Dass die Menschheit, so im GroรŸen und Ganzen betrachtet, ziemlich kaputt ist, kann man eigentlich nicht leugnen. Sie zerstรถrt gerade einen einmalig schรถnen Planeten mit all seinen unersetzlichen Ressourcen. Und die Lรถsungsansรคtze sind oft genug noch rรผcksichtsloser, ziemlich katastrophal. Das kรถnnte mit den narzisstischen Muttersรถhnen zusammenhรคngen, die รผberall das Sagen haben, vermutet Christoph-Maria Liegener.

Eigentlich ist der 1954 Geborene Physiker, lebt aber im vorgezogenen Ruhestand und verรถffentlicht jetzt allerlei belletristische Texte. So auch diesen Versuch zu verstehen, was in der jรผngeren Menschheitsgeschichte eigentlich falsch gelaufen ist. Und was sich mรถglicherweise gerade รคndert. Er macht das einmal etwas anders als die Historiker und Politikwissenschaftler, wenn sie sich mit der Menschheit als Akteur der Geschichte beschรคftigen โ€“ was eh schon Wenige machen. Denn man redet zwar gern von โ€žder Menschheitโ€œ, als wรคre das ein handelndes Wesen โ€“ kommt dann aber immer wieder nur ins Kleinklein der Staatenlenker.

Ist die Menschheit aber ein Wesen, das man sich quasi als ein groรŸes, handelndes Ganzes vorstellen kann? Hat sie eine Psyche? Kann man sie sich als ein Wesen vorstellen, das bestimmte Denk- und Verhaltensweisen zeigt?

Irgendwie schon. Ganze SF-Serien leben davon. Aber auch unsere groรŸen Geschichtsmythen. Einer davon ist ja die Bibel mit all ihren oft genug ziemlich rabiaten Geschichten. Eine dieser sehr symbolhaften Geschichten ist die Esau-Geschichte, die Liegener als zentrales Beispiel nimmt, um die Handlungsweise von Muttersรถhnen in der menschlichen Geschichte sichtbar zu machen. Esau ist der Erstgeborene, der eigentliche Vatersohn, der das Erbe des Vaters รผbernehmen wird, aber eben auch gelernt hat, den Vater zu respektieren und sich ihm unterzuordnen. Sein Bruder Jakob aber ist der typische Muttersohn, aufgezogen von einer Mutter, die ihren Ehrgeiz auf den Sohn รผbertragen hat und ihn damit dazu bringt, den รคlteren Bruder aus der Gunst des Vaters zu stoรŸen. Der Muttersohn ist der Agilere und Rรผcksichtslosere, der sich zurรผckgesetzt fรผhlt und alles dafรผr tut, die gefรผhlte Rรผcksetzung mit besonderer Rรผcksichtslosigkeit zu beenden. Jede Geschichte von Macht und Karriere ist geprรคgt davon. Unsere Welt wird von Muttersรถhnen dominiert.

Das Wort Narzisst fรคllt รผbrigens nicht in Liegeners Buch. Obwohl er dem Auftrumpfen der Muttersรถhne durchaus krankhaftes Potenzial attestiert. Ihr Imponiergehabe, ihre Unfรคhigkeit zum Dialog, ihre Radikalitรคt beim Umsetzen schnell gefasster Entschlรผsse sind ja sichtlich gerade dabei, die Welt zu zerstรถren. Andererseits waren es auch radikale Muttersรถhne, die den Fortschritt der Menschheit vorangeprรผgelt haben. Ihr Durchsetzungswille ist nicht unbedingt nur etwas Negatives. Aber etwas fehlt da. Das ausgleichende Moment, das Liegener รผbrigens nicht bei Esau sucht, sondern bei den Frauen. Denn wenn das narzisstische Machtgebalze typisch mรคnnlich ist, muss der Ausgleich eigentlich bei den Frauen liegen. Die Liegener nicht unbedingt glorifiziert. Frauen sind nicht unbedingt die besseren Menschen. Aber seine klugen und detailreichen Ausflรผge in die Vergleiche von Mรคnner- und Frauenwelten zeigen, dass das Weibliche durchaus ein stabilisierendes und ausgleichendes Element ist. Und auch immer war.

Denn allein dadurch, dass Frauen die Kinder gebรคren und durch die nรผchterne Realitรคt erfahren, dass sie sich meist auch fast allein um den Nachwuchs kรผmmern mรผssen, sind sie auch heute noch gezwungen, andere รœberlebensstrategien zu entwickeln als Mรคnner. Sie handeln prinzipiell aus einer (multiplen) Position der Schwรคche heraus, neigen also auch deutlich weniger zu genialem รœberschwang und mรคnnlicher Selbstรผberschรคtzung, auch nicht zu reiรŸerischen Heldentaten, die ein Problem mit Hauruck lรถsen sollen, sondern zu vielen kleinen Schritten. Sie verรคndern die Dinge auf ihre Weise, auch die Mรคnner. Wovon ja Mรคnner, die zu richtigen Ehemรคnnern erzogen werden, ein Lied singen kรถnnen.

Liegener macht ziemlich viele Ausflรผge in unterschiedlichste Forschungsgebiete. Das wirkt wie zusammengebastelt โ€“ ist aber sehr stimmig, weil es Frauen und Mรคnner eben nicht so eindimensional zeigt, wie sie in den meistem Forschungen erscheinen. Motto: Sie sind eben so.

Sind sie eben nicht.

Selbst das Interagieren von Mรคnnern und Frauen ist ein fortwรคhrender Prozess. Dem beide รผbrigens nicht nur ausgesetzt sind. Sie haben beide was davon โ€“ und bestenfalls lernen sie auch was dabei. Und da wird das Buch tatsรคchlich optimistisch, weil es ja faktisch unรผbersehbar ist, dass die Menschheit was gelernt hat von weiblichen Lรถsungsstrategien. Man vergisst es ja so gern. Aber die moderne Demokratie ist eindeutig eine weibliche Form der Problemlรถsung โ€“ genauso wie internationale Organisationen wie UNO und die EU. An die Stelle rabiater Kriege zwischen narzisstischen Nationen tritt das (weibliche) Palaver. Das so nerven kann, wenn man keine Geduld hat und die Dinge sofort gelรถst haben will.

Der gegenwรคrtige Populismus ist nicht grundlos extrem von Muttersรถhnen dominiert und gรคrt von einem frustrierten Verlangen nach der sofortigen Lรถsung aller Probleme โ€“ mรถglichst mit einem Schwertstreich.

Natรผrlich hat die nimmerruhende Kommunikation von Frauen soziologisch immer einen Sinn gemacht. So haben sie Netzwerke geknรผpft, die ihnen Hilfe und Rรผckhalt gegeben haben im Alltag und in Notsituationen. Denn wer um seine eigene Schwรคche und Gefรคhrdung weiรŸ, der sorgt rechtzeitig dafรผr, dass im Notfall Hilfe erreichbar ist. Der schmiedet quasi durch permanente Gesprรคche und Kontakte tragfรคhige Allianzen โ€“ und sammelt gleichzeitig durch die vielen Gesprรคche immerfort wichtige kleine Informationen รผber die eigene Umwelt. Frauen sind die geborenen Netzwerkerinnen โ€“ und zwar einfach aus schierer Notwendigkeit.

Was auch Nachteile bringt. Was Liegener mit der โ€žStutenbissigkeitโ€œ benennt, eigentlich negativ konnotiert. Denn in weiblichen Kollektiven wirkt augenscheinlich immer ein Korrekturmechanismus, der die Mitglieder zu gegenseitiger Kontrolle animiert und damit eine Art Gleichheit herstellt. Was dann Frauenkarrieren oft genug verhindert. Dafรผr sorgen dann schon Geschlechtsgenossinnen.

Aber auch das muss kein Fehler sein, meint Liegner so beim Nachdenken. Denn so, wie es jetzt in der Welt ist, kann es nicht weitergehen โ€“ nicht mit dem immerwรคhrenden Drohen, dieser blinden Hatz nach Macht, Einfluss und immer mehr Besitz. Dass wir so besessen sind vom Wachstumswahn, hat ja mit der Gier der Muttersรถhne zu tun, die die fehlende eigene Stabilitรคt mit Pomp, Macht, Glanz und jeder Menge รผberflรผssiger Besitztรผmer auszugleichen versuchen. Der Muttersohn ist ewig unzufrieden, denn er hat auch nie gelernt, sich zu bescheiden oder gar den Moment zu genieรŸen, wenn alles gut ist. Er giert nach immer mehr. Und rammelt auch dann noch los, wenn er dabei mehr zerstรถrt als gewinnt.

Seine Besessenheit vom Machen und Sichgeltungverschaffen ist so groรŸ, dass er keine Grenzen kennt und keine akzeptiert. Er hรคlt es nicht aus, wenn Prozesse sich verlangsamen, weil sich die Gruppenmitglieder erst einmal grรผndlich รผber die mรถglichen Folgen verstรคndigen wollen. Er akzeptiert auch keine Verรคnderung in kleinen Schritten.

Aber gerade das habe die Menschheit in den letzten ungefรคhr drei Jahrhunderten gelernt, stellt Liegener fest: weibliche Lรถsungsstrategien anzuwenden, um die verheerende Politik der Muttersรถhne einzudรคmmen. Die Menschheit wird nicht weiblicher, weil auf einmal die Frauen die Macht รผbernehmen (obwohl sie das an zuweilen erstaunlichen Stellen tun), sondern weil die Menschheit lernt, den verhรคngnisvollen Absolutismus der Muttersรถhne, der unsere Lebensgrundlagen zu zerstรถren droht, mit Strategien der Schwรคche zu begegnen: Schwรคchen anzuerkennen und die weiblichen Lรถsungsmuster als bessere รœberlebensstrategie zu nutzen. Wozu รผbrigens auch Dinge wie Toleranz, Sozialsysteme, Meinungsfreiheit, Solidaritรคt und Kooperation gehรถren.

Bestimmt wรผrden einige Fachwissenschaftler aufschreien, wenn sie lesen, was Liegener hier alles zusammengedacht hat. Aber seine Beobachtungen treffen zu. Und er hat Recht damit, wenn er sagt, dass die Zukunft der Menschheit von weiblichen Lรถsungsstrategien geprรคgt sein muss. Sonst รผberleben wir einfach nicht.

Und da der Leidensdruck รผberall wรคchst, wird es zu einer psychischen ร„nderung des menschlichen Handelns zwangslรคufig kommen mรผssen. Von โ€žTransgenderisierungโ€œ spricht Liegener gar. Was bestimmt die Schlachtbolzen aus dem konservativen Lager gleich wieder zutiefst erschreckt. Aber es stimmt in gewisser Weise: In den letzten Jahrtausenden war die menschliche Geschichte von rabiaten Muttersรถhnen dominiert. Sie haben die Entwicklung vorangeprรผgelt โ€“ sie haben dabei aber eben auch โ€žkeine Rรผcksicht auf Verlusteโ€œ genommen.

So etwas kann nur ein kurzer Abschnitt in der Geschichte einer Spezies sein, die gern noch ein paar Jahrtausende weiterexistieren mรถchte. Diese Spezies ist also verdammt dazu, weibliche Strategien der Problemlรถsung nicht nur zu lernen, sondern zu den dominanten Lรถsungsstrategien zu machen. Die Welt muss weiblicher werden. Die Mรคnner mรผssen es in gewisser Weise auch โ€“ nicht indem sie aufhรถren, Mรคnner zu sein, sondern indem sie die scheinbar nur aus Schwรคche geborenen Lรถsungsstrategien der Frauen fรผr sich selbst als Bereicherung und Entlastung entdecken. Denn wer einem ignoranten Vater nicht immerfort mit durchgeknallten Heldentaten imponieren muss, der braucht das ganze Macho-Gehabe nicht mehr. Der hat auch keine Angst mehr vor dem Versagen oder dass er die ganzen Scharmรผtzel um die Macht verlieren kรถnnte, dieses permanente Alles-oder-nichts.

Denn wenn nicht der โ€žรผberwรคltigende Siegโ€œ das Ziel ist, sondern die gemeinsame Lรถsung von Problemen, dann รคndert sich der Blick auf die Welt. Dann lernt man wieder die kleinen Freuden und Erfolge zu genieรŸen und wird nicht in Katzenjammer verfallen, wenn mal die andere Partei die Nase vorn hat. Dann steht das gemeinsam zu Erreichende im Fokus, nicht das โ€žknallharteโ€œ Durchsetzen der eigenen Interessen. Wer darรผber nachdenkt, bekommt ein ganz anders Bild von unseren heutigen Mรถglichkeiten.

Ein Buch also als Denkanregung. Fรผr Frauen und Mรคnner. Und vor allem fรผr all die Leute, die unter ihren abwesenden und unduldsamen Vรคtern und Vaterfiguren leiden.

Und unter diesen emotionslosen Zeitgenossen leidet ja unsere Welt.

Hรถchste Zeit, ihnen die Glorifizierung zu entziehen und ihnen die Macht zu nehmen รผber unser aller Leben und Zukunft.

Christoph-Maria Liegener Warum die Welt weiblich wird, Einbuch Buch- und Literaturverlag, Leipzig 2017, 13,90 Euro.

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โ€ฆes stachelt mich an, diesen Handschuh in den Ring zu werfen โ€ฆ.;-)))
Friedrich Nietzsche: Die Zerstรถrung der Humanitรคt durch โ€šMutterliebeโ€˜

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