Jobanzeigen sind eine wahre Fundgrube von wunderbaren Eigenschaften, die der Arbeitsuchende mit sich bringen sollte. Ginge es danach, wären wir von wahren Wunderkräften mit multi-intellektuellen Fähigkeiten umgeben, von der vielzitierten Belastbarkeit und der Flexibilität mal ganz abgesehen. Solche Mitarbeiter wurden auch von einem in Plagwitz ansässigen "international tätigen" Bankunternehmen gesucht.
Sichere und sehr gute Mehrsprachigkeit in Wort und Schrift, die unvermeidliche Kommunikationsstärke, Flexibilität und Belastbarkeit – wie schon erwähnt – und Bereitschaft für Schicht- und Wochenenddienst waren unter anderem für eine anspruchsvolle Tätigkeit im internationalen Bankwesen gefragt. Das ist einen Versuch wert, dachte ich und schickte die Bewerbung auf den elektronischen Weg.
Schon nach einer Woche ereilte mich eine telefonische Antwort. Man sei von meiner Bewerbung angetan und bat mich um ein telefonisches Vorabinterview, um zu testen, ob ich für den Job generell geeignet sei. Man vereinbarte den Termin für den Morgen am nächsten Tag. Pünktlich um zehn klingelte es und als ich abhob, begrüßte mich eine geschmeidige Frauenstimme auf das Herzlichste. Ob ich bereit sei, das Ganze würde etwa eine halbe Stunde in Anspruch nehmen.
Bereit bin ich immer, also munter ran ans Frage- und Antwortspiel. Dabei wurde ich unter anderem mit erhellenden Erkenntnissen, was meine Person betrifft, konfrontiert. Ich stellte mich als Teamplayer mit Sozialkompetenz heraus, musste meine Sprachkompetenz in drei Fremdsprachen glaubhaft bezeugen, bewies aber auch bei der Frage nach meinen Schwächen entwaffnende Ehrlichkeit, was ich wiederum bei der Frage nach meinen Stärken gekonnt mehr als wett zu machen in der Lage war.
Zwischendurch hörte ich eifriges Tastaturgeklapper. Alles wurde mitgeschrieben. Nach besagter halber Stunde war dann auch alles zu Ende. Man würde mich kontaktieren. Ich legte auf und fragte mich nach dem Sinn eines solchen Telefoninterviews, bei dem man fröhlich die dollsten Sachen von sich behaupten konnte, ohne seinem Gegenüber in die Augen zu schauen.
Ja, die Zeiten haben sich wahrlich geändert. Überraschenderweise durfte ich schon am nächsten Tag einen Termin zum Vorstellungsgespräch vereinbaren. Und so machte ich mich ein paar Tage später auf nach Plagwitz, wo mich ein Déjavu ereilte. Der übliche Büroklotz, diesmal aber in Backstein und vor dem Eingang zur “internationalen Bank” eine Ansammlung von etwa zwei Dutzend Menschen. Ich schaute an mir herab. Diesmal hatte ich mich leger und dennoch elegant gekleidet. Tuchhose, kurzärmeliges Hemd ohne Schlips. Ich fiel also nicht zu sehr auf. Dennoch beschlich mich angesichts der bunten Truppe, die da vor dem Eingang wartete, ein ungutes Gefühl.
Das sollte mich auch im Verlauf der weiteren Entwicklung nicht täuschen. Wieder wurde man wie eine Herde Schafe per Knopfdruck nach oben in das “internationale Bankgebäude” gelotst. Wieder Sicherheitsvorkehrungen wie bei Fort Knox. Elektronische Türschlösser, ID-Karten, mit denen man sich zu den einzelnen Abteilungen je nach Dienstgrad oder Kompetenz Zugang verschaffen konnte. “Sicherheitsrelevante Daten” seien dafür verantwortlich, wie man uns mit gewichtiger Miene versicherte. Das Ganze hatte trotz heller, moderner Räumlichkeiten etwas Klaustrophobisches.
“Ok, da wären wir wieder,” dachte ich, als man uns einmal mehr in einen großen Versammlungsraum manövrierte. Diesmal begrüßte uns gleich ein Dreier-Team. Zwei Damen, ein Herr, die sich als die führenden Köpfe der hiesigen Niederlassung vorstellten, deren Hauptsitz in München läge. Erst hier (auch dies eine moderne Unsitte bei solchen Jobangeboten) wurde man über das wahre Wesen des Unternehmens im Allgemeinen und über den Standort Leipzig im Besonderen aufgeklärt.
Von den in der Jobannonce erwähnten Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten war hier allerdings kaum noch die Rede. Es sei denn, man war gewillt, nach München umzuziehen. Und hier offenbarte sich mir etwas, was mir im Laufe meiner “Karriere” als Undercover-Job-Sucher noch öfter begegnen sollte: Im glitzernden Gewand eines großen, international daherkommenden Unternehmens wurden Zweigstellen gegründet, die hermetisch für sich agierten und in denen man, sich quasi ständig im Kreise drehend, keine Aufstiegsmöglichkeiten hatte, es sei denn man war, Eignung vorausgesetzt, gewillt, hunderte Kilometer weiter zu ziehen.
Innerhalb der “hermetischen” Niederlassung war man dagegen bis zum bitteren Ende gezwungen, seinen Job zu machen. Ohne Aussicht, diesem Hamsterrad jemals zu entkommen. Von einer Einkommensverbesserung ganz zu schweigen. Aber zum leidvollen Thema “Einkommen” kommen wir noch.Erst einmal wurde die “tolle Firma” beziehungsweise die Arbeit vorgestellt, die einen erwartete, sollte man denn übernommen werden. Trotz umfangreicher Erläuterungen des Leipziger Führungstrios ist die Sache in wenigen Sätzen erklärt: Im Drei-Schicht-System sollte man also rund um die Uhr Anfragen und Beschwerden von Kunden aus aller Welt bearbeiten, die bei der Bank ein Konto führten oder Kreditkarten in Anspruch nahmen. Dabei ging es um Kontendaten, um Kreditkarten und deren Nutzung oder um andere Servicefragen oder Beschwerden. Dies hatte sowohl schriftlich als auch mündlich in mehreren Sprachen zu erfolgen. Dabei würde man in verschiedenen Lehrgängen in das Fachgebiet eingeführt, bis man am Ende zu einem Spezialisten für solche Fragen würde.
Arbeitsort war ein riesiger Büroraum in dem ehemaligen umgebauten Fabrikgebäude. Hier saß man mit Headset vor einem Terminal und bearbeitete seine “Fälle”. Etwa 60 bis 70 Mitarbeiter waren hier versammelt, nur durch kleine Trennwände voneinander separiert. Handy war nicht erlaubt und Internet nur im Rahmen der dazu nötigen Recherchen. Quer zu den Arbeitsplätzen saßen erhöht an einer Art Pult die “Supervisoren” (Überwacher). Die hatten so den ganzen Raum im Blick. Aber das nicht nur visuell, wie es der Name Supervisor schon sagt, sondern auch elektronisch. Von hier aus konnten sie sämtlichen E-Mail-Verkehr ihrer Mitarbeiter sowie deren Telefonkommunikation überwachen, um, wie man uns sagte, “eine stets gleichbleibende Qualität gegenüber dem Kunden zu garantieren”. Gleichzeitig konnte man so überprüfen, wie viele Fälle pro Tag abgehandelt würden.
Tja, eine wahrhaft schöne Umschreibung für totale Überwachung. Was dann folgte war mal wieder der Massentest. Wieder kein persönliches Vorstellungsgespräch, sondern die Ausgabe von schriftlichen Tests, bei denen die versammelte Bewerberschar ihre sprachlichen Fähigkeiten auf Französisch, Englisch und Spanisch unter Beweis stellen musste. Danach folgte ein mündlicher Test, der sich als ein Gespräch mit muttersprachlichen Mitarbeitern des Unternehmens herausstellte. Danach folgte eine Führung durch die Firmenräumlichkeiten, wobei sich herausstellte, dass man hier quasi in Klausur, also eingeschlossen, war. Raus und rein ging es nur mit elektronischem Ausweis, der gleichzeitig als Nachweis für An- bzw. Abwesenheit diente.
Die 40-Stunden-Woche sollte sich wie folgt gestalten: Drei-Schicht-System, wobei kein Nachtzuschlag gezahlt wurde. Arbeit an Sonn- und Feiertagen sowie an Wochenenden. Auch hier kein Zuschlag. 21 Urlaubstage, von denen die Krankheitstage abgezogen werden sollten. Alles möglich, wenn man sich außerhalb des Tarifgefüges bewegt und die Zustimmung des Arbeitnehmers hat. Aber schließlich, so wurde uns versichert, hätte man dann schließlich einen sicheren Arbeitsplatz und würde noch umfangreich in das Bankwesen und das damit einhergehende Fachwissen eingeführt, beziehungsweise entsprechend geschult werden, so dass man am Ende über umfangreiche Spezialkenntnisse verfügen würde.
Wie ich allerdings nach einigen Fragen feststellen durfte, handelte es sich dabei um ein sehr spezielles Fachwissen, das einem hier und ausschließlich hier nutzte, da es außerhalb dieser Leipziger Niederlassung nirgendwo Anwendung finden würde. Wieder dieser hermetische Charakter einer Firma, in der man so mehr oder weniger sein unveränderliches Dasein als Arbeitnehmer fristen sollte. Gut überwacht und abgeschirmt.
Schließlich kamen wir zu dem Thema, was bei einem Arbeitsplatz sicher nicht das unwichtigste ist: Das Gehalt. Für die Beherrschung von drei Fremdsprachen in Wort und Schrift sowie der Aneignung und der Anwendung von Bank-Fachwissen sollte unter den genannten Bedingungen anfänglich ein Gehalt von 1.100 EUR, wohl gemerkt, 1.100 brutto, gezahlt werden. Das könne sich, so einer des geschäftsführenden Dreigestirns, je nach Qualifikation und Dauer der Zugehörigkeit sogar bis auf 1.400 brutto steigern. Da waren wir also wieder. Eine wahrhaft “fürstliche” Entlohnung für eine in der Tat anspruchsvolle Tätigkeit.
Ich heuchelte Zufriedenheit und wurde dann im Nachgang noch einmal mit einer Frage konfrontiert, die mir beim letzten Bewerbungsversuch schon gestellt wurde. Warum ich mich denn bei all meiner Berufserfahrung mit so einem doch eher vergleichsweise bescheidenen Gehalt zufrieden geben würde, wo ich doch sicher schon mehr verdient hatte im Laufe meines Berufslebens. Ich erzählte meine erprobte Geschichte von dem einen Schritt, den man rückwärts gehen müsse, um zwei voranzukommen, von der schlechten Lage im Verlagswesen und im Journalismus im Allgemeinen (was ja auch stimmt). Mein Gegenüber schien es zufrieden und beschied mir, dass man sich bei mir melden würde.
“Deutschland ist das coolste Land der Welt”: Ein masochistischer Selbsttest auf dem Leipziger Arbeitsmarkt – in mehreren Folgen
Wenn man vollmundig behauptet …
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Die erste der zahlreichen Hürden …
Und, o Wunder, so geschah es dann auch schon eine Woche später. Eine Mitarbeiterin des Unternehmens beglückwünschte mich und teilte mir mit, dass man sich für mich entschieden hätte. Offenbar schien sich meine Begeisterung via Telefon in Grenzen zu halten, wurde ich doch gleich gefragt: “Ja, freuen Sie sich denn nicht, Herr Weidemann?” Ich beeilte mich zu sagen, dass ich mich wirklich sehr freuen würde.
Das war auch in der Tat der Fall. Allerdings freute ich mich insgeheim, dass ich diesen Job nie antreten würde. Das teilte ich der Dame am Telefon natürlich nicht mit, um ihr ihrerseits die Freude nicht ganz zu nehmen. Ich teilte ihr aber meine Absage tags darauf per E-Mail mit und begründete dies damit, dass ich einen anderen Job gefunden hatte, der besser bezahlt wäre. Nun, ein wenig stimmte das auch. Aber dieses neue, in der Tat auf seine ganz spezielle Art auch sehr interessante Jobangebot soll in der nächsten Folge ausführlich beschrieben werden.
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