Es gibt Leute, die verschwinden mit dem Abgang in den Ruhestand auch komplett aus dem Radar ihres Arbeitsfeldes. Als hätten sie tatsächlich nur so lange brav ihre Stunden abgesessen, die man als Angestellte von ihnen verlangt hat. Andere freuen sich auf die Zeit nach dem Amt, weil sie dann endlich die Projekte verwirklichen können, die in die Arbeitszeit nicht hineingepasst haben. Der Mathematiker Hans Wußing war so einer.
2011 ist der Mathematiker und Physiker, der von 1956 bis 1992 am Karl-Sudhoff-Institut der Uni Leipzig wirkte, im Alter von 83 Jahren verstorben. Und steckte doch gerade in einem seiner geliebten Projekte – einer vierbändigen Reihe zu den großen Persönlichkeiten, die die Mathematik in den letzten 3.000 Jahren entwickelt und weiterentwickelt haben. Der erste Band, der in der Reihe “EAGLE Guide” erschien, lag 2009 vor: “Von Gauß bis Poincaré: Mathematik und Industrielle Revolution”. Auch über den zweiten erschienenen Band “Von Leonardo da Vinci bis Galileo Galilei: Mathematik und Renaissance”, der 2010 erschien, konnte sich der Mathematikhistoriker noch freuen.
Die beiden fehlenden Bände lagen bei Wußings Tod im April 2011 als Manuskript vor, handgeschrieben. Gerlinde Wußing nahm sich ihnen an und holte sich Unterstützung aus dem Westen, beim langjährigen Professor für Geschichte der Naturwissenschaften Menso Folkerts (69), der die handschriftliche Rohfassung in einen digitalen Texten verwandelte, ihn glättete und sprachlich ordnete.Die abgebildeten Briefmarken hatte – wie schon in den beiden ersten Bänden – noch Hans Wußing als Illustration zugeordnet. Sie stammen aus seiner eigenen Sammlung, in der sich mittlerweile auch Gerlinde Wußing bestens auskennt. Es ist eine besondere Sammlung, denn Wußing sammelte natürlich vor allem Briefmarken, die sich mit der Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften beschäftigten.
Und dass in diesem Band eindrucksvolle Briefmarkenmotive aus Griechenland überwiegen, ist fast zwangsläufig.
Den meisten Schülern begegnen die frühen Anfänge einer wissenschaftlichen Mathematik natürlich in der Schule. Hier begegnen sie den Herren Pythagoras, Thales und Euklid, um nur die drei Rauschebärte zu nennen, ohne die die grundlegende Mathematik heute gar nicht denkbar ist.
Eine 6. Auflage, überarbeitet und stark angereichert: Carl Friedrich Gauß
Es lag durchaus im Bereich des Möglichen …
Die Mathematik in der Industriellen Revolution: Von Gauß bis Poincaré
Dass Wirtschaft etwas mit Rechnenkönnen …
Kleine Starthilfe für Wieder-Selbst-Denker: Grundbegriffe der Elementaren Geometrie
Vielleicht haben Sie es schon bemerkt …
Wobei das mit den Rauschebärten nicht stimmen muss. Gerade wenn man zu den ganz frühen Anfängen der “homerischen Periode” zurückgeht, wird die Quellenlage richtig dünn, sind oft nur wage Anekdoten und Legenden über die Leute bekannt, deren frühe mathematische Leistungen man zwar bewahrt hat. Nur Akten und Urkunden fehlen zwangsläufig. Vieles wurde wohl irgendwann zerstört, als die berühmte Bibliothek von Alexandria abgebrannt wurde. Die Historiker streiten sich zwar, wann das genau geschah und welcher durchgeknallte Politiker dafür haftbar gemacht werden kann.
Doch diese gewaltige Bibliothek der Antike umfasste wohl zu Beginn unserer Zeitrechnung so ungefähr alles, was bis dahin an Wissenswertem niedergeschrieben wurde. Zumeist auf Papyros, teilweise auch auf Pergament. Wobei Wußing auch die kleine Anekdote erzählt, wie der griechisch-ägyptische König Ptolemäus VI. den Papyrusexport von Ägypten nach Pergamon verbot und man in der griechischen Stadt an der kleinasiatischen Küste begann, nun auf pergamischen Häuten, “membrana pergamena” zu schreiben. Was da und dort ein Glücksfall für die Forschung ist. Denn Pergamentschriften wurden im Altertum auch gern mal wieder abgekratzt und neu beschrieben (was man mit Papyrus nicht machen konnte). Was man mit modernen Methoden von den abgekratzten Schriften wieder lesbar machen kann, nennt man Palimpsest. Auf diese Weise hat von Archimedes die “Methodenlehre” überlebt. Sie wurde 1906 wiederentdeckt.Der vierte Band, den Wußing in Vorbereitung hatte, ist der Band “Von Descartes bis Euler”, der 2013 bei EAGLE erscheinen soll. Aber zwischen Claudius Ptolemaios, der wohl um das Jahr 180 starb, und Leonardo da Vinci, der 1452 geboren wurde und den 2. Band eröffnet, klafft sichtlich eine Lücke von mehr als einem Jahrtausend. Einen eigenen 5. Band für diese Epoche hatte Wußing nicht vorgesehen. Er geht aber im ersten Bändchen darauf ein, schildert mit Ptolemaios, Archimedes und Heron natürlich Forscher und Mathematiker, die schon in der späten hellenistischen, von Rom dominierten Epoche lebten (Archimedes wurde ja bekanntlich bei einem römischen Angriff getötet), aber schon in der römischen Kaiserzeit dominierten augenscheinlich die Kommentare zu den Forschungsergebnissen der Alten. Mit dem wirtschaftlichen Niedergang des Römischen Reiches ging augenscheinlich auch der allgemeine Bildungsstand den Bach runter – die klügsten Köpfe der Zeit waren froh, wenn sie begriffen, was die klugen griechischen Denker herausgefunden hatten.
Dass überhaupt noch ein nennenswerter Teil der berühmten antiken mathematischen Schriften überliefert ist, ist der Blütezeit der arabischen Kultur zu verdanken, als arabische Gelehrte alles kopierten, was sie für wichtig hielten. Sie füllen praktisch die fehlenden Jahre in der Geschichte der Mathematik.
Von Pythagoras bis Ptolemaios
Hans Wußing, Menso Folkerts, Edition am Gutenbergplatz Leipzig, 14,50 Euro
Und über ihre Kultur kehrten die antiken Mathematiker in die europäische Kultur und Wissenschaft zurück, als die Renaissance erst Italien erfasste und dort auch zur Gründung der ersten Universitäten führte. Auch erst mit dieser Wiederentdeckung des mathematischen Wissensstandes der Antike kam die mathematische Forschung in Europa (wieder) in Schwung.
Wußing geht im letzten Kapitel diesen Bändchens kurz darauf ein. Und man denkt wieder einmal kurz über das Römische Reich und seine Rolle in der Geschichte nach. Zumindest im Fall der Mathematik gilt: dafür hat diese Periode nichts beigetragen. Zum anspruchsvollen Rechnen eignen sich die römischen Ziffern nun wirklich nicht. Dafür eignen sich die aus Indien und Arabien kommenden Ziffern wesentlich besser.
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