Wie fließt zusammen, was zusammengehört? Das ist die Frage, mit der sich die Verkehrsplaner großer Städte heute zwingend beschäftigen müssen. Sonst ersticken die Städte im Verkehr. Seit der Diskussion um den City-Ring liegt das Thema auch in Leipzig wieder auf dem Tisch. Und unübersehbar steuert alles wieder auf eine Kollision der Unvereinbarkeiten zu. Weil eins unübersehbar fehlt: eine echte Vision.
Man versteht Oberbürgermeister Burkhard Jung schon sehr gut, wenn er mitten in der Diskussion um das neue Nahverkehrskonzept meint, es brauche eine ganzheitliche Betrachtung aller Verkehrsarten, wenn man den gordischen Knoten durchhauen will. Doch mit seinem Schwärmen von neuen Tunneln verschob er die überfällige Diskussion darüber, wie ein echter zukunftsfähiger ÖPNV in Leipzig aussehen muss, wieder in eine eher aberwitzige Richtung.
Nun wird über einen neuen S-Bahn-Tunnel in Ost-West-Richtung diskutiert, den es unter 2 Milliarden Euro nicht geben wird. Jung selbst brachte sogar einen Auto-Tunnel unterm Auenwald im Leipziger Süden ins Gespräch. Und er meinte dazu, man müsse auch wieder über solche Verkehrslösungen nachdenken. Denn Leipzig leidet ja – parallel zum Bevölkerungswachstum – unter einem rasanten Wachstum der Pkw-Zahlen. Und unter einem in den 1920er Jahren konzipierten Straßennetz, in dem alle Hauptstraßen auf den City-Ring zuführen und im Berufsverkehr dort oft gar nichts mehr geht.
Im Sitz der IHK am Goerdelerring/Dittrichring hat man das Dilemma praktisch direkt vor der Nase. Und man sorgt sich dort vor allem um den Wirtschaftsverkehr. Denn der muss rollen.
Und da sich bislang die Verkehrspolitik vor allem auf den alltäglichen Verkehr der Bürger konzentriert, haben zumindest Teile der Leipziger Wirtschaft große Sorge, dass man mit seinen Fahrzeugen nicht mehr durchkommt.
Das hat die IHK zu Leipzig 2016 zum Inhalt einer Verkehrsstudie gemacht, die aus zwei Teilen besteht. Zum einen wurden im Juni 2016 rund 20.500 Fahrzeugführer zum Zweck ihrer Fahrt befragt, um herauszubekommen, wie groß der Anteil des wirtschaftsbedingten Verkehrs in Leipzig ist.
Und parallel wurden 775 Unternehmen zu ihrer Sicht auf die Verkehrsprobleme der Stadt befragt.
Beide Teile der Befragung sind problematisch. Die Zahl der befragten Unternehmen ist im Vergleich mit den 67.000 in der IHK zu Leipzig betreuten Unternehmen sehr gering. Und die Befragung der Fahrzeugführer erfolgte auch nicht in der City oder an unterschiedlichen Straßen im Stadtgebiet, sondern an sieben Ausfallstraßen. Das sorgt zwangsläufig dafür, dass der wirtschaftlich generierte Verkehr in der Befragung größere Ausmaße annimmt.
Was dann zum Ergebnis hatte: „Dabei lag der Anteil dienstlicher Fahrten (Wirtschaftsverkehr) bei 27 Prozent, der des Berufsverkehrs bei 49 Prozent. Der Anteil des sonstigen privaten Verkehrs machte 24 Prozent aus. Bei drei Viertel aller Fahrten handelt es sich um Quell- und Zielverkehr (Start oder Ziel liegen in Leipzig), 15 Prozent der Fahrten hatten Start und Ziel in Leipzig (Binnenverkehr) und 10 Prozent entfielen auf den Durchgangsverkehr.“
Die 49 Prozent zum Berufsverkehr korrespondieren übrigens mit einem Wert aus der Bürgerumfrage 2015: 48 Prozent der Leipziger fahren mit dem Auto zur Arbeit. Und zwar in vielen Fällen, weil es nicht anders geht – etwa weil der Arbeitsplatz am Stadtrand liegt und mit ÖPNV gar nicht oder nur umständlich zu erreichen ist.
Das benennt die Studie leider nicht. Was problematisch ist. Denn diese Art Berufsverkehr ist nicht gottgegeben, sondern Ergebnis fehlender Angebote. Übrigens ein Befund, den ausgerechnet die letzte Erhebung zum „Modal Split“ in Leipzig bestätigt hat – ausgewertet im „Leipziger Quartalsbericht III / 2016“: Gerade in den Randlagen der Stadt ist das ÖPNV-Angebot mittlerweile so unpraktikabel, dass immer mehr Leipziger wieder aufs Auto umgestiegen sind. Und damit logischerweise die Verkehrsprobleme verschärfen.
Dass der Pkw-Anteil am Verkehr in Leipzig nicht sinkt, hat sichtlich mit unterlassenen Hausaufgaben zu tun. Und mit der ungelösten Frage der Tarifgrenzen. Denn im Mitteldeutschen Verkehrsverbund (MDV) bremsen sich die versammelten Gesellschaften alle gegenseitig aus. Das Ergebnis ist gerade an Tarifgrenzen: fehlende Abstimmung, eingesparte Angebote und eine „Effizienz“-Debatte, die völlig an den Bedürfnissen der Nutzer vorbeigeht.
Ein Thema, das auch die Leipziger FDP kritisiert.
„Wir müssen über die Organisation von Mobilität in der Zukunft in boomenden Städten und zugleich schrumpfenden Regionen auf dem Land reden. Denn weder kann die Herausforderungen wachsenden Verkehrs in Leipzig nur die Bimmel auf den bisher vorhandenen Korridoren in der Stadt, noch Omas Kleinwagen mit Kosten von 200 Euro und mehr im Monat bei 5.000 km Fahrleistung im Jahr auf dem Land lösen, um zu Konsum, Sparkasse, Arzt, Friseur und ab und an zur Kultur in die Stadt zu kommen. Neue und verbesserte Angebote erfordern aber ein Umdenken. Wir müssen heraus aus unserem eingefahrenen Mobilitätsdenken und –verhalten“, erklärt FDP-Stadtrat René Hobusch zur aktuellen Fahrpreisdiskussion. „Die Abwanderung aus dem ländlichen Raum in Richtung der Arbeitsplätze kann in Sachsen nur gestoppt werden, wenn der ländliche Raum endlich auch besser an die Ballungszentren angebunden wird.“
Womit er schlichtweg Recht hat: Das Thema eines wirklich klug vernetzten ÖPNV gerade über Leipzigs Stadtgrenzen hinaus wurde von den Beteiligten völlig vertrieft, versemmelt, vergeigt und kaputtgespart.
Und ein Ergebnis dessen sind die fortwährend anschwellenden Fahrzeugkolonnen, die sich jeden Tag raus aus der Stadt und rein in die Stadt wälzen – und die spätestens im Leipziger Stadtgebiet an überlasteten Ampelkreuzungen zum Stehen kommen.
Ein Großteil der Leipziger Verkehrsprobleme resultiert aus diesen Fehlstellen im ÖPNV.
Die IHK ist beim Lösungsansatz dann rigoros und fordert, die Lösungsansätze der 1990er Jahre wieder aufzunehmen.
Denn wenn Leipzig weiter so wächst (und kein zukunftsfähiges ÖPNV-System entwickelt wird) verlagert sich das Wachstum eben auch motorisiert auf die Straße, wie die IHK feststellt: „Auf Grundlage der Bevölkerungsprognose der Stadt Leipzig kann die Stadt bis zum Jahr 2030 auf 722.000 Einwohner wachsen. Voraussetzung für dieses Bevölkerungswachstum ist laut Studie der Zuwachs an Arbeitsplätzen um 25 Prozent auf 405.000 Arbeitsplätze bis zum Jahr 2030. Neue Arbeitsplätze werden dabei vor allem im Leipziger Randbereich entlang der Autobahnen entstehen. Das Bevölkerungswachstum wird sich dagegen auf die Innenstadt und die innenstadtnahen Stadtteile konzentrieren. Die erwartete Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Arbeitsplatzentwicklung führt zu deutlich mehr Wirtschafts- und Personenverkehr. Deshalb nehmen in allen untersuchten Szenarien die Verkehrsmengen im Hauptverkehrsstraßennetz zu. Das bedeutet für den Pkw-Verkehr eine Zunahme um bis zu 34 Prozent und beim Lkw-Verkehr um bis zu 32 Prozent.“
Das klingt beängstigend. Aber es hat eine reale Grundlage: Das ÖPNV-System, das die erwartbaren Transportleistungen erbringen kann, gibt es noch nicht. Bislang drehen sich alle Vorschläge um leichte Verbesserungen und Verdichtungen im bestehenden System. Die grenzüberschreitenden ÖPNV-Probleme werden überhaupt noch nicht diskutiert, obwohl selbst das Beispiel westdeutscher Großstädte wie München oder Frankfurt zeigt: Ohne einen weiteren starken Ausbau gerade im regionalen ÖPNV wird das Problem nicht zu lösen sein.
Kristian Kirpal, Präsident der IHK zu Leipzig, zeigt sich zu Recht besorgt um das Funktionieren des Wirtschaftsverkehrs: „Mit dem Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum der Stadt Leipzig wird auch der Verkehr deutlich zunehmen. Um die Verkehrsinfrastruktur den zukünftigen Gegebenheiten anzupassen und einen funktionierenden Wirtschaftsverkehr sicherzustellen sind mutige Entscheidungen gefragt und ein Ausbau des Straßennetzes unabdingbar. Wir werden die Stadt bei der weiteren Verkehrsplanung mit unserer Expertise unterstützen und die Anforderungen der Wirtschaft einbringen.“
Was dazu führt, dass auch Investitionsentscheidungen gegen Investitionsentscheidungen stehen. Steckt Leipzig weitere hunderte Millionen in das in den 1990er Jahren geplante Tangenten- und Ringsystem, um vor allem den City-Ring von Kfz-Verkehr zu entlasten? Oder investiert die Stadt in ein wirklich entlastendes ÖPNV-System, das große Teile des Berufsverkehrs aufnimmt und damit wieder Freiräume für den straßengebundenen Wirtschaftsverkehr schafft?
Die Forderungen der IHK zu Leipzig in Stichpunkten:
Bedarfsgerechte Infrastruktur- und Netzentwicklung:
– zügige Umsetzung des 6-streifigen Ausbaus der BAB 14 zwischen der Anschlussstelle Leipzig-Ost und dem Autobahndreieck Parthenaue sowie der Fertigstellung der BAB 72.
– mittelfristige Planung und Realisierung des weiteren Ausbaus des Ringe- und Tangentensystems zur Entlastung des Innenstadtringes.
An der Leistungsfähigkeit der Straßen ausgerichtete Verkehrsraumgestaltung:
– sofortigen Stopp geplanter Maßnahmen zur verkehrsräumlichen Einschränkung für den Kfz-Verkehr in Hauptverkehrsstraßen (z. B. Georg-Schwarz-Str., Georg-Schumann-Str.)
– Beseitigung der in Hauptverkehrsstraßen bereits vollzogenen Verkehrsraumeinschränkungen für den Kfz-Verkehr (vor allem in der Georg-Schumann-Straße und der Delitzscher Straße).
– Verlagerung des Radverkehrs auf parallel zu Hauptverkehrsstraßen verlaufende, konfliktärmere Routen (z. B. Möckernsche Str./Kirschbergstr., William-Zipperer-Str.)
Verbesserte Verkehrslenkung und ordnungsrechtliche Regulierung:
– Optimierung der Verkehrsleitsysteme
– Definition und Ausweisung eines LKW-Führungsnetzes (wie im STEP Verkehr und öffentlicher Raum der Stadt Leipzig 2025 bereits vorgesehen)
– Besser koordiniertes Baustellenmanagement
– Einrichtung von ausreichend bemessenen und eindeutig gekennzeichneten Lade- und Lieferzonen zu Ver- und Entsorgung an Aufkommensschwerpunkten
– Evaluierung des Stellplatz- und Flächenbedarfs für Dienstleistungsverkehre
Abgestimmte Raum- und Standortplanung durch:
– Bewertung der bestehenden und vorgesehenen Industrie-/Gewerbestandorte (wie z. B. Nord-/Nordwestraum Leipzig, Gewerbeband Eutritzsch/Mockau, Altindustrieflächen im Stadtteil Alt-West und Heiterblick/Paunsdorf) hinsichtlich ihrer zukünftigen verkehrlichen Erreichbarkeit insbesondere durch den Wirtschafts- und Berufsverkehr
– Ausrichtung der Ansiedlungspolitik auf verkehrlich geeignete Standorte für industrielle Nutzung, überregionale Logistik, intermodale Verknüpfungspunkte und mit guter ÖPNV-Anbindung für arbeitsplatzintensive Betriebe (z. B. Lindenthal/Radefeld)
– Herstellung leistungsfähiger ÖPNV-/SPNV-Anbindungen (Tram, S-Bahn) der arbeitsplatzintensiven Gewerbe- und Industriestandorte im Norden und im Süden (Einzugsbereich BAB 72 und 38 der Stadt)
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