Was kann man eigentlich in einem Wirtschaftsbericht lesen, wenn ihn die Stadt Leipzig herausgibt? Lauter Zahlen zu Export und Import? Kosten der Arbeitsstunde? Investitionskapital? Transportierte Bruttoregistertonnen? Gleich aktuell fürs letzte Jahr? Leider nein. Da streikt die Statistik. Den "Wirtschaftsbericht 2015" gibt's trotzdem.
Den kann man ab sofort zum Beispiel im Neuen Rathaus bekommen: 108 Seiten, mit statistischem Anhang. Herausgegeben wurde er vom Amt für Wirtschaftsförderung.
Enthalten sind neben detaillierten Informationen zur wirtschaftlichen Entwicklung wiederum Beispiele zur Hochschullandschaft, zu Forschungspotenzialen, zur Verkehrsinfrastruktur und zur hohen Lebensqualität in Leipzig. Den Abschluss bildet ein Anhang mit ausgewählten statistischen Daten und wichtigen Ansprechpartnern.
Das Problem: Bei wichtigen Wirtschaftsdaten hängt die Statistik um zwei bis drei Jahre hinterher. Das betrifft auch einen so zentralen Faktor wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP). 15,5 Milliarden Euro wurden in Leipzig erwirtschaftet. Aber das ist die Zahl für 2012. Selbst der Blick auf die aktuelle Cluster-Entwicklung zeigt, dass das eine historische Zahl ist und gerade einmal die Erholung der Leipziger Wirtschaft nach der Depression durch die Finanzkrise 2008 bis 2010 beschreibt. Seitdem sind ganze neue Fertigungshallen und Dienstleistungscenter in Betrieb gegangen.
Das zumindest verrät der Bericht: Wo die Arbeitsplätze in Leipzig tatsächlich entstanden sind. Die Gestalter der opulent mit Bildern und sinnfälligen Grafiken ausgestatteten Broschüre haben hier das Jahr 2005 als Ausgangspunkt genommen. Was historisch auch Sinn macht, denn nicht nur in Sachsen oder der Bundesrepublik ging 2005 eine fast zehn Jahre anhaltende Depressionsphase zu Ende, auch in Leipzig begann all das, was man in den Vorjahren mit großem Kraftaufwand angeschoben hatte, endlich Wirkung zu zeigen. Dass es mit der Betriebsaufnahme bei BMW und Porsche zusammenfällt, ist kein Zufall.
Denn damit kam die Automotiv-Branche in Leipzig endlich ins Rollen. Von 2005 bis 2014 wuchs die Zahl der im Cluster “Automobil- & Zulieferindustrie” Beschäftigten von 8.900 auf 12.982. Ähnlich entwickelte sich das für Leipzig ebenso typische Cluster “Gesundheitswirtschaft & Biotechnologie”. Nur dass es hier keine großen Werksgründungen gab (die größte Niederlassungsgründung der letzten Zeit war die von Haema mit 100 Mitarbeitern). Tatsächlich ist gerade dieses Cluster in der Spitzentechnologie von zwar forschungsintensiven, aber nicht allzu beschäftigungsintensiven Unternehmen geprägt.
Trotzdem wuchs die Zahl der Beschäftigten in diesem Cluster von 22.991 auf 36.875. Der Grund dafür steht nicht extra da. Aber das sind vor allem die vielen Pflegedienste, die seit zehn Jahren aus dem Boden sprießen. Man kann zwar an die großen Kliniken denken als möglicher Beschäftigungsmotor – aber diese wurden allesamt weit vor 2005 gegründet, haben sich aber auch – man denke an das Herzklinikum – als fester Ankerbaustein für die Leipziger Medizin-Landschaft etabliert.
Aber der Blick auf die Pflegedienste zeigt schon, wie stark die Leipziger Beschäftigungsentwicklung durch Dienstleistung getrieben ist. Dienstleistungen sind das eigentliche Produkt der Zukunft, auch wenn die klassischen Wirtschaftsinstitute das Thema fast völlig ausblenden und lieber auf Wertschöpfung in Produktionsketten und im Export starren – was schon einer gewissen Manie nahe kommt und das wöchentliche Entsetzen in den Medien erklärt, wenn die Exportquoten oder die Konsumraten mal wieder nicht so sind wie erwartet.
Das trifft auch auf das dritte Cluster zu, auf das Leipzig so stolz ist: “Energie & Umwelttechnik”. Echte personalintensive Neugründungen oder Ansiedlungen gab es in den letzten Jahren nicht. Die letzte war die Ansiedlung des Biomasseforschungszentrums im Jahr 2008. Die European Energy Exchange (EEX), die seit 2002 in Leipzig sitzt, wächst eher still und leise vor sich hin und hat heute 191 Mitarbeiter. Die Branche wächst also eher kleinteilig, hat die Beschäftigtenzahl seit 2005 aber trotzdem von 9.115 auf 11.939 erhöht. Die Kleinteiligkeit wird auch in der Zahl der Unternehmen deutlich: 1.351 wurden 2014 gezählt – macht eine eindeutig kleinteilige Branche mit 8,8 Beschäftigten im Schnitt pro Firma. Und auch wenn es hier Giganten wie die VNG oder die Stadtwerke gibt, fehlt eindeutig noch der eine oder andere große Player, um Umwelttechnik made in Leipzig auch zu einer echten Zugmaschine zu machen.
Das eigentlich zugkräftige Cluster (zumindest was Arbeitsplätze betrifft) ist in Leipzig eindeutig die Logistik, wo die Zahl der Beschäftigten von 19.062 auf 30.912 zulegte. Da fallen einem schnell Namen wie DHL, Amazon, Kühne & Nagel, Schenker ein. Die gut vernetzte Verkehrsinfrastruktur macht sich für den Standort Leipzig bezahlt, befeuert aber auch die zunehmende Konzentration der Wirtschaft im Metropolraum Mitteldeutschland. Denn direkte Nähe zu den Umschlagterminals (und damit sind heutzutage garantiert keine Flusshäfen mehr gemeint) garantiert nun einmal die notwendigen Zeitvorteile im Handel und – was längst noch viel wichtiger ist – die digitale Organisation der Warenströme.
Als fünftes Cluster wird ja in Leipzig gern das Cluster “Medien- & Kreativwirtschaft” genannt, hübsch orange eingefärbt. Die Zahlen verblüffen: Die Beschäftigtenzahl wuchs hier von 21.991 auf 28.900. Trotz lähmender Medienkrise. Blüht hier vielleicht doch ganz heimlich die Zeitungswelt? Mitnichten. Die großen, personalintensiven Gründungen in diesem Cluster haben mit Medien und mit Kreativ nichts zu tun: Es sind die Callcenter, die einen enormen Personalbedarf haben. In der Broschüre wird exemplarisch das 2011 angesiedelte Servicecenter der Deutschen Telekom mit 900 Mitarbeitern genannt.
Das aber wird dann im Textteil zum Medien- und Kreativ-Cluster lieber nicht so explizit erwähnt, da feiert man lieber Buchmesse, MDR und Nationalbibliothek. Was freilich auch erklärt, warum in der “Medienstadt” eigentlich nichts passiert, sie ist nur die bunte Hülle für all das andere, was “irgendwas mit Medien” zu tun hat. Das sind nicht nur die riesigen Callcenter, das muss zur Einschränkung gesagt werden, denn hier versteckt sich auch die durchaus konkurrenzfähige IT-Wirtschaft der Stadt, die zwar oft genug selbst wieder nur als Dienstleister agiert – aber online gilt dasselbe wie offline: Das Produkt der Zukunft sind Dienstleistungen.
Etliche Seiten widmen sich natürlich auch den Verkehrsinfrastrukturen, den Hochschulen und Forschungseinrichtungen, ohne die hier keine Innovationen möglich wären. Die wachsende Bevölkerungszahl wird gewürdigt, die sinkende Arbeitslosenzahl. Da man sich ganz auf Leipzig beschränkt, wirkt vieles so, als bejubele man hier eine völlig eigenständige Entwicklung, quasi eine Geburt aus eigenem Urschleim. Was so nicht ganz zutrifft, denn Leipzig macht derzeit eine Entwicklung hin zur Metropolstadt durch, wie sie auch andere deutsche Großstädte erleben. Und das deutlich höhere Tempo muss nicht unbedingt Gutes verheißen, es kann auch Ergebnis eines “Rette sich, wer kann”-Effektes sein, da ja nun die ostdeutschen Landesregierungen alles tun, um irgendwie “mit der Demografie fertig zu werden”, nur das Stärken der Metropolstrukturen haben sie nicht auf der Agenda, so dass rund um Leipzig eben eine Menge fehlt, das dort zu stabileren Entwicklungen beitragen würde. Also ziehen auch die jungen Unternehmer lieber gleich nach Leipzig.
Im Ergebnis steigt die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Leipzig überproportional – zuletzt von 237.591 auf 246.647 im Jahr 2014. Und auch der Umsatz steigt – 2013 von 19,98 auf 21,43 Milliarden Euro. Was 2013 erstmals wieder zu leicht steigenden Durchschnittseinkommen geführt hat. Und – was dann zumindest den Finanzbürgermeister gewaltig freute – erstmals seit Jahren zu einem deutlicheren Anstieg der Gewerbesteuer von 223 auf 265 Millionen Euro im Jahr 2014. Man ahnt schon ein bisschen, warum die ganze Broschüre so euphorisch rüberkommt und gespickt ist mit lauter Pfeilen, die schwungvoll in die Höhe zeigen.
Da und dort lohnt sich aber sichtlich der Blick hinter die Kulissen und ein gehöriger Schuss Ernüchterung. Auch die Erkenntnis ist wichtig, dass Leipzig zwar erfolgreiche Aushängeschilder im Automobilbau, in der Logistik und in der Forschung hat. Aber getragen wird die Entwicklung von Dienstleistung in allen Bereichen – was auch Auswirkungen auf Einkommensniveau, Firmengrößen und Steuereinnahmen hat.
Der Wirtschaftsbericht in deutscher und englischer Sprache ist kostenlos erhältlich im Neuen Rathaus, Amt für Wirtschaftsförderung, Zimmer 29, telefonisch unter (0341) 123-5859.
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