Einmal darf man. Einmal darf man an so einem Abend Großzschocher sagen, wenn man Kleinzschocher meint. Denn am Donnerstag, 8. Dezember, lag die Buchpremiere in Großzschocher gerade zwei Tage zurück, als Pro-Leipzig-Geschäftsführer Thomas Nabert im Gemeindehaus der Taborkirche in Kleinzschocher das nächste neue Buch vorstellte.

Vor einem wesentlich unruhigeren Publikum. Die beiden Dorffluren grenzen zwar aneinander. Aber wer an der Kurt-Kresse-Straße die Ortsteilgrenze überschreitet, kommt in eine andere Welt. Mitten in Leipzig gibt es diese spürbaren Mentalitätsunterschiede. Ein herrliches Forschungsfeld. Wenn sich mal einer dran traut.

Das, was da am Donnerstag im adventlich geschmückten Gemeindesaal vorgestellt wurde, hat sein Vorbild in  Großzschocher. Dort erschien vor einem Jahr ein großformatiger Band mit lauter Ansichtskarten, die den Ortsteil in der so wichtigen Phase von 1890 bis 1930 zeigen. Ansichtskarten gab es dann zwar auch noch in den Folgejahrzehnten – doch mit dem Aussterben der kleinen Regionalverleger ab 1945 nahm auch die Flut der Motive ab. Dazu kam die lang anhaltende Stagnation im Ortsbild, die da und dort auch schon sichtlich in Verfall überging.

Es ist kein Zufall, dass mit der zunehmenden Sanierungstätigkeit nach 1990 auch das Interesse an den historischen Ansichtskarten wuchs. Nicht nur von Seite der Architekten, die jetzt verzweifelt auf die Suche gingen nach historisch korrekten Vorlagen für die Rekonstruktion der baulichen Kleinode. Auch die Bewohner der Ortsteile begannen, sich wieder für ihre regionale Identität zu interessieren, für die Geschichte von Straßen, Häusern und Plätzen. “Und kein Medium hat die Veränderung der Ortsteile so vielfältig abgebildet wie die Ansichtskarte”, sagt Nabert, aus dessen Haus mit dem “Bilderbogen” seit letztem Jahr auch das Standardwerk zur Leipzig Ansichtskarten-Produktion vorliegt.

Der Band zu Großzschocher war dabei nicht einmal eine Ausgliederung aus diesem Band, denn Werner Franke hat in seinem kleinen Großzschocher-Museum “Heimatblick” auch die alten Ansichtskarten zum Ortsteil gesammelt. Sie zeigen tatsächlich Vieles, was weder fotografisch noch in anderer Bildgebung überliefert ist.

Dasselbe gilt für das heute 8.300 Einwohner zählende Kleinzschocher. Das war auch schon im letzten Dezember zu spüren, als Christine Arendt ihr Erinnerungsbuch “Mein Kleinzschocher” vorstellte. Da hatte Pro Leipzig die Nachfrage völlig unterschätzt und die Auflage zu klein bemessen. Das Buch ist vergriffen. Das kann auch dem nun vorgestellten “Kleinzschocher. Ein Leipziger Ortsteil in alten Ansichtskarten” passieren, auch wenn Pro Leipzig vorsichtshalber ein paar mehr Exemplare in Auftrag gab.

Knapp vor ultimo, am Donnerstagmittag, kamen die Exemplare aus der Druckerei. Und der Gemeindesaal war gut gefüllt. Die Kleinzschocherschen waren durchaus neugierig, was nun im neuen Buch geboten wurde, nachdem schon 2007 und 2009 die beiden Teile der “Stadtteilgeschichte Kleinzschocher” erschienen waren und 2010 das Buch von Christine Arendt.

Sie arbeitete auch an diesem Band mit, steuerte – neben anderen begeisterten Sammlern – nicht nur zahlreiche Motive aus dem Archiv ihres Großvaters bei, sondern übernahm auch Recherchen zu Motiven und Geschichten. Denn wie kompliziert die Zuordnung zuweilen ist, kann man auch unter den 190 hier ausgewählten Motiven sehen. Manches existiert so nicht mehr, wurde überbaut oder ging im Bombenhagel von 1944 verloren, manches ging in den letzten Jahren durch Verfall verloren, wurde wegen Baufälligkeit abgerissen. Anderes musste Neubauten weichen.

So auch – als beeindruckendstes Motiv – die alte Kleinzschochersche Kirche, neben der die neue, die alles überragende Taborkirche errichtet wurde. Und für die Fotografen gab es so die einmalige Gelegenheit, ein Jahr lang beide Kirchen nebeneinander fotografieren zu können, die winzige Dorfkirche wie hingeduckt unter den hoch aufragenden Türmen der präsentablen, städtisch stolzen Taborkirche. Bevor die alte Dorfkirche dann abgerissen wurde.

Die Taborkirche wurde schnell zum Wahrzeichen des Ortsteils. Aber der Band erzählt auch die Geschichte anderer Wahrzeichen in Kleinzschocher, über die sich die “Auswärtigen” meist nur wundern – den “Goldenen Adler”, der dem Adler seinen Namen gab, das “Blockhaus”, das genauso von der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung stammte, die 1897 im Leipziger König-Albert-Park stattfand, wie der namensgebende goldene Adler oder der Name des “Rothenburger Erkers”. Dieses Gebäude dominiert bis 1945 die Ecke von Altranstädter Straße und Antonienstraße. In den Gasträumen waren die Gemälde des Münchner Malerei-Professors A. Hoffmann zu sehen, die zur Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung dort den “Rothenburger Erker” geziert hatten. Sie zeigen Szenen aus einem Festspiel über die Ereignisse in Rothenburg im 30jährigen Krieg. Oder besser: zeigten. Sie gingen mit dem Haus verloren.

Der “Rothenburger Erker” war eines der beliebtesten und markantesten Restaurants in Kleinzschocher, das in den 1890er Jahren auch Anschluss ans Leipziger Straßenbahnnetz bekam. Die Gastwirtschaft zur Terrasse war genauso ein beliebtes Ausflugsziel wie der “Reichsverweser”. Die Postkarten zeigen auch, wie innerhalb weniger Jahre die alten, dörflichen Strukturen teilweise recht chaotisch umgebaut oder von neuen, städtischen Straßenzügen umbaut wurden. Die erst 1877 neu errichtete Windmühle kommt ins Bild, die schon elf Jahre später wieder weichen musste, weil hier ein neuer Schmuckplatz mit dichter Quartiersbebauung entstand.

Das Gasthaus, das Robert Mätzschker hier errichtete, hieß in der Anfangszeit “Windmühle”. Erst seit 1906 trägt es den Namen Mätzschkers Festsäle.

Noch einmal ist auch das alte Schloss zu sehen, das ebenfalls Opfer der Bomben wurde. Man sieht die alte Straßenbahnendstelle an der Taborkirche, sieht, wie weit der Raum noch ist zu den benachbarten Ortsteilen Plagwitz und Schleußig. Denn hier wurde die Wohnbebauung erst  in den 1920er Jahren hochgezogen. Ein Vogelblick schweift über den erstaunlich großen Schulgarten der 50. Volksschule, der heutigen “Schule am Adler”. Man sieht das Flussbad an der Elster, das als Ambos-Bad berühmt war, bevor das Baden in Leipziger Flüssen zu ungesund wurde. Man sieht auch die Motorbootstation von Julius Hermann Seifert, aus der 1961 der Bootsverleih Herold wurde. Alles auf der Flur von Kleinzschocher.

Und natürlich erfährt man auch einiges über die Kleinverleger aus Kleinzschocher wie Moritz Klöss und den wohl bekanntesten Fotografen aus dem Ort, Max Petermann, dessen Lebensgeschichte Christine Arendt versucht, nachzuzeichnen. Doch nach dem zweiten Weltkrieg verliert sich seine Spur im thüringischen Lobenstein. Sein Atelier aber ist noch erhalten. Und seine Fotos zeigen Etliches, was zu seiner Zeit noch das Ortsbild prägte.

Ein Kapitel zeigt dann Bilder der bombastischen 5. Reichsnährstand-Ausstellung. Bilder, die mit propagandistischer Fanfarenästhetik kaschieren, dass die Veranstaltung auch nur Teil der Kriegsvorbereitung der NS-Regierung war. Danach folgen noch ein paar stillere Aufnahmen Kleinzschochers aus den 1930er Jahren und ein paar Postkarten aus der DDR-Zeit, in denen sich dann der Verfall mischt mit den neuen propagandistischen Präsentationen.

Kleine Texte zu den Bildern erklären dem Leser die Veränderungen – und auch die Fehlstellen. Nostalgisch wirkt das alles tatsächlich nur, wenn man die Augen vor diesen Veränderungen verschließt und manche dieser alten Motive auch nicht als Herausforderung begreift. Etwa für das einstige “Tor zu Kleinzschocher” – den Adler, oder für das ehemalige Schlossgelände.

Manches – wie die Meyerschen Häuser oder die 1929 eröffnete 55. Schule – zeugt davon, dass das Alte immer wieder mit neuem Leben erfüllt wird. Gerade dann, wenn es sich wieder als so notwendig erweist wie zur Erbauungszeit. Auch wenn Leipzig von den einst 700.000 Einwohnern heute weit entfernt ist. Aber auch so kann man ja diesen Band betrachten: Er zeigt, wie ein Ortsteil einer nicht ganz unbedeutenden Großstadt beschädigt wird, wenn dumme Politiker den Krieg als Lösung ihrer Probleme betrachten. Kriege beginnen, das geht schnell. Die Folgen sind auch nach Jahrzehnten nicht überwunden und machen den Heutigen Arbeit. Manchmal auch schöne Arbeit, denn alte Stadtqualitäten wiederzubeleben ist ein durchaus fruchtbringendes Tun. Nur das Geld reicht oft nicht, das zu tun, was man gern täte, wenn man diese alten Bilder sieht.

Christine Arendt / Thomas Nabert “Kleinzschocher. Ein Leipziger Ortsteil auf alten Ansichtskarten”, Pro Leipzig, Leipzig 2011, 17 Euro

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