Lyrik ist ein aufmüpfiges Genre. Zumindest dann, wenn die Autoren wissen, was sie tun. Die Benutzung der Sprache ist eine Profession. Zwar ist das Land voller Möchtegerndichter und Möchtegerndenker. Aber die Wenigsten, die mit der deutschen Sprache Dinge anstellen, wissen, was sie da tun. Jan Kuhlbrodt gehört zu den Dichtern in Leipzig, die es wissen. Und die ihre Verstörung über die Zeit auch mal in ein Versepos packen.

Ist natürlich doppelt gemoppelt. Ein Epos ist nun einmal eine Versdichtung. Auch wenn der Leser bei “Epos” eher an epische Heldenlieder denkt. Einen Held hat Jan Kuhlbrodts Epos natürlich: den im Titel genannten Stötzer, von dem nie so recht klar wird, wie alt er eigentlich ist. Außer, dass er nicht zu den jungen, noch Ungeformten gehört. Ein Eigenbrötler, den es aus dem verschollenen Sozialismus in den Farben Grau wie Strandgut in die neueren, besser bemalten Zeiten gespült hat und der das Leipzig der Gegenwart wie ein Schneckenhaus bewohnt. Hier lebt er in einer unsanierten Wohnung, weigert sich, die Stadt auch nur momentan zu verlassen, und liebt die Zeichen des Verfalls. Denn Verfall gibt den Dingen erst eine Geschichte und der Stadt damit einen Charakter.

Stötzer schreibt. Was er schreibt, wird nicht so recht klar. Er gibt nichts preis, nur dann und wann findet einer seiner trockenen Kommentare in den Text. Einen fand der Verlag so schön – damit bewirbt er gleich mal das Buch: “Das Ehrliche am Sozialismus war der Einsatz schnell verwitternder Baumaterialien, sagt Stötzer.” Stötzer ist der leibhaftige Skeptiker. Er hat schon in sozialistischen Glanzzeiten nicht geglaubt, was versprochen ward. Und daran hielt er auch fest, als 1990 die neu gebackenen Horden der neuen Sieger die alten Skeptiker durch die Stadt jagten. Mit rechts und links hat er nichts am Hut. Aber es geht ihm wie Sokrates: Wer nervende Fragen stellt, ist automatisch Außenseiter.Stötzer wollte sich nicht anpassen und will es auch jetzt nicht. Er ist, was auch im bunten Leipzig selten geworden ist: ein Original. Das muss nicht heißen – prominent. Mit Originalität wird man nicht mehr prominent. Denn sie stört und verstört. So, wie Stötzers Erkundungen durch das alt-neue Leipzig verstören. Er reibt sich – noch immer – an den Wahrzeichen dieser Stadt, am Völkerschlachtdenkmal, der Alten Messe mit dem zum “Volkspalast” umgerubelten Sowjetischen Pavillon, der Deutschen Bücherei, die zur Nationalbibliothek wurde – und an deren Tür er theatralisch umkehrt, weil er an diesem fürs Lesen gebauten Ort nicht lesen kann.

Ihm gelten diese Lokalheiligtümer nicht als solche. Er macht sich Gedanken. Nicht immer stubenreine oder zeitgemäße. Er bewahrt sich, was für einen Teil der Leipziger immer typisch war: die grimmige Skepsis. – Wofür steht das Völkerschlachtdenkmal eigentlich? Und für wen? Er jedenfalls hätte nicht gewusst, auf welcher Seite er gestanden hätte in der Schlacht. Dass die Schlacht mit so einem Trumm von Denkmal erinnert wird, hat ja zuallererst mit dem Besiegten zu tun – jenem Napoleon, der in einem wilden Aufgalopp zeigte, wie man einen ganzen Kontinent umkrempeln kann, wenn man will. Die deutsche Provinz sowieso. Im Denkmal spiegelt sich also vor allem der Stolz der Sieger, über einen der Größten im vorletzten Jahrhundert gesiegt zu haben.

Aber wer sind die Sieger? – Gewonnen hat nach allen Almanachen die Restauration. Das lernt jeder schon in der Schule. Verständlich, dass einer wie Stötzer auch 200 Jahre darauf nicht weiß, wo er da gestanden hätte. Auch wenn er die 200-Jahr-Feier wohl nicht erlebt. Ein Text mitten im Buch lässt vermuten, dass der grimmige Außenseiter eines Tages ganz unverhofft in seinem Lieblingssessel dahingerafft wurde – die nicht entkorkte Flasche noch in der Hand. Der Skeptiker ist ein Genießer gewesen. Was dazu gehört. Wer die Dinge nicht mit Genuss betrachtet, sieht nichts. Auch nicht, dass die wieder blankgeputzten Fassaden die Geschichte tatsächlich verstecken. Wie gegenwärtige Generationen immer wieder versuchen, Geschichte zu verstecken.

Stötzer schleppt seine Geschichte mit. Und wenn er über die ungeahnten Möglichkeiten heute nachdenkt, problem- und sorglos überall hin gelangen zu können, dann sieht er die philosophische Falle darin: Früher gab es weniger Orte, die erreichbar waren. Die Vergeblichkeit hatte eine Aura, ein Sehnsuchtsmoment. “Vergeblichkeit war uns eine Tugend”, schreibt Kuhlbrodt. Und man denkt weiter: Was aber ist, wenn alle Orte erreichbar sind und die Menschen dennoch im Gefühl der Vergeblichkeit leben?

Ist das nicht erst tatsächlich die Hölle?Es sind jedes Mal philosophische Passagen, in denen Stötzer in dem, was er sieht, das sieht, was ihn selbst treibt und verstört. Dass er so sesshaft geworden ist, hat ja eine simple Erfahrung zum Grund: “Nur im Übergang sei Dauer. Diesen Gedanken hat er nie abgelegt. Und Stötzer ist immer geblieben, wo er allezeit war.” Was nicht heißt, dass das immer Leipzig war. Hier ist er gestrandet, wie so viele stranden, denen anderswo die Welt zu eng geworden ist. Hier konnte er atmen. Dem “Requiem für Stötzer” folgen Ausflüge in jene Orte, die irgendwie Teil der Stötzer-Biografie sind. Orte, in denen er unter den zerbröselnden sozialistischen Artefakten immer die Vorgeschichte sah. Und damit den großen Atem der Zeit, in dem die ach so stolzen Gesellschaften der Moderne nur ein Moment sind, ein kurzes Aufbäumen. Mal auf sumpfigem Grund wie in Passendorf alias Halle-Neustadt, mal am steinigen Grund der Chemnitz alias Kameniza. Und Stötzer wundert sich nicht, wenn die Diktatoren der so kurzen Zeitkapitel sich einbalsamieren lassen für eine ägyptische Ewigkeit.

Es ist wohl der egomanische Versuch, die Veränderung zu negieren, sich der Transformation zu entziehen. Diktatoren wären immer so gern das unverrückbare Ende der Geschichte. Da sind sie alle gleich. Man ahnt, dass Stötzer sich als Teil einer Welt in permanentem Transit empfindet. Stötzers Problem: Er denkt selbst beim Denken über das Denken nach – und spürt ziemlich deutlich, dass zwischen Denken und Verstandenwerden eine Kluft ist. Auch deshalb fühlt er sich in geflickten Orten augenscheinlich noch am heimischsten – nicht mehr so abgeworfen. Es ist auch ein Epos über das Irgendwo-Zuhause-Sein. Das Verlassen der Stadt versetzt ihn in Panik.

Ein echtes Original, das fast gespenstisch durch dieses Epos geistert, sich selten freut, und dennoch vertraut wirkt in seinem grimmigen, skeptischen Blick auf die Banalität hinter all den Fassaden. Diesem Architektur gewordenen Versuch, sich über die Zeiten zu retten. Dabei ist Zeit nur eine Erfindung. Sterben nur eine Episode. “Nicht wiederholbar vielleicht. Aber auch darin unterscheide / es sich nicht von andere Episoden. Wir leben im Vorübergehen.”

Bestellen Sie dieses Buch versandkostenfrei im Online-Shop – gern auch als Geschenk verpackt.

Stötzers Lied.
Jan Kuhlbrodt, Verlagshaus J. Frank 2013, 13,90 Euro

Verständlich, dass man so einen Burschen nicht für die großen Reden und Empfänge begeistern kann. Darin ähnelt dieser Stötzer dem immer skeptischen Andreas Reimann. Auch wenn er so bissig nicht ist. Er liebt die Provisorien. Und weiß, das er selbst eines ist. Das mit einem Schulterzucken auch wieder reanimiert werden kann, um mit dem selben kritischen Blick die Welt zu betrachten in ihrer eitlen Vergänglichkeit. Diese grimmige Grundhaltung – irgendwie scheint sie einem vertraut. Wie gemacht für diese Stadt und ihre nicht so auffälligen Bewohner. Die nie wissen, auf welcher Seite der Schlacht sie dabei gewesen wären. Wenn überhaupt.

Ein Epos über einen liebenswerten Nicht-Helden, mal lyrisch, öfter philosophisch, noch häufiger wie ein nachdenklicher Tagebucheintrag. Ein Versgedicht über das Leben abseits der Zeitstrudel. Irgendwie so, wie es vielen Leipzigern geht. Nur hat nicht jeder diesen lakonischen Blick auf die Eitelkeiten der Zeit und das Gefühl, alles war schon mal da und alles ist schon wieder vorbei. Und die Kulissen des Tages erweisen sich wieder nur als Pappe.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar