Gestern Abend haben sich in Chemnitz mehr als 1.000 Menschen eingefunden, die für Demokratie und gegen Menschenfeindlichkeit auf die Straße gegangen sind. Es waren keine linken Gruppen, wie zum Teil berichtet wird. Für die Demokratie auf die Straße zu gehen ist nicht links, sondern eine Selbstverständlichkeit. Das Gegenteil von rechts ist nicht links, sondern nicht rechts. Diese wichtige Einordnung verschwimmt heute in einigen Medien. Es entsteht der Eindruck, dass rechte und linke Gruppen auf der Straße waren. Das ist falsch.

Dieser Eindruck verzerrt die Wahrnehmung, da der Eindruck entsteht, dass der Extremismustheorie folgend, die heute dankbar von einigen CDU Mandatsträgern reproduziert wird, es ein Problem an den Rändern der Gesellschaft gäbe. Dieser Eindruck verschärft die Problemlage, da es verdeckt, wie weit Einstellungsmuster inzwischen in die Mitte der Gesellschaft ausgreifen.

Die Rechten

Wie viele Menschen sich letztlich der Demonstration von Pro Chemnitz angeschlossen haben lässt sich nicht sagen. Es dürften einige Tausend gewesen sein. Darunter etliche Hooligangruppen wie „Faust des Ostens“ aus Dresden, „Inferno“ aus Cottbus und die „NS Boys“ aus Chemnitz. Zu den hunderten gewaltbereiten Hooligans kommen organisierte Neonazis wie zum Beispiel vom dritten Weg, die am einheitlichen Auftreten und Schildern gut zu erkennen sind, sowie Identitäre.

Auch etliche Bürger sind dabei, die „nicht rechts sein wollen“, aber sich offenbar nicht anders zu helfen wissen als mit organisierten Neonazis zusammen auf die Straße zu gehen.

Dass Ausgangspunkt der Tod eines Menschen war, der selber gegen Nazis war, verschwimmt. Es geht nicht um den Tod eines Menschen, es geht darum, dass ein Ventil da ist, um den ganzen aufgestauten Frust herauszulassen. Die Stimmung ist von Anfang an aufgeladen. Einige Teilnehmer sind vermummt. Mehrfach werden Hitlergrüße gezeigt, ohne dass dies Folgen hat.

Gegen 19 Uhr kommt es zu einem ersten Durchbruchsversuch der Rechten. Auf die gegenüberliegende Gegendemonstration fliegen dutzende Flaschen und Steine sowie Feuerwerkskörper. Die Polizei hat Müh und Not, die Angreifer in Schach zu halten. Einzelne Personen werden verletzt. In der Nacht wird die Lage völlig unübersichtlich. Überall durch das Stadtgebiet ziehen Rechte und die Bereitschaft Andersdenkende anzugreifen ist hoch.

Die Rechten feiern das Geschehen heute als Triumph. Und es ist ein fatales Zeichen, dass angesichts der massiven Gewaltbereitschaft der Rechten sich der Staat beugen muss.

Die Polizei

Die Polizei ist in Chemnitz nur mit wenigen Hundertschaften und zwei Wasserwerfern vor Ort. Eine völlige Fehleinschätzung der Situation. Am Abend räumt der Pressesprecher der Polizei ein, dass man nicht mit so vielen Menschen gerechnet habe. Seit Sonntagabend, der ersten Zusammenrottung, rasten Aufrufe nach Chemnitz zu kommen durchs Netz. Beobachter warnten davor, dass aufgrund der massiven Mobilisierung, mit mehreren tausend Rechten und Hooligans zu rechnen sei. Wie das Innenministerium und die Polizeiführung daher zur Schlussfolgerung kommen, dass man nur wenige hundert Personen erwartet, bleibt schleierhaft.

Aufgrund der Kräftesituation vor Ort muss sich die Polizei auf ein rein defensives Trennungskonzept beschränken und versuchen, die Lager auseinanderzuhalten. Nach den massiven Übergriffen hätte die rechte Demo nicht loslaufen dürfen. Allein es fehlt der Polizei an Kräften, um eine Auflösung durchzusetzen oder Straftaten nachzugehen. So können vermummte Hooligans sich frei bewegen. Dies wird insbesondere in der Nacht deutlich, als rechte Gruppen immer wieder Journalisten und Gegendemonstranten angreifen und die Lage völlig unübersichtlich ist.

Die eingesetzten Beamten werden von ihrer Führung und der Politik verheizt. Es dürften maximal 500 Beamte sein, die vor Ort sind. Viel zu wenig. Die Eskalation ist auch deswegen eine Eskalation mit Ansage. Vorhersehbar, erwartbar und durch nichts zu rechtfertigen.

Die Politik

Während der Sprecher der Bundesregierung klare Worte zu Chemnitz findet schweigt die sächsische Landesregierung und der Ministerpräsident findet gleich gar keine Sprache. Heute Morgen äußert sich der Generalsekretär der sächsischen CDU und meint unter völliger Verkehrung der Wirklichkeit, dass die Polizei vorbereitet war und die Lage unter Kontrolle hatte. Diese Worte sind ein Hohn und diese Art des Realitätsverlustes ist nicht zu rechtfertigen.

Aber sie zeigt auch das Problem. Immer wieder Relativierungen von rechter Gewalt, das abstellen von pauschal auf Extremismus und eine nicht vorhandene Fehlerkultur sind Gründe, wie es in Sachsen dazu kommen konnte.

Die Pressekonferenz vom 28. August 2018 mit Ministerpräsident Michael Kretzschmer (CDU), Innenminister Roland Wöller (CDU) und Sachsens Landespolizeipräsident Jürgen Georgie. Livestream von Phoenix auf Facebook

Es fehlt eine klare Haltung. Eine klare Zurückweisung von Menschenfeindlichkeit und die Verfolgung von rechten Straftaten.

Das Lavieren der sächsischen CDU, der durch das Auftreten der AfD fortschreitende Rechtsruck der Gesellschaft, verschärfen die Problemlage und machen aus Sachsen einen failed state. Wenn Pressevertreter nur noch mit eigenen Sicherheitskräften vor Ort sind und die Berichterstattung in der Nacht eingestellt wird, Menschen mit Migrationshintergrund geraten wird, die Innenstadt nicht mehr zu betreten und rechte marodierende Horden sich frei bewegen können, ist dieser Staat gescheitert.

All das ist nicht zu rechtfertigen. Schon gar nicht durch vorangegangene Gewalt.

Wie es weitergeht

Heute haben Rechte dazu aufgerufen vor dem Landtag in Dresden aufzulaufen. Für Donnerstag liegen neue Anmeldungen für Chemnitz vor.

Das größte Problem ist, dass das Vertrauen in den Rechtsstaat zum Teil irreparabel geschädigt ist. Die Rechten erleben, dass sich der Staat vor ihnen zurückzieht und bei massiver Gewalt nicht gegenhalten kann. Es ist der Eindruck der Selbstermächtigung gegenüber einem Staat. Viele Menschen, die für die Demokratie in Sachsen stehen, werden ebenfalls ihr Vertrauen verloren haben. Ein Staat, der Recht und Gesetz nicht durchsetzt, der Hetzjagden am hellichten Tag nicht stoppen kann, ist kein Garant für die Sicherheit.

Die Folge davon könnte eine weitere Zunahme der Gewalt sein. Wenn Menschen nicht mehr glauben, dass der Staat sie schützt, werden sie sich selber schützen.

All das ist Sachsen im Jahr 2018. Es ist beängstigend und beschämend. Auch wenn es gerade schwerfällt: Schreibt Sachsen nicht ab.

Jetzt muss sich jede/r Mensch langsam entscheiden, auf welcher Seite man stehen will. Es geht um die Grundfrage, ob eine solidarische Gesellschaft, eine liberale Demokratie in Sachsen noch eine Zukunft hat. Und dafür lohnt es sich zu kämpfen und zwar egal in welchen Farben und mit welcher Überzeugung. Es geht um die Verteidigung der freiheitlichen Demokratie.

Neonaziaufmarsch in Chemnitz: Nicht nur die überforderte Polizei erzählt von den fatalen Folgen neoliberaler Politik in Sachsen und anderswo

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