Der Versuch, Abzockermethoden von dubiosen bis kriminellen Vertriebsfirmen aufzudecken, stellt sich selbst für Ermittlungsbehörden als schwieriges Unterfangen heraus. Die Firmen geben sich nach außen intransparent und schotten sich ab. Schwierig, da ran zu kommen. Also sollte man als Journalist zugreifen, wenn sich einem die Gelegenheit bietet, das System von innen zu durchleuchten.
Mehr durch einen Zufall wurde mir über Umwege angeboten, als eine Art PR-Berater für die Leiterin eines Strukturvertriebes zu arbeiten. Ich hatte schon einiges über die Firma recherchiert und es war nichts Gutes, was ich da gefunden hatte. Und nun bot sich mir mein Rechercheobjekt von ganz alleine wie auf dem Silbertablett an. Welcher Journalist hätte da nein sagen können? Ich jedenfalls nicht.
Strukturvertriebe sind in der Regel eine recht perfide und clever durchdachte Methode, um Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. In einem Strukturvertrieb verkaufen selbstständige Außendienstmitarbeiter Produkte, welcher Art auch immer, an Kunden und werben zudem neue Mitarbeiter, an deren Umsätzen sie mitverdienen. Die drei größten Finanz-Strukturvertriebe in Deutschland haben über zehn Millionen Kunden und erwirtschaften Umsätze in Milliardenhöhe. Wegen des hierarchisch aufgebauten Provisionsmodells spricht man auch von einem Pyramidensystem. Dabei müssen Mitarbeiter der unteren Ebene einen Teil ihrer Provision an höher stehende Mitarbeiter abgeben. Karriere macht man da nicht, indem man berät, sondern Karriere machen die Mitarbeiter nur, wenn sie verkaufen, verkaufen, verkaufen.
Unter anderem auf diesem Prinzip war das Unternehmen aufgebaut, für deren Chefin ich den PR-Berater spielen sollte. Das hatte sogar einen nicht unironischen Hintergrund. Seit einiger Zeit war sie in die Schlagzeilen wegen ihrer unlauteren Machenschaften geraten und hatte mit einigen ihrer Mitarbeiter, die sie “Manager” zu nennen pflegte, einen Prozess vor dem Leipziger Landgericht am Hals. Anklagepunkt: Progressive Kundenwerbung. Ich sollte sie und ihre Mitarbeiter beraten, wie man sich in der Öffentlichkeit möglichst positiv präsentiert, um das durch den Prozess gefährdete Image aufzupolieren. Von der äußeren Erscheinung roch die Dame zehn Meilen gegen den Wind nach Zaster. Damit will ich sagen, dass sie eine Litfaßsäule auf zwei Beinen in Punkto Werbung für Luxusmarken darstellte. Der Witz dabei war (oder besser, das Traurige), dass die hauptsächlichen Opfer dieser Firma Arbeitslose oder andere mehr oder weniger mittellose Zeitgenossen waren, die in einem Job bei dieser Firma oft die letzte Hoffnung sahen. Doch dazu später.
Meine erste Amtshandlung sollte es sein, mal bei einem Motivationsseminar zu hospitieren. Ich sagte zu, ohne zu wissen, dass ich gleich beim ersten Mal mit einem echten Augenöffner konfrontiert werden sollte. Vorab sollte man noch erklären, wie die Teilnehmer für das Seminar geworben oder besser gesagt geködert wurden. Jeden Sonnabend wurden in Tageszeitung innnerhalb der Rubrik “Stellenanzeigen” unter “Sonstiges” kleine Anzeigen geschaltet, in denen mit “lukrativem Nebenverdienst” geworben wurde. Wie sich herausstellte, wurde damit mal wieder die offenbar nicht enden wollende Schar jener angesprochen, die arbeitslos waren, verschuldet oder sich von dem angebotenen Job Hilfe aus ausweglosen Situationen versprachen.
Der Termin fand an einem Sonntag in einem Hotel zwischen Halle und Leipzig an der Autobahn statt. In einem kleinen Saal des Hotels hatten Mitarbeiter der Firma schon einen Beamer und eine Lautsprecheranlage aufgebaut. “Manager” sagte die Chefin großspurig zu ihren Mitarbeitern, wohl, um sie auf diese Weise aufzuwerten, auch wenn deren Tätigkeit mit einem Manager so viel zu tun hatte, wie ein Pförtner mit einem Firmendirektor. Auf einer Leinwand prangte das Logo der Firma, wobei das gute alte Wort “Erfolg” natürlich nicht fehlen durfte. So nach und nach füllte sich der Saal, bis am Ende so an die 50 Teilnehmer Platz genommen hatten. Das erstaunte mich dann doch wieder einmal sehr. Schließlich waren schon diverse Artikel über die Firma und ihre unseriösen Praktiken durch die Medien gegeistert. Entweder wurde das von diesen Hartnäckigen hier ignoriert oder war einfach übersehen worden.
Ich setzte mich unauffällig in die letzte unbesetzte Reihe und harrte gespannt der Dinge, die da kommen sollten. Zwar hatte ich schon bei einem Vortrag einer amerikanischen Firma interessante Erfahrungen sammeln dürfen, was es heißt, beeinflusst zu werden. Doch was jetzt folgte, stellte das in Hinsicht Aggressivität und tumber Anmache bei weitem in den Schatten. Nachdem der Saal abgedunkelt worden war ertönte plötzlich ohrenbetäubend laute Musik. Auf der Leinwand erschien eine Botschaft, in der wieder mal von Erfolg, Unabhängigkeit, Wohlstand und gar dem Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt die Rede war. “Die machen keine halben Sachen”, dachte ich bei mir.
Der Auftritt der nun die Szene betretenden Dame bestätigte meine Vermutung voll und ganz. Und “Auftritt” durfte man getrost wörtlich nehmen. Denn eine wasserstoffblonde Dame in schwarzem Hosenanzug, weißer Bluse und mit schwarzen hochhackigen Pumps betrat geräuschvoll von hinten kommend den Saal. Die Absätze klackten, dass sie fast die Musik übertönten, zu der sie rhythmisch klatschend vor die Leinwand trat. Vor dem dick mit Lippenstift verunzierten Mund hatte sie ein kleines Mikro geschnallt. Mit einer Geste forderte sie die Versammelten auf mitzuklatschen. Und was soll ich sagen, es funktionierte. Schon klatschte alles zur aggressiven Musik mit – während auf der Leinwand weiter die Botschaften des in Aussicht stehenden Reichtums prangten. “Der Mensch ist schon ein wunderliches Herdentier”, ging es mir durch den Sinn.
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Nach fast zwei Minuten Einheizung verstummte die Musik endlich und die Wasserstoffblonde begann damit, eine denkwürdige Show abzuziehen. Dabei war Lautstärke offenbar das Mittel zum Zweck der Überzeugung. Mit unangenehm übersteuerter Stimme setzte die Blonde nun zu einem wahren verbalen Maschinengewehrfeuer an und schoss Salven mit Parolen auf die Zuhörer ab, die von einmaligen Produkten, Erfolgsstrategien für ein Leben in Unabhängigkeit und Wohlstand erzählten. Zwischendurch wurden die üblichen Fragen ans Publikum gestellt, die nur mit “Ja” beantwortet werden konnten. Die Blonde schaffte es auch, dem Publikum immer wieder, begeisterte Bestätigung gefolgt von kurzem aber heftigem Applaus zu entlocken. Während des etwa einstündigen “Vortrags” pries die Blondine die Vorzüge der Produkte (Wellness”kram” im Großen und Ganzen, den man auch billiger im Internet hätte kaufen können), die verkauft werden sollten genauso wie ein anderes hervorragendes Produkt. Dabei handelte es sich um ein einmaliges Motivationsseminar mit Erfolgsgarantie.
Als nun die Blondine unter viel Brimborium aber mit wenig erhellenden Aussagen ihren Vortrag beendet hatte, ging es ans Eingemachte. Hinter mir hatte ein weiterer “Manager” während des Vortrages auf einem Tisch einen ganzen Stapel verschiedener Papiere vorbereitet. Die Blonde erklärte dann, dass jeder der Anwesenden, wenn denn nun Interesse an einer Mitarbeit in der formidablen Firma bestünde, individuell beraten werden würde. Man sollte darüber aufgeklärt werden, welche Möglichkeiten bestünden, als selbständiger Mitarbeiter erfolgreich zu sein.
Natürlich war ich neugierig, wie so eine Beratung aussehen sollte. Dabei wurde ich Zeuge, wie tatsächlich ein Großteil der Anwesenden fleißig Verträge entweder als Vertriebspartner oder als Teilnehmer eines Motivations- und Erfolgsseminars unterschrieben. Besagte Seminare sollten in “Bildungsinstituten” stattfinden, die der Vertriebsfirma “nahestanden”. Ich traute meinen Augen kaum, als ich las, was solch ein mehrstufiges Seminar kosten sollte: rund dreieinhalb tausend Euro. Noch mehr staunte ich, als ich sah, wie Handtaschen, Brieftaschen oder Aktenkoffer sich öffneten, um den Betrag gleich bar zu entrichten. Als ich später mit einigen der Teilnehmer sprach, erfuhr ich, dass viele ihr letztes Erspartes zusammengekratzt hatten oder sogar Kredite aufgenommen hatten, um die Seminare zu bezahlen, die sich im Übrigen (wenig überraschend) später als völlig nutzlos herausstellten.
Um wieder an Geld zu kommen, beteiligten sich viele der Abgezockten an dem Schneeballsystem, warben später selbst gegen Provision neue Opfer an oder versuchten die Produkte der Firma zu verkaufen. Progressive Kundenwerbung nennt sich dieser Straftatbestand. Als ich einige der Teilnehmer ansprach, ob ihnen das alles nicht suspekt vorkam, stieß ich auf offenbar blindes Vertrauen. Alle waren überzeugt, jetzt kurz vor dem Erfolg zu stehen. Manchen ist eben nicht zu helfen. Als ich dann später wieder im Gerichtssaal saß – diesmal nicht mehr als “Undercover-PR-Berater” sondern als Reporter – stellte sich heraus, dass die Firma tausende von Kunden mit dieser Masche abgezockt hatte und dabei rund elf Millionen Euro verdient hatte. Geld, dass die Abgezockten wohl niemals wiedersehen würden.
Auch wenn die meisten Mitarbeiter, also Manager, der Firma zu Haftstrafen verurteilt wurden. Was allerdings keinen großen Eindruck besonders auf die Chefin der Firma machte. Etwa ein Jahr später gründete sie wieder eine Abzockfirma, diesmal mit Sitz in Dresden. Und wen wundert es: Auch diesmal wurde mittels “Kommunikationsseminaren” mit schnellem Erfolg und einer Zukunft in Reichtum und Wohlstand geworben. Wer in Dresden auf den Schwindel so alles reinfiel, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber wie schon der Volksmund sagt, sterben die Dummen ja nie aus. Leider.
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