Es ist wie eine Abschiedstour für Angela Merkel. Die großen deutschen Leitmedien schreiben schon jeden Tag das Ende ihrer Regierung herbei. Sie packt schon kein einziges wichtiges politisches Thema mehr an. Dafür reist sie zu allerlei Auszeichnungsauftritten. Nach Harvard will ihr jetzt auch die Handelshochschule Leipzig die Ehrendoktorwürde verleihen. Die der Uni Leipzig, wo sie Physik studiert hat, besitzt sie übrigens schon seit 2008.
Es wäre die 17. Ehrendoktorwürde, die der Bundeskanzlerin dann verliehen werden würde. Wahrscheinlich im August, teilt die HHL Leipzig Graduate School of Management mit. Der Termin steht noch nicht fest.
„Mit der Verleihung des Grades Dr. rer. oec. h.c. würdigt die HHL die Führungsleistung der Bundeskanzlerin“, teilt die HHL dazu mit. „Ihre Art politischer Führung wird nicht nur weltweit hoch geschätzt, sie entspricht auch wesentlichen Kerngedanken des an der Leipziger HHL entwickelten Leipziger Führungsmodells in seiner Grundausrichtung auf werteorientierte und ganzheitlich ausgerichtete Führung. Die HHL würdigt daher die Verdienste von Frau Dr. Merkel um die Führungspraxis und die damit verbundene Diskussion in den Wirtschaftswissenschaften.“
Was an diesem Führungsmodell dran ist, hat Andreas Pinkwart (FDP), der zwischenzeitlich Rektor der HHL war und seit 2017 wieder Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie in der Regierung von NRW, so beschrieben: „Mit dem neuen Leipziger Führungsmodell möchten wir Orientierung im Sinne eines Kompasses bieten. Das Modell ist nicht normativ in dem Sinne zu verstehen, dass es Ziele und Werte guter Führung vorschreibt. Vielmehr gibt es Hinweise auf grundlegende, nicht zu vernachlässigende Dimensionen guter Führung, die zunächst eher zu Fragen als zu Antworten führen.“
Das Modell sei entwicklungsorientiert und habe klare Dimensionen (des „warum“, des „wie“ und des „was“), die so gefasst sind, dass sie Führungskräften für die sich schnell wandelnden Umfelder Orientierung geben.
So betrachtet könnten natürlich viele Politiker und Manager einen Nachholkurs an der HHL gut gebrauchen.
Aber trifft das wirklich auf Angela Merkel zu? Dass sie wesentliche Werte zu ihrer Leitschnur gemacht hat, hat ja ihre Rede bei der Doktorverleihung in Harvard gezeigt. Da wählte sie Sätze, die man so auch aus ihren sonstigen Statements in der deutschen Politik kaum kennt, wo sie sich gern blumig und unkonkret ausdrückt, um nur ja keine Angriffsfläche für Kommentatoren zu bieten, die nur zu gern aus Sätzen, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden, ganze Kampagnen machen.
So ein Satz war zum Beispiel: „Protektionismus und Handelskonflikte gefährden den freien Welthandel und damit die Grundlage unseres Wohlstandes. (…) Mehr denn je müssen wir multilateral statt unilateral denken und handeln, global statt national, weltoffen statt isolationistisch. Kurzum: gemeinsam statt allein.“
Man vermisst nur ihre Aktivitäten genau dazu. Auf europäischer Ebene – etwa gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron – hätte sie dazu alle Chancen gehabt. Manchmal hat man ja schlicht das Gefühl: Sie will das gar nicht. Sie wartet irgendwie darauf, dass jemand anders nach vorn tritt und sich der Sache annimmt.
Dasselbe in ihrer Klimapolitik. Merkel in Harvard: „Der Klimawandel bedroht die natürlichen Lebensgrundlagen. Er und die daraus erwachsenen Krisen sind von Menschen verursacht. Also müssen wir auch alles Menschenmögliche unternehmen, um diese Menschheitsherausforderung in den Griff zu bekommen.“
Sie hat seit 14 Jahren die Verantwortung für die Klimapolitik in Deutschland. Aber irgendwie fehlte ihr auch hier der Mut „alles Menschenmögliche (zu) unternehmen“. Innerhalb ihrer Partei ist sie sogar die Mutigste beim Formulieren solcher Ansprüche. Liegt es daran, dass ihre Partei nicht mitziehen will und die ganze Zeit alles ausgebremst hat? Auch über die störrischen Männer im Kabinett, die ja dort nicht wegen ihrer Kompetenzen gelandet sind, sondern wegen des üblichen deutschen Proporzes nach Landesverbänden?
Ihr Satz mit der Mauer wurde ja mehrfach zitiert: „Wieder sind es Mauern, Mauern in den Köpfen: aus Ignoranz und Engstirnigkeit. Sie verlaufen zwischen Mitgliedern einer Familie ebenso wie zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Hautfarben, Völkern und Religionen. Ich wünsche mir, dass wir diese Mauern einreißen.“
Das wurde dann vor allem als Kritik am mauerfixierten US-Präsidenten verstanden und auf ihre Sozialisation in der DDR zurückgeführt.
Aber selbst in ihrem Regierungskabinett gibt es ja alte, weiße Männer, die solche „Mauern in den Köpfen“ haben. Da fällt es natürlich schwer, werteorientiert zu führen, wenn diese alten Männer meinen, mit Brachialpolitik Wahlkämpfe gestalten zu müssen.
Es scheint nicht wirklich einfach zu sein, in Konzernzentralen und Regierungen nach dem Leipziger Führungsmodell zu arbeiten, wenn die renitenten Herren in der Runde sich nichts sagen lassen wollen und von „Teamwork“ schon gar nichts halten.
So gesehen wäre der Ehrendoktor auch eine Art Trostpflaster für 14 Jahre vergeblichen Mühens, verstockte alte Karrieristen auf gemeinsame Ziele einzuschwören.
„Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel wird damit die 20. Trägerin des Grades Doktor der Wirtschaftswissenschaften h.c. der HHL Leipzig Graduate School of Management seit der Wende sein“, teil die HHL noch mit. „Träger der HHL-Würde sind bereits unter anderen der US-Ökonom und weltweit anerkannte Strategieexperte Prof. Michael Porter von der Harvard Business School, der deutsche Unternehmer Prof. Dr. Michael Otto, Management-Professor Joseph Maciariello Claremont, sowie der frühere sächsische Ministerpräsident Prof. Dr. jur. h.c. mult. Kurt Biedenkopf.“
In der Aufzählung steht freilich auch noch ein gewisser Thomas Middelhoff, der den Titel 2008 verliehen bekam, als seine Managerarbeit bei Arcandor in allen Wirtschaftsblättern in höchsten Tönen gepriesen wurde – bevor der Konzern 2009 in Insolvenz ging. Der Titel wurde Middelhoff 2016 wieder aberkannt.
Bleibt die Frage: Was hilft die werteorientierte Führungsqualität von Angela Merkel, wenn wichtige politische Projekte dann trotzdem über Jahre nicht angepackt werden, weil die Lobbyist/-innen in Ministerämtern mit aller Kraft bremsen?
Die Frage wird wohl stehenbleiben. Auch nach einem möglichen Ende der Großen Koalition, in der sich kaum noch etwas bewegt, weil die störrischen Herren Minister nicht wollen. Aber das kennt man ja in Ostdeutschland nur zu gut. Das ist eine Erfahrung, die wir alle mit Angela Merkel teilen.
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