Am Ende sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, die Ängste des modernen Bürgertums verschwinden hinter dem Popanz Nazi-Reich. Und Hans-Werner Schmidt, Direktor des Leipziger Bildermuseums und Mitherausgeber dieses Buches, schweift aus bis ins alte Griechenland. Der wichtigste Name aber fehlt in der Diskussion um das, was ursprünglich mal eine Richard-Müller-Kabinettausstellung werden sollte: Sigmund Freud.
1900 hatte er seine “Die Traumdeutung” veröffentlicht, 1904 “Zur Psychopathologie des Alltagslebens”, 1905 und 1908 folgten Veröffentlichungen zur Sexualtheorie und zur Sexualmoral. Mit seinen Schriften löste Freud um 1900 eine Debatte aus, die das schon vorweg nahm, was ein halbes Jahrhundert der Kinsey-Report in neuer Qualität auslösen sollte. Und er berührte damit natürlich direkt die (klein-)bürgerliche Moral in einer Zeit, in der Nacktheit und Sexualität nicht nur mit Tabus belegt waren, sondern auch rigide Gesetze mit heftigen Strafen drohten, wenn die heiligen Grenzen des Erlaubten überschritten wurden.
Wenn Freud vom Sublimieren sprach, dann war es auch ein erzwungenes Sublimieren und Verstecken. Doch wie das so ist mit den unterdrückten Gefühlen: Sie tauchten als Alpträume wieder auf. In der Kunst in vielfältiger Form. Und wer die diversen Analysen zu Max Klingers Werk liest, weiß, mit welcher Wonne heutige Kunstwissenschaftler die vielen versteckten erotischen Andeutungen in Klingers Werk entschlüsseln. Da erstaunt es schon, dass man bei Richard Müller, der anfangs direkt in den Spuren Max Klingers wandelte, einfach so tut, als sei das Thema zu seiner Zeit schon erledigt gewesen. Als wäre seine Anstellung an der Dresdner Kunstakademie schon so etwas wie eine Akzeptanz für seine Themen und seine Kunsthaltung gewesen.
Aber das war es nicht wirklich. Was dann nach 1933 die Reaktion der NS-Bürokraten zeigte. Sie sahen sehr wohl, welche Themen der Dresdner Künstler behandelte. Sie wussten über den von ihnen gewünschten Kunst-Kanon sehr gut Bescheid. Sie wollten keine Auseinandersetzung mit Sexualität und Moral. Der verunsicherte, suchende, kritische Mensch hatte in ihrer Kunstsicht keinen Platz. Der Alptraum schon – doch ihr Alptraum waren ja immer die anderen, nie sie selbst.
Das Verblüffende an Richard Müller ist nicht seine Anbändelei mit den Nazis und ihrer Kulturpolitik ab 1933. Das ist ein moralisches Kapitel, das Fragen weit über die Ausstellung hinaus aufwirft, die am 13. Oktober im Museum der bildenden Künste eröffnet wurde. Sehr genau und mit Quellen belegt beschreibt Jan Nicolaisen, Kurator der Ausstellung, den “Aufstieg und Fall eines Antimodernisten zwischen Nationalsozialismus und DDR”.
Es ist einer von drei Essays, die sich mit dem Leben und der Kunst von Richard Müller beschäftigen. Im Grunde kommt noch die Einführung von Hans-Werner Schmidt hinzu, der den ganz großen Bogen schlägt zur 2.000 Jahre alten Vorgeschichte des Kunst-Motivs “Die Schöne und das Biest”. Nur dass das eben in der Zeit, in der Richard Müller wirkte, kein Fabel-, Märchen- oder Mythen-Thema mehr war, auch wenn er gern auf Mythenstoff zurückgriff – wie bei “Circe”, “Ganymed” oder “Prometheus”. Alles Bilder, die in ihrer realistischen Detailversessenheit die Diskussionen der Zeit geradezu zitieren. Oder vielmehr: die nicht gewollten Diskussionen. Sein wirkliches Unbehagen an dieser Kultur des Verschweigens, Ignorierens, “Sublimierens” sollte Freud ja erst nach dem 1. Weltkrieg deutlicher formulieren – in “Massenpsychologie und Ich-Analyse” (1921) und 1930 dann in “Das Unbehagen an der Kultur”.
Er war immerhin einer der Wenigen, die gespürt haben, wie eng der offene oder unterdrückte Umgang mit den Grundthemen der Moral zusammenhängen mit den Lösungen auf politischer Ebene. Das hat mit Selbst-Bild und Veränderungsbereitschaft zu tun. Und Regierungen reagieren auf solche Entwicklungen gern mit der größtmöglichen Ablenkung. Der 1. Weltkrieg ist auch die Antwort der Noch-Mächtigen auf die Fragen, die die europäische Moderne um 1900 formulierte. Deswegen ist Jan Nicolaisens Klassifizierung von Richard Müller als eines “Antimodernisten” nur zur Hälfte richtig. Inhaltlich war er ein Modernist – wie Klinger, wie Alfred Kubin, aber auch wie sein jüngerer Kontrahent Otto Dix. “Antimodern” – wenn überhaupt – war er in seinem Stil. Aber selbst da mit einer unheimlichen Präzision, die selbst wieder Teil der Aussage wird. So wie bei Magritte und M.C. Escher. So weit entfernt von den Kunstentwicklungen auch der 1920er Jahre war Müller gar nicht. Es ist nicht der “konservative” Zeichen- und Malstil, der über modern oder unmodern entscheidet, sondern der Inhalt des Bildes.
Dass Müller im Dresdner Milieu eher ein Außenseiter war, hat auch damit zu tun, dass in Dresden eher andere Kunststile der Moderne auf Zustimmung trafen. Die auch wieder stark politisch untersetzt waren – sehr links vor allem. Im Konflikt Müller – Dix ging es eher nicht um Moderne versus Antimoderne, sondern um den Konflikt verschiedener Schulen der Moderne untereinander. In dem die etwas ältere Schule auch gern mal als überholt und konservativ kritisiert wurde.
Das dicke Buch zur Ausstellung diskutiert das nicht, deutet es nur an. Und macht Müller damit auch zum Vertreter einer Kunstrichtung, die 1930 scheinbar schon alt und vergangen war. Was so nicht ganz stimmt. Isoliert aber war Müller. Seine jüngeren Malerkollegen sind alle einen anderen Weg gegangen. Kontrovers etwa wie Otto Dix. Über den ausgegrenzten Professor Richard Müller schreibt in diesem reich bebilderten Band der Modeschöpfer und Malerkollege Wolfgang Joop: “Ausgrenzer und Ausgegrenzter” – Joop gehört zu jenen, die die Bilder Müllers nach dem 2. Weltkrieg für sich entdeckten und und damit auch erst wiederentdeckten. Er hat sich mittlerweile selbst eine kleine Müller-Sammlung zugelegt.
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“War Müller zu normal für eine ‘unnormale’ Zeit, die zwischen zwei Weltkriegen mit Anarchie und Chaos um Erneuerung rang?”, fragt Joop. Vielleicht ist die Frage falsch gestellt. Denn so wie der 1. Weltkrieg auch eine völlig irrationale Antwort auf das Unbehagen des “fin de siècle” war, so war auch der Aufstieg der Nazis eine irrationale Antwort auf dieselben unbeantworteten Fragen 15 Jahre später. Kriege sind – vielleicht begreifen es klügere Politiker irgendwann einmal – keine Problemlösungen. Und dass Müller seine verstörenden Bilder, in denen sich nackte Frauen und zum Teil sehr hässliche Tiere in verwirrender Intimität begegnen, bis in die 1930er Jahre malte, hat auch damit zu tun, dass in der Weimarer Republik darüber zwar viel heftiger diskutiert wurde. Aber die herrschende Moral war noch immer dieselbe.
Und da hätte es natürlich näher gelegen, Müller in einer Leipziger Ausstellung mit den anderen großen Surrealisten seiner Zeit ins Zwiegespräch zu bringen: mit Magritte, Ray, Dalí. Da wäre Manches sichtbar geworden, was Müller sehr wohl in einer ganz genau fassbaren Moderne greifbar macht. Mitsamt der ungelösten Verstörung innerhalb der unbehaglichen Kultur der Zeit.
So betrachtet, ist eher der 60 Jahre jüngere Pop-Art-Künstler Mel Ramos, der nun in Leipzig als “Gesprächspartner” zu Müller gezeigt wird, ein Anti-Moderner. Belinda Grace Gardner versucht in ihrem Essay “Die Geburt der Venus aus dem Strom der Bilder” die sonnengebräunten Schönen aus Ramos’ Bildern in die große Kunsttradition von “Die Schöne und das Biest” einzuordnen. Aber selbst die Aussagen von Mel Ramos deuten darauf hin, dass seine Kunst mit dem, was ein Richard Müller gemacht hat, inhaltlich nichts zu tun hat. Denn Pop Art ist ein Spiel mit Ikonen, Marken, Sehgewohnheiten. Das Banale begegnet dem Verklärten, das klassische Ideal den modernen Werbestrategien. Es gibt auch nicht wirklich den signifikanten Unterschied zwischen der Pop Art von der West- und der Ostküste der USA. Die Bilder von Mel Ramos sind genauso intellektuell wie die von Andy Warhol. Und sie zeigen dieselbe Lust, mit den modernen und den alten (Medien-)Ikonen zu spielen. Augenzwinkernd natürlich, lustvoll. Keine Frage.
Aber tatsächlich kommen hier zwei Antipoden in eine Ausstellung – und damit auch in dieses Buch: ein Moderner, der sein Unbehagen an der von ihm erlebten Kultur bis zum Schluss in immer neuen Variationen malte, und ein Maler der Pop Art, der das Unbehagen einfach ausblendet und die Segnungen der bunten Konsumwelt in immer neuen Varianten mit der Feier des schönen Frauenkörpers verbindet. Dunkelheit und verstörende Sprachlosigkeit hier, kalifornische Sonne und ein lustvolles Spiel mit Farbe da. Die Begegnung mit der Bestie hat ihren Schrecken verloren und wird zum Spiel …? – Es darf gestutzt werden. Was wohl auch bei Ramos eine gewisse Absicht ist: Wie weit kann man das Spiel mit der medial wahrgenommenen “Wirklichkeit” treiben? Nimmt der Betrachter überhaupt noch wahr, wie sehr er es mit einer künstlich hergerichteten Bühne zu tun hat, wie das alte Unbehagen hinter der schönen Fassade des Konsums noch rumort?
Die Schöne und das Biest
Thomas Levy, Hans-Werner Schmidt, Kerber Verlag 2013, 40,00 Euro
Die Frage bleibt hier stehen. Denn beantwortet ist sie nicht. Nur gestellt. Und dahinter lauert die nächste: Was passiert eigentlich mit einer Gesellschaft, in der nicht nur das weibliche Körperideal von Werbung und Medien vorgestanzt wird? Wo selbst Moral und Erotik zur bunten Ware werden, wo alles käuflich und verkäuflich wird?
Zumindest eines zeigen die Ausstellung und diese Begleitpublikation: wie fern sich zwei Künstler wie Richard Müller und Mel Ramos tatsächlich sind, selbst wenn in ihren Bildern gleicherweise schöne Nackte diversen wilden Kreaturen begegnen.
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