten, die eigentlich niemand gewollt hat, die aber im Kontext uralter Moralvorstellungen scheinbar notwendig sind. Auch daran erinnert sich Rebaz. Seine Härte hat ihren Ursprung in dem Dorf, in dem er aufwuchs – und wo er selbst zum Täter wurde.
Juno Stein schildert die Geschichte aber auch aus der Sicht von Naruns bester Freundin, aus der ihrer Schwester und der ihres Mannes, vor dem sie flieht, weil er nicht fähig ist, über seine Gefühle zu reden. Stückweise wird deutlich, dass Narun zwar nicht von allen geliebt und bewundert wurde. Aber um so ein plattes Abziehbild, wie es Zeitungen gern liefern, geht es ja nicht. Für Widerspruch sorgte die junge Frau, die in Berlin aufgewachsen ist und dann zur Heirat in die Türkei vermittelt wurde, ja durch ihre eigene Unsicherheit zwischen den Welten. Niemand weiß das so gut wie ihre Schwester Dilek, die sich mit einem ähnlichen Ehearrangement abgefunden hat. Sie erlebt Narun bei ihrer Verheiratung als Wesen zwischen den Welten, ahnt aber nicht, was diese Heirat mit dem verklemmten Ahmed für Narun bedeutet.Zwischen den Welten lebt eigentlich auch Duran, Naruns Bruder, der zum Mörder wird. Und auch er kann darüber nicht reden. Dabei ist auch er kurzzeitig davor, einen eigenen Weg zu gehen mit seiner Freundin Seyran, die ihn in diesen Monaten vor dem Mord erlebt – und dann im Prozess als Zeugin gegen ihn aussagt. Sie muss danach abtauchen. Was Juni Stein sichtbar macht, ist die Verzweigung dieses Dramas, die Zahl der Menschen, die von diesem Mord direkt betroffen sind und fortan darunter leiden. Denn der Mord löst nichts. Er beendet auch nicht das böswillige Gerede der Leute, die Rebaz und den Seinen so wichtig sind. Man lebt ja nicht nur in der Familie in Berlin – die Verbindungen in die Türkei sind ja nie abgerissen und werden mit jeder neuen Heirat erneuert. Und alles, was in dem großen Familiengeflecht passiert, wird weitergegeben, bewertet und wiedergesagt.
Man ahnt die Konfliktlage, in der sich gerade die jungen Leute befinden, die wirklich bestrebt sind, in einer Gesellschaft wie der deutschen Fuß zu fassen und ihre Träume zu verwirklichen. Was sowieso schon nicht leicht ist. Zu den mitgebrachten Moralvorstellungen der eigenen Familien kommen die unzähligen Vorurteile aus deutschen Ämtern und Behörden, aber auch auf offener Straße, wo die Dumpfbacken der Nation ihre Ausländerangst auspöbeln.
Ein wenig utopisch wirkt nur das letzte Kapitel, in dem Juno Stein in die Rolle von Birol schlüpft, Naruns Sohn, der zum Tatzeitpunkt fünf Jahre alt war und der seine Kindheit und Jugend dann bei der Familie seines Vaters in der Türkei zubringen musste. Auch er sucht mit einer Fußballerkarriere seine Zukunft in Deutschland, macht sich aber gleich nach seiner Ankunft auf die Suche nach den Spuren seiner Mutter.
Vielleicht ist das wirklich der schwerste Teil dieser Geschichte. Vielleicht ist es für Juno Stein auch der Versuch, das augenscheinlich ungelöste Dilemma doch noch irgendwie zu lösen. Aber wie? Mit einem weiteren Massaker?
Narun
Juno Stein, fhl Verlag Leipzig 2013, 11,95 Euro
Das lässt er offen. Denn die eigentliche Botschaft steckt ja schon in den andern sechs Geschichten. Und sie ist deutlich genug, gerade auch, weil Stein nicht richtend und aus kühler deutscher Distanz erzählt, sondern weil er in jeder Person versucht, das Dilemma zu fassen und zu greifen. Nur eben auf die Frage, die ihn die ganze Zeit antreibt, gibt es natürlich keine Antwort: Warum erschießt ein Bruder seine Schwester?
Auf diese Frage kann es keine (logische) Antwort geben. Auch weil es eine Frage nach der Rolle der Patriarchen und uralter patriarchalischer Strukturen ist. Die man auch aus der deutschen Literatur kennt. Das ist so lange noch nicht her. Man findet das selbst noch bei Storm und Keller, und in der Nachbarschaft bei Strindberg und Lagerlöf. Was die Tragik aus dieser Geschichte nicht negiert. Es macht nur deutlich, wie sehr es auch unsere eigenen Moralvorstellungen trifft, die alten und – zuweilen auch die neueren.
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