Für FreikäuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausg. 62Dr. Nadja Walter ist es nicht. Sagt sie von sich selbst. Und sie muss es wissen, denn seit drei Jahren forscht sie unter anderem zum Unterschied zwischen Sportsucht und hoher Bindung an den Sport. Die einen können nicht ohne und verlieren die Kontrolle, wenn es mal nicht mit dem Sport klappt. Andere freuen sich über jede Einheit, aber können auch mal auf der Couch entspannen. Sportsucht ist bisher wenig erforscht, aber klar ist: Sie kann für den Einzelnen auch sehr gefährlich werden.
Frau Dr. Walter, in der Sportwissenschaft kann man allerlei erforschen. Wie sind Sie ausgerechnet zu dem Thema “Sportsucht” gekommen?
Als Sportwissenschaftler versuchen wir immer, die positiven Dinge des Sporttreibens an die Frau und an den Mann zu bringen, um lebenslanges Sporttreiben zu forcieren. Aber ich bin der Meinung, dass wir auch die negativen Seiten einmal beleuchten müssen. 2015 habe ich mal eine Anfrage bekommen, über die Nebenwirkungen von Sport zu schreiben und ich habe auch jemanden im Freundeskreis, weswegen ich mich mit dem Thema begonnen habe zu beschäftigen. Fakt ist: Es ist kein Luxusproblem von Elite-Athleten.
Es hat sehr lange Tradition und wurde bis heute zwar immer wieder untersucht, aber noch nicht so breit in die Öffentlichkeit getragen und gilt teilweise als Tabu-Thema. Man weiß bis heute nicht, wie viele Athleten und Athletinnen tatsächlich betroffen sind. Die Prävalenzzahlen schwanken von 3 Prozent bis teilweise sogar über 20 Prozent, je nach Sportart und Untersuchungsinstrument.
Im Rahmen Ihrer Forschungen zur Entwicklung von Gewohnheiten und Routinen in der Verhaltensänderung haben Sie und Ihr Kollege Professor Thomas Heinen eine Online-Befragung zum Thema Sportbindung und Sportsucht durchgeführt. 500 Personen haben teilgenommen. Was wollten Sie genau wissen?
Die Untersuchung hat sich damit beschäftigt, inwieweit psycho-soziale Faktoren bei der Entwicklung einer möglichen Sportsucht eine Rolle spielen. Es ist schon nachgewiesen, dass Persönlichkeitsfaktoren eine Rolle spielen, beispielsweise sind ein weniger ausgeprägtes Selbstwertgefühl und/oder hohes Perfektionismusstreben Indikatoren, die eine Sportsucht begünstigen können.
Wir haben speziell nach Motiven zum Sporttreiben gefragt. Klassische Motive sind Leistungsstreben, Gesunderhaltung, Entspannung, Bewegungsfreude oder soziale Kontakte. Und Motive, die intrinsischer Natur sind, also aus dem eigenen Ansporn Sport zu treiben wie im Motiv Entspannung oder Bewegungsfreude, spielen ebenfalls bei der Entstehung von Sportsucht eine Rolle. Das bestätigen auch unsere Ergebnisse.
Wir haben aber auch typische physiologische Parameter erhoben: wie oft, wie häufig, wie lange wird Sport getrieben, da nur die Kombination aus psychologischen und physiologischen Daten wirklich Aufschluss gibt.
Was haben Sie aus den Antworten für Erkenntnisse gewonnen?
Zum einen etwas, was sich in die bisherige Forschung einreiht: Ausdauersportler und besonders Ausdauersportler mit hohem Trainingsumfang zeigen in unserem Messinstrument die höchsten Werte und gehören damit zur Risikogruppe für Sportsucht. Unser Messinstrument kann zudem zwischen drei Kategorien unterscheiden: die Gesunden, die Nicht-Abhängigen, die aber schon bestimmte Symptome zeigen und die Risikogruppe.
Diese zeigen sehr hohe Werte auf verschiedenen Skalen. Die mittlere Gruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass die Sportlerinnen und Sportler schon eine sehr hohe Bindung an Sport haben, aber noch nicht süchtig sind. Treiben Sie eigentlich Sport?
Ja, 30 km Laufen pro Woche.
Sehen Sie: Wenn Sie 30 km pro Woche laufen wollen, verteilt auf 4 oder 5 Tage, benötigen sie grundsätzlich schon eine sehr hohe Bindung zum Sport. Die Grenze zwischen süchtig zu sein und eine hohe Bindung zu haben, verläuft zum einen bei den Motiven zum Sporttreiben, zum anderen bei der Kontrolle über das Verhalten und insbesondere in der Erscheinung von Entzugssymptomen. Was machen Sie, wenn sie krank sind und zwei Wochen nicht laufen können?
Ich bin natürlich unzufrieden, aber dann ist es halt so. Wichtig ist, dass ich wieder gesund werde und wieder Laufen kann.
Und genau das ist der Unterschied zu Sportsüchtigen, die treiben trotzdem Sport, auch wenn sie krank sind. Ein Sportsüchtiger würde auch sagen, ich muss meine 8 km in 40 Minuten laufen und wenn ich das nicht schaffe, dann mache ich das den nächsten Tag zur Not auch mit Tabletten, um körperliche Defizite auszugleichen. Sie trainieren über den Schmerzpunkt und über ihre Grenzen hinaus. Sie gehen mit einer kleinen oder sogar mit einer schweren Erkältung auf die Laufstrecke und ärgern sich umso mehr darüber, dass sie nicht ihre gewohnte Leistung bringen. Sie können ihr Training nur sehr schwer reduzieren und trainieren auch bei Verletzungen.
Es gab schon Athleten mit offenen Füßen vom Laufen, die weitergelaufen sind. Es muss immer mehr sein und dadurch müssen sie auch immer mehr Zeit investieren. Sporttreiben führt in dieser Gruppe auch dazu, dass sie Konflikte mit anderen haben. Das Sporttreiben wird über alles andere gestellt und damit auch über die Kontakte zu anderen. Man findet sich in einer sogenannten In-Group wieder, bei Gleichgesinnten mit denen man sich nur noch über den Sport unterhält. Menschen, die sich nicht so sehr für das Sporttreiben interessieren, werden missachtet oder finden keine Berücksichtigung.
Frau Dr. Walter, wenn ich mir jetzt vorstelle, dass jemand sehr viel Zeit in den Sport investiert, dann muss es doch auch so sein, dass je weniger sozial jemand eingebunden ist, desto höher das Risiko ist, dass jemand sportsüchtig wird.
Nein, das kann man so pauschal nicht sagen. Sportsüchtige richten ihren Alltag sehr stark nach dem Sport aus. Um möglichst allen Dingen in ihrem Alltag gerecht zu werden, stehen sie eben noch eher auf, um ihre 10 Kilometer am Morgen und am Nachmittag zu laufen. Dabei bleibt aber nicht aus, dass man bestimmte soziale Kontakte reduziert oder den Urlaub sehr stark nach der sportlichen Aktivität oder nach Laufstrecken ausrichtet, oder eben Aktivurlaub machen will.
Aber sind dann nicht die Leistungssportler besonders betroffen?
In der Studie haben wir auch gefragt, wer früher mal Leistungssport betrieben hat oder wer zurzeit Leistungssport aktiv betreibt. Unsere Ergebnisse zeigen, dass Leistungssportler höhere Werte zeigen als andere. Das muss aber kein Anzeichen für Sportsucht sein, es zeigt nur, dass das Risiko erhöht ist. Aber das ist erklärbar durch die Bindung zum Sport. Studien zeigen, dass die sportliche Tätigkeit und damit auch das Risiko einer Sportsucht sinkt, wenn die Zeit des Leistungssports vorbei ist.
Aber das ist der Haken am Messinstrument: Wir erheben nur quantitative Daten und vor allem anonym. In der sportpsychologischen Beratung, in der ich auch tätig bin, muss man eigentlich bei bestimmten Werten zwingend noch mal hinterhergehen und ein Interview führen. Und da muss man schauen, wo sind die hohen Werte: beim Kontrollverlust? beim Rückzug aus sozialen Kontakten? Ich beispielsweise treibe täglich Sport, was eigentlich ein Hinweis wäre, aber bei mir fehlt das Zwanghafte.
Sind Sie ein sogenannter Streaker, der jeden Tag mindestens eine Meile laufen muss?
Nein, ich bin jemand, der läuft, wenn er auf Arbeit muss. Ich muss ja sowieso früh raus und nach Leipzig fahren, da kann ich mir auch die Sportsachen anziehen und auf dem Testfeld eine halbe Stunde laufen. Aber wenn ich von zu Hause arbeite, dann mache ich das nicht. Ich werde aber jetzt nicht unruhig deswegen. Das ist eben einer der Unterschiede zwischen denen mit hoher Bindung und den Sportsüchtigen.
Schließen sich Sportsucht und Erfolge aus?
Ein Motiv, nach dem wir gefragt haben, war das Leistungsstreben. Die Teilnehmer mussten bewerten, ob das für sie wichtig ist, sehr wichtig oder weniger wichtig beziehungsweise nicht wichtig. Unser Ergebnis zeigt, es schließt sich nicht aus. Aus der Beratung kenne ich Athleten, die ein sehr hohes Ziel erreichen wollten und erreicht haben und anschließend in ein Loch gefallen sind. Häufig kam dann die Frage: „Was mache ich jetzt, wo ist das nächste Ziel?“
Wo würde das Ganze für einen sportsüchtigen Athleten enden?
Die Menschen kommen, wenn der Leidensdruck unerträglich ist. Sie kommen aber erst zur Erkenntnis, wenn sie permanent erkrankt sind, das Bein immer wieder schmerzt und/oder sie kaum noch soziale Kontakte haben. Wenn man dann den Vergleich zu anderen Therapien sieht, wäre eine Reduktion des Sports angemessen. Das gesamte Streichen des Sports wäre kontraindiziert. Zur Reduktion könnte man auch andere Sportarten einführen, Yoga, Pilates, einfach andere Bewegungsübungen zum Ausgleich.
Man muss lernen, dass auch andere Hobbys und Aktivitäten in der Freizeit das Leben bereichern. Neben einer Verhaltenstherapie wäre aber auch eine Psychotherapie empfehlenswert, um zu erfragen, wie die Sportsucht entstanden ist.
Was könnten denn Gründe sein?
Das könnte eine Essstörung sein oder die Art und Weise mit einer schwierigen Situation umzugehen. Hier muss ganz deutlich zwischen einer primären und einer sekundären Sportsucht unterschieden werden. In unserer Studie haben wir auch vermutet, dass wenn man selbst zu dem Sport kommt, den man jetzt selbst intensiv betreibt, eher Anzeichen einer Sportsucht zeigt, als wenn man von einem anderen zu dem Sport gebracht wird. Das hat sich für unsere Erhebung nicht bestätigt. Auch nicht, dass Männer häufiger von Sportsucht betroffen sind als Frauen.
Wie sieht der Zusammenhang zwischen Essstörung und Sportsucht aus?
Sie erwähnten vorhin, dass Sie gestern viele Lebkuchen gegessen haben und daher heute auch deswegen Laufen gehen wollten. Eine suchtgefährdete Athletin, die primär Gewichtsreduktion als Ziel hat, wäre direkt nach dem Essen Laufen gegangen.
Meinen Sie auch, dass Elite-Athleten sportsüchtig sind?
Da müsste man sich die Sportarten anschauen. Bei einigen Sportarten ist es sehr wahrscheinlich, dass das Risiko einer Sportsucht vorliegt, auch weil das Regelwerk das mehr oder weniger vorgibt. Als Beispiel wären hier technisch-kompositorische Sportarten wie Rhythmische Sportgymnastik oder gewichtsbasierte Sportarten wie Judo, Ringen oder Skifliegen zu nennen. Aber das wäre dann wahrscheinlich eher eine sekundäre Sportsucht in Verbindung mit einer Essstörung.
Sind auch Akteure von Ballsportarten gefährdet?
Nein, diese zeigen nach unseren Ergebnissen nicht die hohen Werte. Da haben die Ausdauersportler die deutlich höheren Werte. Mannschaftssportarten werden besonders auch aus dem Motiv der sozialen Interaktion heraus betrieben. Da geht es im breitensportlichen Bereich mehr um den Treff mit Freunden.
Ich glaub‘, mich streift das Glück … Die Weihnachts-LZ ist da
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