Für FreikäuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausg. 62In den 216 städtisch geförderten Sozial-, Familien- und Jugendhilfevereinen Leipzigs brennt die Luft. Wie praktisch jedes Mal vor einer neuen Doppel-Haushaltsperiode geht es um die Förderung ihrer Arbeit in der Kinder- und Familienbetreuung in der wachsenden Messestadt. Und nicht zum ersten Mal geht so etwas wie Ohnmacht in der Vorweihnachtszeit um, spricht man mit Vertretern der geförderten Projekte über den Jahresstart 2019. Doch in diesem Jahr kommen Wut, unzählige Online-Petitionen und lautstarke Proteste bis hin zu Gewalt hinzu.
Der Frust sitzt Ende 2018 so tief, dass am Rande der Stadtratssitzung am 12. Dezember 2018 ein Mitarbeiter der Verwaltung von demonstrierenden Jugendlichen körperlich attackiert wird. Der Lärmpegel aus Trillerpfeifen und Megaphonen ist derart laut, dass mehrere spießrutenlaufende Stadträte sich im persönlichen Wohlergehen beeinträchtigt sehen. Noch in der folgenden Ratsversammlung herrscht Unverständnis für den Aufstand, auch für die aus Ohnmacht geborene Wut.
Die Kinder und Jugendlichen verstehen in diesem Jahr keinen Spaß mehr, es geht um ihre Offenen Treffs, wie den an der Helmholtzschule und sie verstehen nicht, was auch Erwachsene nur ganz langsam durchblicken. Das Wort Verwaltungsversagen macht die Runde, manch einer nennt den verantwortlichen Amtsleiter des Amtes für Jugend, Familie und Bildung, Dr. Nicolas Tsapos, wenig schmeichelhaft einen „Idioten“, auch ein Eingreifen von Sozialdezernenten Thomas Fabian fehle.
Während bei manchem Stadtrat auch Ende 2018 noch Achselzucken überwiegt, hat sich seit dem Frühjahr 2018 ein Problem aufgebaut, welches nun trotz mehrfacher Interventionen bei der Verwaltung den Sozialvereinen der Stadt schlaflose Nächte bereitet. Erst beschloss der Leipziger Stadtrat, die Fachstandards für die Betreuung von Jugendlichen und Familien anzuheben. Mehr und besser qualifizierte Mitarbeiter also oder besser „Vollzeitäquivalente“, was letztlich auch beschreibt, wie oft sich hier zwei Mitarbeiter eine Stelle teilen müssen.
Hinzu kamen steigende Tariflöhne im Jahr 2018 und nicht zuletzt wuchsen die Betreuungszahlen bei rasantem Kinderaufwuchs in Leipzig nahezu in allen Projekten an. Was teils die Betriebskostensteigerungen auf über drei Prozent trieb. Die Reaktion in Tsapos’ Amt: Die Vereine sollten für 2019/20 Anträge stellen, die all dies natürlich berücksichtigen, was die Vereine auch brav taten.
Um Anfang Dezember 2018 eine Quittung zu bekommen, mit der sie nicht gerechnet hatten. Eine über 30 Projekte umfassende Streichliste machte die Runde, alle weiteren erhalten Anfang 2019 drei Monate lang nur Abschläge. Auf dem (zu geringen) Förderniveau von 2018.
Mancher der 216 Vereine wird es wohl mal wieder schaffen …
Und sich irgendwie durchschaukeln. Man kennt das Prozedere nun seit Jahren, im Januar, Februar und März des jeweils neuen Haushaltes wird es dünn. Im Haushalt aus den beiden Vorjahren stehen keine Ausgabenreste mehr zur Verfügung und jeder soll nur so viel erhalten, wie er zugesagt bekam. Zudem existiert kein etwa beim Finanzdezernat angesiedelter „Notfalltopf“, welcher hier helfen könnte. Der 31. Dezember 2018 stellt so etwas wie die Trennlinie zwischen Ja und Nein dar.
Da die Vereine aufgrund der Förderungen angehalten sind, ihre Gelder zu planen und wie geplant auszugeben, gibt es bei ihnen auch keine „Rücklagen“. Ist kein honoriger Spender zur Hand, bleibt für so manchen nur der Gang zum Vermieter mit der Bitte, drei Monate die Miete auszusetzen – Nachzahlung dann im April. Oder es gibt Solidarität seitens der Angestellten und man hungert sich irgendwie gemeinsam durch, sofern das irgendwie geht, denn Abschläge sind oft bei 50 Prozent angesiedelt.
Der Hintergrund: auch später vielleicht noch aus der Förderung herausfallende Vereine werden noch drei Monate lang bezuschusst – Geld, was anschließend im Jahresverlauf im Gesamttopf fehlt.
Eine Zumutung für alle
Fragt man Oliver Reiner von der Villa Leipzig (allein in seinem Haus stehen alle drei Jugendhilfeprojekte auf der Streichliste), ist bereits der so organisierte Jahresübergang eine Zumutung für Menschen, die in Sachen Prävention und Jugendarbeit an vorderster Front stehen. „Es ist eine Zumutung für alle, die in der freien Kinder-, Jugend- und Familienhilfe in dieser Stadt tätig sind. Jedes Mal, wenn der neue Haushalt kommt, das gleiche Spiel“, so Reiner gegenüber der LZ. Glauben kann er die Streichungen wie viele andere eh nicht, es käme einem Kahlschlag gleich.
Denn auf der Liste befindet sich seine Einrichtung in derart prominenter Gesellschaft, dass es kaum möglich scheint, wie die Stadtverwaltung dieses Handeln verantworten könnte. Darunter befinden sich neben anderen so namhafte Adressen wie das Theatrium in Grünau, der Offene Jugendtreff im Geyserhaus, der MachtLos e.V. oder das Haus Steinstraße. Eher scheint es, als ob man Projekte benannt hätte, die so etabliert sind, dass keine Gefahr droht.
Ein politisches Spielchen des Amtes für Jugend, Familie und Bildung, welches – statt im Sommer oder Herbst von sich aus mehr Gelder bei den Haushaltsverhandlungen ins Gespräch zu bringen – diesen Druck so an die Stadträte und den Jugendhilfeausschuss weiterreicht.
Die hauptsächliche Wirkung dieser Liste ist jedoch: Solange kein neuer Haushalt für 2019/20 beschlossen ist, geistert sie herum und verbreitet Angst und Schrecken unter den über 200 Beschäftigten, den Familien und Kindern, die die Angebote wahrnehmen. Selbst Vereine, die unabdingbar sind und nicht infrage stehen, wie die Mobile Jugendarbeit in Leipzig Grünau müssen sich mit dem Thema befassen – auch wenn es aus Solidarität mit anderen geschieht. Streetwork-Projektleiterin Katrin Zschuckelt gegenüber der LZ: Besonders bedrückend sei die Sache mit dem Theatrium in Grünau. Man befürchtet die Schließung des dringend benötigten Kinder- und Jugendtheaters.
Den Rest der Sorgen erledigen die zu niedrigen Abschlagszahlungen; manche Vereine fürchten um ihre Schließung, obwohl sie dafür gar nicht vorgesehen sind. Ein Kommunikationsversagen seitens der Verwaltung, was natürlich den Satz von Sozialbürgermeister Thomas Fabian (SPD) Anfang 2018 gegenüber der LVZ konterkariert: Er gehe davon aus, „dass es eine proaktive Kommunikation mit den Freien Trägern als Grundlage einer guten Zusammenarbeit geben wird.“ Gemeint war da insbesondere sein Amtsleiter Nicolas Tsapos.
Sonderfälle? Egal, es gibt doch Abschläge …
Wie ebendiese Kommunikation nicht funktioniert, wird wohl besonders deutlich im Fall des Tüpfelhausen e.V. Der mehrfach preisgekrönte Verein (u. a. der vom DFB verliehene Julius Hirsch-Preis und „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ des Landes Sachsen) soll ab 2019 für seine tägliche Betreuungsarbeit von bis zu 200 Kindern in Leipzig Leutzsch und Lindenau ausschließlich von der Stadt Leipzig gefördert werden. Dafür entfallen die bislang gewährten Förderungen des Landes Sachsen. Was anfangs nach kommunaler Wertschätzung aufgrund wichtiger Arbeit im Viertel aussah, entwickelte sich ab Anfang November 2018 zum Drama und zur Kostenfalle.
Brief um Brief schrieb Vereinsvorsitzender Christoph Schumacher und wies auf das Problem hin. Allein in den ersten drei Monaten des Jahres würde weit mehr Geld fehlen, als die Stadtverwaltung glaubt, auf 17.500 Euro beziffert Schumacher das Finanzvolumen, was er dann nicht mehr vom Freistaat, aber auch nicht von der Stadt Leipzig bekommt.
Reaktion 1: Keine Antwort aus dem Dezernat. Reaktion 2: Wieso, es gibt doch Abschläge? Wenn diese dann unter 1/3 der benötigten Gelder für Angestellte (unter erhöhten Anforderungen laut Stadtratsbeschluss) und somit weit entfernt von betreuten Bastelstunden und Hausaufgabenhilfen für Kinder liegen, werden die ersten drei Monate des Jahres zu einer Frage: melden wir uns jetzt alle bei der ARGE oder können wir das überleben?
Was wird sich ab 01.01.2019 in Leipzigs Kinder- und Jugendhilfevereinen abspielen?
Rüdiger Ulrich (Die Linke) ist Ausschussvorsitzender des seitens des Stadtrates für diesen Bereich verantwortlichen Jugendhilfeausschusses und hat auf LZ-Nachfrage aus seiner Sicht Entwarnendes parat. So gäbe es einen Antrag seitens Linksfraktion, Grünen und SPD, dass aufgrund der bekannten Umstände bei den steigenden Kosten 2019 im Bereich Kinder- und Jugendhilfe 3,0 Millionen und ab 2020 3,5 Millionen Euro mehr in den Haushalt eingestellt werden sollen.
Angesichts einer realistischen Deckungslücke von rund 4 Millionen Euro schon 2019 nicht genug, aber wohl existenzsichernd. Angesichts eines von 2018 auf 2019 gewachsenen Gesamthaushaltes von 1,4 auf 2 Milliarden fast eine Marginalie.
Dieser Antrag wird im erweiterten Finanzausschuss zur Haushaltsplanung 2019/20 am 12. Januar 2019 neben anderen besprochen und gilt laut LZ-Informationen auch in der CDU-Fraktion als kaum noch verhandelbar. Hier wächst der Wille, angesichts der Umstände den Mehraufwendungen auf dann 14,636 Millionen Euro zuzustimmen. Stadtrat Karsten Albrecht (CDU) sprach im Stadtrat am 12.12.2018 bereits von einem Fehler des Amtes für Jugend, Familie und Bildung, Stadtrat Michael Weickert signalisierte ebenfalls bereits Zustimmung.
Am 30. Januar 2019 will dann der Stadtrat Leipzig den Doppelhaushalt 2019/20 verabschieden. Und da gibt es diesen Satz vom Jugendhilfeausschussvorsitzenden Rüdiger Ulrich (Die Linke) „Ich werde alles tun, damit die Streichliste verschwindet!“
Was bleibt, ist die Frage und eine Feststellung. Die Frage lautet, warum es die Stadträte im Zusammenspiel mit der Verwaltung eigentlich nicht schaffen, ihren Doppelhaushalt pünktlich vor Jahresende zu beschließen. Die Feststellung: Für Menschen, die sich in der präventiven Kinder-, Jugend- und Familienhilfe engagieren, bedeutet der jetzige Ablauf vor allem eines: Beschissene Weihnachten.
Die Zahlen
Alle Angaben Stand 11. Oktober 2018, Quelle Stadt Leipzig.
Vereins-Förderungen gesamt im Bereich Kinder- und Jugendarbeit 2018
11.635.555,39 Euro (Beantragte Mittel für 2018: 14.350.966,51 Euro)
Vereinsanträge nach den neuen Standards für das Jahr 2019
16.950.924,71 Euro (Vereinsanträge für das Jahr 2020 17.806.219,60 Euro)
Unterschied zwischen 2018 und 2019
+ 5.315.369,32 Euro
Mehrausgaben laut Antrag der Fraktionen von SPD, Linke, Grüne für 2019: 3,0 Millionen Euro auf dann 14.635.555,39 Euro. Im Jahr 2020 3,5 Millionen Euro auf dann 15.135.555,39 Euro.
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