Leipzigs Spätis leiden unter Gentrifizierung, Rechtsunsicherheit und mangelndem politischen Willen, ihre prekäre Lage zu verbessern. Kontrollen durch das Ordnungsamt wie 2016, 2019 und nun erneut im Sommer 2022 sind nur Symptome eines größeren Problems. Was dazu führt, dass sich die Leipziger Spätverkäufer aller drei Jahre in teils willkürlichen Regelungen wiederfinden.
Wie selbstverständlich Spätis zu ostdeutschen Großstädten gehören, merkt man erst, wenn man sie verlässt. In Westdeutschland gibt es zwar bisweilen Büdchen oder Trinkhallen, aber in den meisten alten Bundesländern muss man abends und sonntags bei Leere im Kühlschrank zur Tankstelle. Unvorstellbar für die meisten Leipziger Stadtratsfraktionen.
Auf LZ-Anfrage, wie sie die Bedeutung von Spätis für Leipzig einschätzten, herrscht von CDU bis Linksfraktion auf den ersten Blick scheinbar große Einigkeit.
„Spätis gehören einfach zum Stadtbild und zur Lebenskultur in Leipzig“, so etwa Andreas Geisler, Bäckermeister, Stadtrat und ordnungspolitischer Sprecher der SPD. Die CDU-Fraktion betont die „Tradition“ der Geschäfte, die Linke die „beleben[de]“ Wirkung auf die Quartiere und die Freibeuterfraktion (Zusammenschluss aus FDP und Piraten) begründet ihr Wohlwollen auf Marktmechanismen: Eine Nachfrage würde ja offensichtlich bestehen, so Shehzad Shaikh, Referent der Freibeuterfraktion.
Die Situation von Spätis bleibt aber trotz Rückhalt in der kommunalen Politik, Wirtschaftsinteressenvertretung und Bevölkerung prekär.
Acht Cola, acht Bier und einmal E-Bike laden
Das Sächsische Ladenöffnungsgesetz regelt die Öffnungszeiten von allen warenverkaufenden Geschäften, außer denen, die andernorts ein eigenes Gesetz haben; so zum Beispiel Gastronomien oder Sport- und Kulturveranstaltungen. Wer vom Ladenöffnungsgesetz betroffen ist, darf montags bis sonnabends von 6–22 Uhr öffnen. Tankstellen und Bahnhofsgeschäfte bilden eine Ausnahme, sie dürfen länger verkaufen. Und Spätis fallen nun unter diese Öffnungszeiten, oder nicht?
Manchmal.
Oft ist es aber selbst für juristisch informierte Spätibetreiber/-innen nicht klar, was sie tun sollen, um in den für sie letztlich existenziellen Genuss längerer Öffnungszeiten über 22 Uhr hinaus zu kommen. Das sogenannte Ladenöffnungsgesetz des Freistaates Sachsen kennt nämlich keine „Spätverkäufer“. Während alle anderen Ausnahmen bis hin zu Notdiensten der Apotheken und verkaufsoffene Sonntage akribisch aufgelistet und beschrieben sind, fehlt das Spätverkaufsangebot wortwörtlich im Gesetz.
Spätis sind vor allem für den Verkauf von Getränken, Chips und Tabak bekannt. Begrenzt sich jedoch das Angebot darauf, müssten sie um 22 Uhr schließen. Aber viele Spätis bieten außer Waren des täglichen Bedarfs auch gastronomische Dienste an. Der Späti „Rusty“ bietet beispielsweise Hot Dogs und Espresso feil. Andere, wie das „Lazy Dog“ haben eine Schanklizenz erworben und zapfen ihren Gästen frisches Bier.
Der Grund für diese Specials ist offensichtlich: Gastronomien dürfen in Sachsen bis 5 Uhr morgens und auch an Sonntagen öffnen. Doch fast alle der LZ bekannten Spätis verkaufen auch Backwaren, teilweise belegt. Und „Onkel Tom’s Hütte“ bietet sogar an, das eigene E-Bike dort zu laden und erfüllt so eine Tankstellenleistung.
Spätis sind also nicht einfach Einkaufsmärkte, wie Rewe oder Kaufland, andererseits auch keine Reisebedarfsanbieter, wie bestimmte Bahnhofs- und Flughafengeschäfte und echte Restaurants sind sie ebenfalls kaum. Es sind Chimären, mythologische Mischwesen aus Löwenkopf, Ziegenleib und einem Drachenhinterteil. Intoleranz gegenüber einer solchen Ambiguität sei ein Zeichen von autoritären Persönlichkeiten, schrieb schon Adorno.
Das Leipziger Ordnungsamt versucht folglich auch bei den diesjährigen verstärkten Kontrollen erneut die Mischwesen in ein sächsisches Gesetzeskostüm zu zwängen. Nicht wirklich aufgelöst wird die Mehrschichtigkeit der Leipziger Spätis dabei, indem ein vermeintlich dominanter Anteil an Gastronomie, Flaschenverkauf oder sonstigem Angebot gesucht wird, anstatt Spätis als das intersektionales Gebilde anzuerkennen, das sie sind.
Die dann erfolgende Subsumtion bestimmt die Öffnungszeiten und das Frustlevel bei den Anbieter/-innen. Denn vor Ort entscheiden Einzelpersonen in Uniform nach persönlichem Ermessen darüber, wer wann öffnen darf. Ausschlaggebend sei etwa, „dass der gastronomische Aspekt tatsächlich bedient wird und nicht nur mittels einer Scheingastronomie die Bestimmungen des SächsLadÖffG umgangen werden sollen“, so das Ordnungsamt auf LZ-Nachfrage zu den Kontroll-Kriterien.
Was eine Schein-, bzw. eine echte Gastronomie ausmache, wurde nicht ausgeführt, die Antwort, nach welchen Kriterien wie beispielsweise Anteil am Umsatz, offensichtliche Warenmenge oder gar Verarbeitungsgrad von Lebensmitteln und Getränken sucht auch die LZ vergebens.
Rechtssicherheit sieht anders aus.
Was in der Praxis zu einigen weiteren Wirrungen führt. Denn bisweilen gibt es Absprachen zwischen Ordnungsamt und Spätis. Bei Timm Göpfert („Schwarzmarkt“) verschwinden nach 22 Uhr und sonntags Waren des täglichen Bedarfs hinter Rollos und Holzplaketten. Er verkauft dann Hot Dogs, Kaffee und Getränke zum Vor-Ort-Verzehr. Bei „Onkel Tom’s Hütte“ werden sonntags und nach 22 Uhr nur noch reiseproviantübliche Mengen verkauft, die Öffnungszeit liegt also bei 1 Uhr.
Ob jedoch dieser Späti damit zur „Verkaufsstelle auf Verkehrsflughäfen, Verkehrslandeplätzen und Personenbahnhöfen des Schienenverkehrs“ mutiert ist? Nun, die S-Bahnstation MDR ist immerhin nicht weit entfernt, kann aber kaum der Grund sein.
Alles nicht illegal, hier und da auch eine Lösung für einzelne Spätverkäufer/-innen, aber formell rechtssicher sind all diese Absprachen mit den Ordnungsamtskontrolleuren nicht. Dabei legen es die in den Leipziger Vierteln beliebten Anlaufpunkte durchaus nicht darauf an, aller Jubeljahre mal wieder mit dem Ordnungsamt in Konflikt zu geraten. Im Gegenteil versuchen die meisten gerade, durch Angebotsvielfalt und Kooperation mehr Sicherheit zu bekommen.
Stadtrat Andreas Schultz (CDU) sieht im Ladenöffnungsgesetzes bezüglich der Spätverkaufsstellen dennoch keinen Änderungsbedarf. Spätis hätten dieselben Rechte und Pflichten, wie alle anderen auch, so der Leipziger Bäckermeister. Marianne Küng-Vildebrand (Die Linke) unterstützt unter Verweis auf die einzuhaltenden Arbeitnehmer/-innenrechte bezüglich ihrer Arbeitszeiten ebenfalls die Beibehaltung begrenzte Ladenöffnungszeiten und deren Durchsetzung. Man begrüßt also bei Linken und CDU die Angebote selbst, setzt sie aber so notwendigerweise der Willkür der Kontrollen aus, wenn es um einen entscheidenden Unterschied bei den Ladenöffnungszeiten geht.
SPD und Freibeuter positionieren sich anders. Sie sprechen sich für eine Änderung des Ladenöffnungsgesetzes auf Landesebene aus. Spätis solle dabei offiziell ein Sonderstatus mit längeren Öffnungszeiten einräumt werden.
Auch Kristian Kirpal, Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Leipzig antwortet auf die Anfrage der Leipziger Zeitung, es bedürfe „dringend einer Modernisierung des Ladenöffnungsrechts. Die letzte Novelle ist mehr als viereinhalb Jahre alt – in der heutigen Zeit und erst recht im Einzelhandel ist das eine Ewigkeit.“
Fast fünf Jahre also. Zeit, in der sich auch Stadtviertel weiterentwickelt haben.
„Wir kommen um uns zu beschweren“ (Tocotronic 1996)
Im März 2012 schwang sich ein einzelner Berliner zum Rächer des Bürgertums auf: Er zeigte gleich 48 Spätis wegen nicht eingehaltener Öffnungszeiten beim Berliner Ordnungsamt an – nicht überraschend wohnte der Denunziant im mittlerweile zu Tode gentrifizierten Prenzlauer Berg.
Genau hier liegt ein weiteres Problem auch in Leipzig: Spätis sind Teil des informellen Wirtschaftssektors – zumindest in Teilzeit. Sie sind damit anfälliger für Beschwerden von Einzelpersonen. Spätibetreiber/-innen, die nach 22 Uhr oder an Sonntagen öffnen, weichen, als die Hybride aus Gastronomie und Geschäft, die sie oft sind, vom gesetzlich geregelten Normalfall ab. Das macht sie fürs Ordnungsamt schwer fassbar, was zu Rechtsunsicherheit führt, von der auch die Anwohner wissen.
Shehzad Shaikh (FDP) antwortet auf die Fragen der Leipziger Zeitung für die Freibeuter-Fraktion deshalb sehr deutlich: Es brauche ein neues oder verändertes Gesetz, „sodass subjektives, willkürliches Verhalten durch Ämter verhindert [werden kann].“ Beamtenwillkür ist ein Wort, das im Zuge der Recherche immer wieder fiel. Warum aber kommt bisher keine Gesetzesänderung, die Spätis entlastet und Ordnungsämter aus ihrer unmöglichen Rolle als Bewerter befreit?
Das könnte daran liegen, dass es für die Verwaltung der Stadt Leipzig und den Landesgesetzgeber opportun ist, Spätis im Limbus, dem Vorhölle-Ort des Bangens und Verzweifelns, zu halten. Solange es zum Image jung-hipper Szeneviertel in den Großstädten wie Leipzig passt, freut man sich auch kommunal über die bunten Läden, das verweilende Publikum davor und die belebten Straßen in der Nacht.
Die Universität, (vergleichsweise immer noch) günstige Lebenshaltungskosten und breit gefächerte Subkulturen, Kunst und Nachtleben, zu dem eben auch Spätis gehören, ziehen zudem allerhand Menschen nach Leipzig. Das ist gut fürs Image und gut für die Wirtschaft.
Solange also für Stadt und Land die Politik der Offenheit wirtschaftlich nutzbar ist, schmückt man sich gern mit Kult und Kultur von Spätis, Clubs und belebten Plätzen. Sich jedoch lautstark dafür beim Gesetzgeber Sachsen einzusetzen, ist in den vergangenen fünf Jahren unterblieben.
Zeit, in der sich die Lage der Bevölkerung vor allem in beliebten, weil belebten Leipziger Vierteln durchaus geändert hat. Zum Beispiel, wenn etwa ehemalige Student/-innen den Berufseinstieg hinter sich haben, Familie gründen und dann irgendwie bemerken, dass das bunte Gewusel vorm Späti an der Ecke schon stört. Oder neue Mitmenschen nach Leipzig ziehen und die steigenden Mieten in den bunten Quartieren zahlen.
Erneut ist im zurückliegenden halben Jahrzehnt trotz Pandemie die Bevölkerung Leipzigs um weitere rund 20.000 Menschen gewachsen – bei rund 40.000 Zuzügen und 30.000 Wegzügen bis 2019. Und manche/r Neuleipziger/-in bemerkt die wuseligen Eigenarten eines Spätis erst dann, wenn der Mietvertrag längst unterzeichnet ist.
Ordnungsbürgermeister Heiko Rosenthal (Die Linke) kommentierte bereits 2018 in Bezug auf Spätikontrollen, „dass […] aufgrund der Verdichtung unserer Stadt […] das Anzeige- und Beschwerdeverhalten unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger zunimmt und das, was in der Vergangenheit möglicherweise bei uns nicht angezeigt wurde, jetzt angezeigt wird.“
Gentrifizierung geht immer auch mit veränderten Konsumgewohnheiten einher, schreibt die Soziologin Sharon Zukin. Wenn Viertel also langsam bürgerlicher werden, dann steht das Konsumangebot von Spätis und der damit einhergehende Trubel schnell im Widerspruch zur Reproduktion der Arbeitskraft der Bewohner/-innen.
Dann ist es für die Behörden durchaus willkommen, dass Spätis keine große Rechtssicherheit genießen und informelle Absprachen mit dem Ordnungsamt ganz einfach aufgekündigt werden können.
„Wenn der Bürger sich beschwert, dann handelt das Ordnungsamt“, so bringt es Timm Göpfert auf den Punkt. Nicht nur im Prenzlauer Berg sind es vor allem Einzelpersonen, die den Spätis das Leben schwer machen. Wer 14 Euro für den Quadratmeter zahle, scheine zu glauben, sich alles herausnehmen zu dürfen, so ein Spätibesitzer/-innen, der aus Sorge auf dem Kieker des Ordnungsamtes zu landen, anonym bleiben möchte.
Er sei an einer gesetzlichen Lösung interessiert, die ihm mehr Sicherheit bietet. Das Wohlwollen der Fraktionen finde er positiv, erwarte jedoch, dass es auch in Handlungen übersetzt werde. Im Gespräch mit Leipzigs Spätis wird Mal um Mal klar, dass es meist die immergleichen Anwohner sind, die sich gestört fühlen. Schließlich kennen Spätibesitzer/-innen ihre Nachbarn, so wie viele Nachbarn ihren Späti kennen- und schätzen.
Ohne Druck ist Hilfe aus der Politik nur schwer vorstellbar, zumal hier über die Kommunalvertreter die Landesebene angesprochen werden muss. Bislang ist es viel zu praktisch, am Öffnungszeitenschalter zu drehen, wie es gerade ins Bild des Stadtviertels passt. Den Spätis kann es nur helfen, sich zu organisieren und Krawall zu schlagen gegen ihre Prekarisierung und die mangelnde Rechtssicherheit.
Und zur Not gegen die Entscheidungen von Ordnungsämtern gerichtlich zu klagen.
Bis der Sonderstatus kommt, den sie verdienen und den Tankstellen und Bahnhofsgeschäfte längst haben. Ob sie dabei auch öffentliche Unterstützung erfahren, ist offen. Doch bislang galt: Leipzig liebt seine Spätis.
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