Leipzig - sprich: das Unternehmen HeiterBlick GmbH - kann Straßenbahnen bauen. Ob Leipzig - sprich: das Unternehmen LVB - auch Leipziger Straßenbahnen kauft, steht auf einem anderen Blatt. Dabei soll eine weitreichende Entscheidung ausgerechnet in diesen Tagen fallen. Doch die Zeit scheint gegen die Straßenbahnbauer in Plagwitz zu spielen.

An den 60 Straßenbahn-Spezialisten, die in der Firma HeiterBlick arbeiten, und an vielen solidarischen Kollegen aus der Firma Kirow Leipzig (beide gehören zur Koehne-Gruppe) kam am Samstagmorgen, 8. November, kaum ein Delegierter des Leipziger SPD-Stadtkongresses in der Karl-Heine-Straße vorbei. Die Vertreter der kleinen Volkspartei waren nach Terminlage die Ersten, denen die Sorgen eines industriellen Kernbereichs der Stadt eindringlich mitgeteilt werden konnten. Daniela Kolbe und Wolfgang Tiefensee als Mitglieder des Bundestags und Dirk Panter, Generalsekretär der SPD Sachsen, hörten sich die Anliegen an, Holger Tschense und Alt-OB Hinrich Lehmann-Grube stoppten kurz und nahmen die Informationen mit. “Industrie hat Zukunft. Qualität hat ihren Preis. Wir sind die Stadt”, stand auf dem breiten Transparent der IG Metall. Es geht um Kernkompetenzen der einheimischen Wirtschaft, um Aufträge und Vergabeverfahren. Es geht also zur Sache, wie immer, wenn Millionenbeträge im Spiel sind.

In dieser Woche hatte die Stadt Leipzig Riesenglück. Gute Argumente, die für die Kommunalen Wasserwerke und damit für die haftende Stadt insgesamt sprachen, wurden vom High Court in London schlussendlich auch für gut befunden. Und damit bleibt eine runde halbe Milliarde Euro hier (falls eine mögliche Berufung nicht zu Gunsten der Großbank UBS umschlägt). Klar, dass in der Stunde der Genugtuung der Chef des Kommunalkonzerns Leipziger Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (LVV), Norbert Menke, die rasche Umsetzung dringender Investitionen, darunter die zügige Ablösung der Tatrabahnen der LVB, ankündigte. Diese Großinvestition steht sowieso an, das merkt jeder Kunde, doch ohne das Damoklesschwert drohender finanzieller Riesenlasten nach den kriminellen Geschäften der früheren Wasserwerke-Geschäftsführer fällt das Unaufschiebbare nun leichter. Oberbürgermeister Jung argumentierte ähnlich. Fremdverschuldete Fesseln haben sich gelöst, erzwungene Hemmschwellen für den Mitteleinsatz sind gefallen.

Es strahlte nicht nur die Sonne, als Sachsens Noch-Wirtschafts- und Verkehrsminister Sven Morlok (FDP) bereits am 21. Oktober den Fördermittelbescheid in Höhe von 7,7 Millionen Euro für die ersten fünf der 41 neuen Leipziger Straßenbahnen an Ulf Middelberg, Sprecher der Geschäftsführung der LVB, übergab. Welches Investitionsvolumen damit ausgelöst wird, mochte der LVB-Chef nicht sagen. Mit einem Hinweis auf die anstehenden Endverhandlungen des Kaufpreises wurde die Anfrage der Leipziger Internet Zeitung auf das Abstellgleis geschickt. Auf die Nachfrage, ob denn auch osteuropäische Hersteller ein Angebot abgegeben hätten, zögerte Middelberg einen bezeichnenden Moment lang, ehe er mit Hinweis auf die laufende Vergabe eine genaue Antwort schuldig blieb.
Dabei hatten sich Interessenten auf der Schienenfahrzeugmesse InnoTrans in Berlin vier Wochen zuvor davon überzeugen können, wie massiv osteuropäische Hersteller mit Straßenbahn-Offerten gen Westen rollen. Zum Beispiel Solaris. Diese polnische Firma ist kein Neuling in Leipzig und beileibe kein Unbekannter für die LVB. Solaris steht auf über einhundert Omnibussen des städtischen Nahverkehrsbetriebs. Aber auf keiner einzigen Straßenbahn. Denn auf der Schiene ist Solaris ein ehrgeiziger Newcomer. Mit fünf Gelenkzügen für Jena begannen die Polen im vorigen Jahr ihre internationale Straßenbahn-Karriere; 15 Großraumzüge sollen die Erfolgsgeschichte ab 2015 in Braunschweig fortschreiben. Und anschließend machen die 41 neuen Leipziger Straßenbahnen Appetit in Poznan. Dass es dabei um rund 123 Millionen Euro geht, steht inzwischen fest.

Die HeiterBlick GmbH, deren Name ja noch auf den Geburtsort in der Hauptwerkstätte unter den Fittichen der LVB hindeutet, hätte den Auftrag sehr gern. Angebote gingen auch von Solaris und dem internationalen Konzern Bombardier ein. Die LVB haben es eilig, denn die aus finanziellen Zwängen mehrfach hinausgezögerte Tatra-Ablöseentscheidung duldet keinen weiteren Aufschub. Zwei Endverhandlungstage waren dem Vernehmen nach in dieser Woche anberaumt, bereits am 13. November soll der Aufsichtsrat der LVB grünes Licht für die endgültige Endscheidung zur Beschaffung der neuen Stadtbahnen geben und der Vergabeentscheidung zustimmen.

HeiterBlick war guter Dinge, bei der anstehenden Beschaffung punkten zu können, wurde bei einem Besuch des Marketing-Clubs in den modernen Fertigungsstätten vor acht Wochen mitgeteilt. Doch in der aktuellen Drucksituation zögerte das Management der HeiterBlick GmbH, ein finales Angebot abzugeben, wie die Betriebsräte Mike Steinkopf (HeiterBlick) und Matthias Kranz (Kirow) am Sonnabend auf einem Flugblatt mitteilten. Schuld daran sei jedoch nicht der Terminsprint gewesen, sondern die Details der geforderten Vertragsgestaltung seitens der LVB. Nur 18 Monate Zeit für die Anlieferung des Prototypen (angeblich unter Androhung 20prozentiger Vertragsstrafen im schlimmsten Fall), feste Zusagen für die Betriebskosten der Serienfahrzeuge während des gesamten Einsatzzeitraums (ebenfalls strafbewehrt bei Nicht-Einhaltung) sowie Rücktrittsrechte im Falle von Abweichungen vom technischen Steckbrief der Stadtbahnen sollen sich für den Plagwitzer Mittelständler zu einem riskanten Knoten zusammengezogen haben, der im schlimmsten Fall an die Unternehmenssubstanz gegangen wäre.

Doch Solaris soll zugesagt haben, die LVB-Bedingungen einhalten zu können und obendrein preislich 20 Prozent unter dem HeiterBlick-Angebot zu bleiben. Empört fragen die Betriebsräte, ob das noch seriös sei. Was vom anfänglichen Dreierfeld der Anbieter aus HeiterBlick, Solaris und Bombardier am Ende geblieben ist, muss nun die Aufsichtsratssitzung am Donnerstag bewerten.

Bernd Kruppa, 1. Bevollmächtigter der IG Metall in Leipzig, bekräftigte gegenüber der Leipziger Internet Zeitung, dass die Gewerkschaft sich nicht gegen die Anwendung europäischer Vergaberegeln bei einer Beschaffung dieser Größenordnung wende. Ernsthaft zu überprüfen sei jedoch die konkrete Ausgestaltung der Ausschreibungsbedingungen, um Mittelständlern aus der eigenen Region eine Chance zu lassen. Es gehe um “eine strukturpolitische Entscheidung”, so Kruppa, die berücksichtige, wo Wertschöpfung betrieben und Steuern gezahlt würden. Immerhin sei mit viel öffentlichem Geld in Leipzig eine vorbildliche Netz-Infrastrastruktur für die Straßenbahn aufgebaut worden. Die Frage, ob es dann nicht auch angemessen sei, unter Einhaltung der Regeln einheimische Fahrzeughersteller zum Zuge kommen zu lassen, sei vollauf berechtigt, so Kruppa. Ob indes noch Zeit sein wird, um das Verfahren anzupassen, ist unter Beobachtern umstritten. Die IG Metall ihrerseits kündigte jedoch an, in den kommenden Tagen gemeinsam mit den Plagwitzer Schienenfahrzeug-Spezialisten Druck aufzubauen, um die Aufsichtsräte auf die Anliegen der Beschäftigten aufmerksam zu machen.

Für die bisherigen drei Wellen der Straßenbahnbeschaffungen der LVB seit 1990 galt durchaus der Grundsatz, angesichts der umfangreichen öffentlichen Förderung der Vorhaben durch den Freistaat sächsischen Herstellern eine gebührende Chance einzuräumen. Das betraf die Niederflurfahrzeuge ab 1994 (nennenswerter Fertigungsanteil in Bautzen), die Leoliner aus Leipzig und die XXL-Stadtbahnen ab 2004 (endgefertigt in Bautzen). Allerdings hat sich die Industrie seither einschneidend weiterentwickelt: Bombardier zog seine Straßenbahnfertigung in Wien zusammen, Solaris ist der agile Aufsteiger aus Polen – und HeiterBlick will aus einer Nische heraus wachsen. Großkunde Üstra aus Hannover hat in Plagwitz einen Großauftrag platziert, der kontinuierlich zur Zufriedenheit des Kunden abgearbeitet wird.

Während der halbstündigen Manifestation der IG Metall am Sonnabend fuhren vier Straßenbahnen der LVB auf der Linie 14 an den Demonstranten in der Karl-Heine-Straße vorüber. Vier Leoliner, alle in Leipzig gebaut. Viermal industrielle Kernkompetenz, viermal Elektromobilität aus Leipzig und für Leipzig. Ein gutes Omen?

Nachtrag 11. November: Bombardier weist darauf hin, dass der sächsische Produktionsstandort in Bautzen weiterhin erhalten bleibt und dass dort auch wieder Leipziger Straßenbahnen gebaut würden, sollte das Unternehmen den Auftrag der LVB bekommen. Die aktuell in Leipzig fahrenden Bahnen vom Typ XXL Classic wurden in Bautzen hergestellt.

Die Heiterblick GmbH:
www.heiterblick.de

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