Was man für Leipzig machen kann, das kann man fast genau so auch für Dresden machen, sagte sich Mark Lehmstedt, nachdem er sich nach dem faszinierenden Band mit Dresdner Luftbildern von Walter Hahn aus dem frühen 20. Jahrhundert auch schon einen ebensolchen über Leipzig gegönnt hat. Denn Verleger lieben ihre Bücher. Sie denken wie ihre Lieblingsleser: Was mir gefällt, gefällt auch den Leuten. Nun also mal andersherum.
Eine schöne Idee für Leipzig – umgesetzt in den beiden Bildbänden “Leipzig um 1900” – wird jetzt auch für Dresden in einem Band voller kolorierter Ansichtskarten unter die Leser gebracht. Nur hat Dresden so etwas Schönes wie eine geschlossene, von einem Promenadenring umgebene Innenstadt nicht. Was auch daran liegt, dass die Stadtplanung in der Residenzstadt immer in verschiedenen Händen lag. Der König hatte durchaus ein Wörtchen mitzureden und seine eigenen Vorstellungen, was auf den alten Mauern und Festungsanlagen nach ihrer Niederlegung entstehen sollte. Fürstliches natürlich. Die Stadt wieder dachte so ähnlich wie auch Leipzigs Stadtväter, wollte begrünte und repräsentative Boulevards, an denen auch repräsentative Stadtbauten ihren Platz fanden.
Doch der Leser erlebt natürlich auch den selben Effekt wie in dem Band mit Luftbildfotografie von Walter Hahn “Über den Dächern von Dresden”: Das Ganze wirkt vertraut und fremd zugleich. Denn von diesem Dresden des Jahres 1900 hat der 2. Weltkrieg nicht viel übrig gelassen. Und die sozialistischen Stadtplaner haben erst recht keine Rücksicht mehr auf die historischen Straßenräume genommen. Das (Wieder-)Aufbauwerk der letzten Jahrzehnte ist zwar gigantisch, aber gerade solche Bildbände zeigen, wieviel tatsächlich unwiederbringlich verloren ging in den Bombardements vom 13. bis 15. Februar 1945. Es war deutlich mehr als in Leipzig und betraf sehr konzentriert die historische Altstadt.
Und während die Leipziger so stolz darauf sind, dass einige Mutige unter ihnen 1968 gegen den Abriss der Paulinerkirche protestierten, hatten die Dresdner zu diesem Zeitpunkt schon eine ganze Geschichte der immer neuen Enttäuschungen hinter sich, denn die neuen sozialistischen Machthaber zündeten auch nach 1945 an Dutzenden historischen Gebäuden des alten Dresden, die das Bombardement überstanden hatten, die Lunte an.Das ergibt für den heutigen Leser eine Reise in eine Stadt, die nur noch in Details und wenigen zentralen Blickachsen an die alte, unzerstörte Königsstadt erinnert. Gassen, Straßen und Plätze sind verschwunden oder haben unter der neuen industriellen Blockbauweise ihr Antlitz und ihre Lage drastisch verändert. Blickachsen, die die Fotografen des frühen 20. Jahrhunderts noch faszinierten, gibt es nicht mehr – oder ganze Häuserreihen in diesen Blickachsen fehlen. Und es fällt auch auf, dass Dresden mit seiner großstädtischen Atmosphäre um 1900 deutlicher stärker an Leipzig erinnerte, als das heute der Fall ist.
Was natürlich auch daran liegt, dass die berühmten Architekten ihrer Zeit in beiden Städten tätig waren und nach ähnlichen Prämissen vorgingen. Genauso findet man die prächtigen barocken Bürgerhäuser, auf deren Dominanz auch die Architekten der Jugendstil-Zeit noch Rücksicht nahmen. Um 1900 war auch Dresden längst eine bürgerlich geprägte Großstadt. 1872 war hier die Dresdner Bank gegründet worden. Kaufhäuser, Cafés und Hotels dominierten die repräsentativen Plätze. Autos sieht man keine, dafür diese wie Spielzeug wirkenden Straßenbahnen, die auch durch die Altstadtstraßen kurvten. Nur wo es zu eng war, verkehrte tatsächlich noch der Pferdeomnibus.
Der schiefe Blick des unbekannten Fotografen: Dresden. 1. Mai 1989
Es gibt Funde, die haben es in sich …
Eine Luftreise über eine (beinah) verschwundenen Stadt: Über den Dächern von Dresden
Es gibt Menschen, die haben eine Passion …
Versuch einer barocken Stadtbesichtigung: Dresden an einem Tag
Manchmal braucht man so ein handliches Buch …
Leipzig um 1900: Postkarten-Ausflüge in die “gute alte Zeit”
Band 1 erfreute im April die Leipziger …
Aber auch Dresdener werden wohl in vielen Fällen die zum Teil sehr ausführlichen Legenden zu den Postkarten lesen müssen, um in ihrer Stadt einigermaßen die Orientierung zu haben. Ein Stück weit kommt auch die Stadtbaugeschichte der Gründerzeit ins Bild. Da wurden die Elbbrücken – wie die Carola- und die Augustusbrücke – neu gebaut und dem zunehmenden Schiffsverkehr angepasst. Noch schwammen etliche Flussbadeanstalten auf der Elbe – das Wasser war noch nicht so schadstoffbelastet wie ab den 1930er Jahren.
Der Reichtum fasziniert. Auch da ähnelt das Dresden dieser Zeit dem damaligen Leipzig: Hunderte imposanter Bauten – vom Neuen Rathaus über diverse Hotels, Schulen, Amtsgebäude bis zur Jägerkaserne – wurden binnen weniger Jahre aus dem Boden gestampft. “Was das kostet”, staunt der Leser. Aber nur ein Teil davon waren eben Staatsgebäude oder solche der noch herrschenden Wettiner-Familie, die seinerzeit noch standesbewusst in ihrem Schloss in der Stadt residierte.
Nicht zu vergessen: 1918, als die Sachsen ihren Friedrich August zum Rücktritt drängten, war dieses Dresden in dieser Pracht noch zu sehen. Man konnte es durchaus noch der alten, königlichen Zeit zurechnen. Wer wusste schon, was die neuen Regierungen des Freistaats draus machen würden? Die Skepsis des abgedankten Königs war durchaus verständlich.Da die Fotografen, die die Vorlagen für all die hier versammelten kolorierten Ansichtskarten lieferten, ihre Stadt liebten, gibt es natürlich von praktisch jeder Straße und jedem Winkel mindestens ein schönes Motiv. Manchmal gehen die Perspektiven der aneinandergereihten Bilder ineinander über. Manchmal geht’s hinauf auf die damals noch zahlreichen Türme, manchmal runter ans Elbufer.
Um die Bilderflut zu begrenzen, haben sich Mark Lehmstedt und seine Co-Autoren auf den Teil der Stadt innerhalb des alten Straßenbahnrings der Linie 26 beschränkt, die im Wesentlichen die Altstadt und – auf dem anderen Elbufer – die (Neue) Neustadt umrundete. Und damit den historischen Teil der Stadt – mit einigen markanten Infrastrukturen des begonnenen Industriezeitalters, wie den Bahnhöfen, Postgebäuden oder dem Fernheiz- und Elektrizitätswerk hinter der Semperoper (die so eigentlich erst seit ihrer Rekonstruktion in den 1980er Jahren heißt).
Natürlich ein Bilderbuch für Dresden-Liebhaber, ein bisschen nostalgisch, wie das immer so ist, wenn man sieht, wieviel unheilbare Schäden Menschen in ihrer Dummheit anrichten können.
Die Farben, die die Koloristen dabei verwendet haben, sind oft reine Glückssache. Aber wirklich fantastisch wird es nur selten. Die nachgefärbten Ansichten zeigen durchaus ein Dresden, das ganz so wirkt, als könnte man unverhofft hineinstolpern, wenn man jetzt vom Buch aufschaut. Wogegen es eigentlich nur ein Rezept gibt: Man sollte das Buch im Sitzen durchblättern und bei guter Beleuchtung. Was auch hilft, wenn einen so manche Farbwahl umzuwerfen droht. Quittegelbe Post-Straßenbahnen zum Beispiel oder eine knallrote Werbe-Bande: “Waren-Abzahlungsgeschäft”. Da kommt man schon ins Grübeln. Was kann das nur sein? Angebracht ist die Banderole am einstigen Stadtwaldschlösschen, wo es mal einen schönen Stadtausschank gab.
Dresden um 1900
Mark Lehmstedt, Lehmstedt Verlag 2013, 19,90 Euro
Die Sache mit dem Schneidwarengeschäft am Postplatz hat Mark Lehmstedt erklärt, aber die Sache mit dem Waren-Abzahlungsgeschäft bleibt ein Rätsel. – Eine Internetsuche bringt ein wenig Licht ins Dunkel der vergangenen Zeiten: Auch damalige Hausfrauen und -männer hatten den Wunsch, sich etwas Schönes zu gönnen. Wenn das Geld jedoch knapp war, ging man eben in ein Waren-Abzahlungsgeschäft, um dort einen Ratenkredit zu erhalten. Viele weitere solcher Motive laden beim genauen Betrachten zum Suchen und Finden ein, doch Manches ist aus heutiger Sicht nur schwer zu erklären.
Dresden bleibt eine rätselhafte Stadt.
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