Am Montag, 1. Oktober, dem internationalen Tag der älteren Menschen, findet von 9 bis 15 Uhr im Neuen Rathaus (Obere Wandelhalle) die erste Leipziger Sozialmesse statt. Titel. "Mehrwert 50plus - Vorsprung durch Erfahrung". Es ist ein mehrfach falscher Titel. Aber wann kann man Verantwortlichen einmal die schlichte Tatsache beibringen, dass Menschen mit ihrem 50. Geburtstag nicht zum Sozialfall werden?

Auch dann nicht, wenn sie schon jahrelang vergeblich auf den Stühlen des Jobcenters gesessen haben und nach zehn Bewerbungsrunden, sechs Um- und Weiterschulungen und drei 1-Euro-Jobs nicht in eine richtige Arbeit vermittelt wurden?

Und richtige Arbeit heißt in diesem Fall auch: Fair bezahlte Arbeit. Dass über 50jährige in den letzten Jahren immer wieder aus ihrer Beschäftigung flogen, wurde zwar oft mit ihrem Alter begründet und mit ihrer sinkenden Leistungsfähigkeit. Aber die simple Leipziger Wahrheit ist: Ihre Arbeitsplätze wurden auch deshalb oft mit jüngeren Leuten besetzt, weil diese bereit waren, für noch weniger Geld und unter noch schlechteren Bedingungen zu arbeiten.

Wäre der Leipziger Arbeitsmarkt noch der von 2007 oder 2008, das würde auch noch munter so weiter gehen.

Geht es aber nicht. Ginge es nur um das schöne große Angebot von ehrgeizigen älteren Arbeitssuchenden, die das Jobcenter Leipzig, das Jobcenter Nordsachsen und das Kommunale Jobcenter Landkreis Leipzig zu bieten haben, sie würden keine Messe veranstalten. Eine Messe macht erst dann Sinn, wenn eine Kundennachfrage besteht, wenn sich ein Unternehmer um den anderen sagt: Na hoppla, jetzt wird’s knapp. Der Markt der jungen Arbeitskräfte ist abgegrast. Ich werde ältere Mitarbeiter brauchen.

Es ist aber auch keine Messe.

So ein wenig war das den Jobcenter-Leuten auch bewusst, das irgendwas in dieser Richtung anders wurde. Es klingt im zweiten Teil des Förderprojekttitels “Mehrwert 50plus – Vorsprung durch Erfahrung” an, das seit Anfang 2011 ein gemeinsames Förderprojekt für lebensältere Arbeitsuchende ausprobiert.

Wirklich weit ist man damit noch nicht gekommen. Weil so ein Projekt – konsequent durchdacht – dazu führen müsste, dass sich die Rolle des Jobcenters für alle Arbeitsvermittlungen konsequent ändert. Das geht innerhalb der “Harz IV”-Gesetzgebung aber nicht. Für die sich einige Leute in diesen Tagen mächtig selbst feiern. Aber der zunehmende Arbeitskräftemangel im Land wird alle Schwächen dieser von einem Personalchef erdachten Reform zu Tage bringen. Und dazu gehört auch das amtlich falsche Denken, Arbeitsuchende als Sozialfälle zu betrachten. Dazu werden sie nur durch die “Hartz IV”-Gesetzgebung.

(Mal schauen, wie oft wir diesen Satz noch werden wiederholen müssen, bis er von den politisch Verantwortlichen begriffen wird. – Ja: Das ist ein Kommentar. D. Red.)

Im Vorfeld der Messe beglückte das Jobcenter alle Redaktionen mit einer Geschichte, die zeigen soll, wie toll “Mehrwert 50plus – Vorsprung durch Erfahrung” schon funktioniert.Es ist die Geschichte von Jutta Walter, die als neue Empfangsmitarbeiterin des Mobilen Behindertendienstes Leipzig e.V. seit Juni 2012 die tägliche Organisation lenkt: Sie ist für eingehende Telefonanrufe an der richtigen Stelle, kümmert sich um die Post, unterstützt bei Veranstaltungen und ist verantwortlich für die Koordination von Essen auf Rädern.

Eine Festanstellung hat die 58-Jährige zuletzt bis 1993 in einem Ingenieurbüro ausgeübt, während sie nebenbei ihren Fachhochschul-Abschluss als Betriebswirtin absolvierte. Doch mit Studienende war die Stelle weg und die hochausgebildete Frau kurz nach der Wende für viele Jahre arbeitslos. Ein für Leipziger Verhältnisse typischer Weg, bei dem viele Leipziger dann ein neues Wort lernten, das sie auf einmal auf dem neuen Arbeitsmarkt diskriminierte: sie waren “überqualifiziert”.

“Ich muss das Gefühl haben, gebraucht zu werden”, sagt Jutta Walter. Daher suchte sie sich immer wieder verschiedene Tätigkeiten in Vereinen, bildete sich weiter und war auch ehrenamtlich mehrere Jahre im Bundeselternrat tätig. “In dieser Zeit habe ich gelernt, mit Behörden umzugehen und nicht aufzugeben, was mir jetzt sehr in meiner Arbeit hilft.”

Eine Frau also, die jeder Verein natürlich nimmt. Diese Erfahrung wird gebraucht.

“Die Bewerbung lag ganz klar vorn und das Gefühl hat von Anfang an gepasst”, bestätigt der Geschäftsführer des 1991 gegründeten Vereins. Nicht nur ihre guten EDV-Kenntnisse schätzt ihr neuer Chef sehr, sondern auch, dass “sie im Geist jung und optimistisch geblieben ist”. Nach drei Tagen Probearbeit wurde der Arbeitsvertrag geschlossen und Jutta Walter hat nach 19 Jahren wieder eine feste Arbeitsstelle.

Aber das wird in nächster Zeit so nicht nur in Vereinen stattfinden. Im jüngsten “Quartalsbericht” der Stadt Leipzig haben Peter Dütthorn und Kerstin Lehmann einmal die statistischen Zahlen zur Beschäftigung älterer Leipziger zusammengetragen. Und die Zahlen zeigen, dass immer mehr Unternehmen sich der Tatsache bewusst sind, dass sie ihre älteren Mitarbeiter auch in Krisenzeiten nicht einfach entlassen können – die demografische Entwicklung sorgt schlicht dafür, dass gerade die ältere Arbeitskraft immer wertvoller wird.

Der Anteil der 50- bis 65jährigen, die einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgehen, stieg von 2003 bis 2010 von 36 auf 46 Prozent. Und wenn die Zeichen nicht trügen, dürfte – befeuert durch die geburtenschwachen Azubi-Jahrgänge seit 2010 – mittlerweile die 50-Prozent-Marke überschritten sein.

Das heißt: Um die engagierten älteren Arbeitssuchenden werben nicht mehr nur Vereine, sondern auch Unternehmen.

Aktuell werden 5.470 Personen im Rahmen des Projekts “Mehrwert 50plus – Vorsprung durch Erfahrung” betreut. Bereits 830 von ihnen konnten im Jahr 2012 eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt aufnehmen, teilen die drei Jobcenter der Region mit. Im Jobcenter Leipzig, wo allein 3.700 Personen betreut wurden, wurden 550 Vermittlungen gezählt, im Jobcenter Nordsachsen (1.020 betreute Personen) waren es 170 Vermittlungen, im Kommunalen Jobcenter Landkreis Leipzig (750 betreute Personen) 110 Vermittlungen.

“Diese positive Zwischenbilanz möchten wir weiter steigern. Wichtig ist dabei, die gesamte Lebenssituation der älteren Arbeitsuchenden in den Blick zu nehmen und Hilfen für alle Lebenslagen anzubieten. Aus diesem Grund veranstalten wir mit unseren Projektpartnern am 1. Oktober eine Sozialmesse für lebensältere Menschen”, erklärt Dr. Simone Simon, Geschäftsführerin des Jobcenters Leipzig.

Da ist wieder das Wörtchen Sozialmesse, das so manchen Arbeitgeber abschrecken dürfte. Und das hier auch nichts zu suchen hat.

Die Vermittlung qualifizierter älterer Personen in den Arbeitsmarkt ist keine soziale Wohltat, sondern eine Dienstleistung, die Betroffene und Unternehmer eigentlich von einer Einrichtung erwarten, die sich “Jobcenter” nennt. Bei einer Absolventenmesse für junge Handwerker und Studenten würde niemand auf die Idee kommen, dergleichen Sozialmesse zu nennen. Auch dann nicht, wenn 30 Vereine aus dem Sozialbereich sich präsentieren.

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Das Jobcenter: “Ziel der Messe ist es, den arbeitsuchenden lebensälteren Menschen die vielen Hilfsangebote zahlreicher regionaler Akteure vorzustellen. Denn für eine gelingende Rückkehr in das Erwerbsleben ist es wichtig, die ganzheitliche Lebenssituation der älteren Arbeitssuchenden in den Blick zu nehmen. Auf der Messe präsentieren sich ca. 30 Vereine, Initiativen, Bildungsträger und Verbände aus der Region Leipzig mit ihren verschiedenen Beratungs- und Unterstützungsangeboten, z.B. zu folgenden Themen: ehrenamtliches Engagement, Gesundheit, Rentenversicherung, Typ- und Stilberatung, Schuldensituation und vieles mehr. Ergänzend finden Fachvorträge zu folgenden Themen statt: Arbeit lohnt sich noch, Arbeitslosengeld II und Einkommen Pflege von Angehörigen.”

Man ahnt es: Es ist keine Vermittlungsmesse.

“Die Messe wird vor allem für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Förderprogramms ‘Mehrwert 50plus’ veranstaltet, aber auch alle anderen Interessierten sind herzlich willkommen. Auf der Messe haben die Besucherinnen und Besucher die Gelegenheit, sich zu den Unterstützungsangeboten zu informieren und sich von den Arbeitsvermittlerinnen und Arbeitsvermittlern des Projekts ‘Mehrwert 50plus’ beraten zu lassen. Der Eintritt ist kostenlos.”

Das ist also, an den Herausforderungen gemessen, noch sehr, sehr kurz gesprungen. Und auch nicht wirklich mutig. Mutig wäre: “50plus. Die Messe für lebenserfahrene Mitarbeiter.”

Montag, 1. Oktober, 9 bis 15 Uhr im Neuen Rathaus (Obere Wandelhalle)

www.leipzig.de/jobcenter

www.mehrwert50plus.de

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