Ein fieses Gespenst ist wieder da. Es verbirgt sein grauenhaftes Antlitz dieser Tage hinter dem Kassenbon vom Einkauf, versteckt sich am Preisanzeiger der örtlichen Tankstelle und zeigt sich ungeniert grinsend in den Nachrichtensendungen. Die Rede ist natürlich von der Inflation – kurz gesagt, einer anhaltenden Steigerung des Preisniveaus von Gütern.
Erinnerungen an 1923
Ein Phänomen, das in einer globalisierten Welt längst nicht nur Deutschland trifft – auch für die Vereinigten Staaten wurde im November 2021 ein Zuwachs von 6,8 Prozent gegenüber dem Vormonat gemessen – aber irgendwie scheint es so, dass gerade bei den Deutschen mal wieder ein altbekannter Dämon aktiviert wird, wenn die Preise steigen. Im Stereotyp der „German Angst“, mit dem das Ausland speziell den Deutschen eine tiefsitzende Panik vor Veränderungen unterstellt, hat auch die Furcht vor der unkontrollierten Preisspirale ihren Platz sicher.Kein Zufall, denkt man an die Hyper-Inflation in der jungen Weimarer Republik von 1923. Hatte man damals im Café seine Tasse ausgetrunken, hatte sich der Getränkepreis in der Zeit seit der Bestellung mal locker verdoppelt. Die Menschen bewegten faktisch wertlose Geldhaufen in Körben und Schubkarren durch die Gegend, um sie irgendwie noch schnell gegen ein Stück Seife oder Brot zu tauschen, das über 100 Milliarden Reichsmark kam. Unvorstellbar und irrsinnig – damals Realität.
Der Apfel als Erklärbeispiel
Unbestritten: Heute ist die Situation eine andere als damals, kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Doch die Szenerien vor fast 100 Jahren haben sich tief ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Gerade deswegen lohnt sich noch mal der Blick: Was ist Inflation eigentlich, wie kommt sie zustande und wie lässt sich die aktuelle Teuerung erklären, die so vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern Sorgenfalten ins Gesicht jagt? Ist es wegen der Corona-Pandemie?
Und was kommt 2022 auf uns zu?
Dazu der kurze Ausflug in die Wirtschaftswissenschaft: Wie schon gesagt, bedeutet Inflation (lat. „inflare“ = „aufblähen“) einen allgemeinen Anstieg des Preisniveaus und damit sinkenden Wert einer gleichbleibenden Geldeinheit. Logisch: Kostete mich der Apfel bisher einen Euro und der Preis steigt auf zwei Euro an, kriege ich für meinen Euro nun theoretisch nur noch einen halben Apfel.
Inflation kommt auf verschiedenen Wegen
Genau dies lässt sich auch in großem Maßstab beobachten. Vor allem für Lebensmittel (hier speziell Öle, Fette, Eier und Milchprodukte), langlebige Güter wie private PKW, Möbel und Haushaltszubehör sowie Energie (Heizöl, Kraftstoffe) musste im November ordentlich draufgezahlt werden. Bei den sogenannten Gebrauchsgütern – diese werden im Gegensatz zu Konsumgütern langfristig genutzt – schlug der Preisanstieg mit 4,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zu Buche.
Beim klassischen Beispiel eines Gebrauchsgutes, dem Auto, waren es sogar 7,7 Prozent. Insgesamt meldet das Statistische Bundesamt eine Teuerungsrate von 5,2 Prozent im November 2021, verglichen mit dem gleichen Monat des Jahres 2020.
Prinzipiell kommt eine Inflation auf verschiedenen Wegen zustande. Bei der Nachfrage-Inflation ist es eigentlich selbsterklärend: Trifft eine hohe Nachfrage von Kunden auf ein begrenztes Angebot von Gütern, setzen Unternehmen die Preise herauf.
Ein weiterer Weg ist die Kosten-Inflation. Ziehen die Preise zum Beispiel wichtiger Rohstoffe auf dem Weltmarkt an, klettern auch die Produktionskosten von Herstellern und sie geben dies an die Endverbraucher weiter. Klassisches Beispiel ist der „Ölpreisschock“ des Jahres 1973 – damals hatte die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) einen Lieferboykott gegen Verbündete Israels verhängt.
Und dann wäre da noch die Geldmengen-Inflation. Plakativ und vereinfacht gesprochen: Wirft eine Regierung die Notenpresse an und schickt immer mehr Geld in Umlauf, ohne dass die Produktion schritthält, bleibt die Gütermenge gleich, während sich die Geldmasse erhöht. Wenn also ein Ei erst einen Euro kostet und die Geldmenge dann mal eben verdoppelt wird, gibt es mehr Geld, aber nicht mehr verfügbare Eier – und das eine Ei kostet plötzlich zwei Euro.
Moderate Inflation gilt als wünschenswert
Für viele Menschen in Deutschland und überhaupt, gerade aus ärmeren Bevölkerungsschichten, wirkt sich eine Inflation deutlich auf das Portemonnaie aus – und sie bekommen Teuerungen als erste zu spüren. Doch ein differenzierter Blick auf das Phänomen ist wichtig, um die Wirklichkeit korrekt einzuschätzen und sich selbst zu überlegen, inwieweit panische Szenarien und Alarmismus weiterhelfen (kleiner Spoiler: gar nicht).
Zunächst gilt eine moderate Inflationsrate von 2 Prozent, wie sie auch von der Europäischen Zentralbank (EZB) angestrebt wird, als wünschenswert für eine solide Ökonomie jenseits von Schwäche oder Überhitzung.
Umgekehrt: Eine Inflationsrate darunter wäre gar nicht so positiv, weil sie ein Zeichen für geringe Nachfrage und damit schwächelnde Wirtschaft darstellt. Dazu kommt, dass Sparerinnen und Sparer dann kaum mit Zinsen rechnen können.
Corona-Schreck und strukturelle Probleme
Wie aber entsteht die aktuelle Situation der gestiegenen Preise auch in Deutschland? Das ist im Detail durchaus umstritten, fest steht aber, dass es sich um ein Bündel mehrerer Ursachen handeln dürfte. Hier liegen zugleich Antworten auf die Frage, wie die problematische Teuerung deutlich über dem angestrebten 2 Prozent-Satz zustande kommt und warum es sich lohnt, genau hinzusehen.
Erstens: Der Corona-Schock, das dominierende Thema des Jahres 2020, hat für massive Unsicherheiten gesorgt und viele Marktpreise zunächst einmal auf Talfahrt geschickt. Dies und eine politische Maßnahme, nämlich die vorübergehend gesenkte Mehrwertsteuer, hatten im Vorjahr teils sogar kurzzeitig für einen Rückgang der Preise gesorgt, etwa bei Mineralölprodukten.
Wird nun der heutige Preis mit dem damaligen verglichen, ist klar: Nicht etwa eine täglich galoppierende Verteuerung bringt eine Rate von über 5 Prozent zustande, sondern der Umstand, dass der Preis vor einem Jahr durch beschriebene Effekte eben außerordentlich günstig ausfiel.
Zweitens: Krisenbedingt – auch hier lässt die Pandemie grüßen – hat die weltweite Verbreitung des Virus’ Herstellungs- und Lieferketten auf dem Globus hart erwischt. Produktionseinbrüche durch ausbleibende Aufträge, der Ausfall von Arbeitskräften und Reisebeschränkungen waren die Folge. Da 2021 die wieder anziehende Nachfrage auf ein knapperes Angebot trifft – Nachfrageinflation! – kennen die Preise auch hier erst einmal nur den Weg aufwärts.
Außerdem kommt es, ob bei Spielzeug, Kleidung, Elektronik, Möbel oder Fahrrädern, derzeit zu Lieferproblemen. Und bald vielleicht zu manch herber Enttäuschung unter dem Weihnachtsbaum, weil das Gewünschte schlicht (noch) nicht da ist.
Das Problem mit dem Warenkorb
Der berühmte Warenkorb – ein theoretisches Gebilde mit allen relevanten Gütern und Dienstleistungen zum Leben, der als Berechnungsgrundlage für die Inflation dient – ist für Kritiker sowieso ein Objekt, an dem sie sich gern abarbeiten, weil er nach ihrer Meinung nicht die Lebenswirklichkeit aller Menschen abbildet.
Er ist eine unperfekte Annäherung – und wer will bestreiten, dass der Warenkorb eines Gutverdiener-Singles nicht dem des Rentner-Ehepaares, der Mittelstands-Familie oder der Studentin entspricht? Das Konstrukt ist nicht falsch, aber mit Vorsicht zu genießen, weil Inflation einzelne Menschen je nach Priorität unterschiedlich trifft.
Das zeigte sich auch 2021: Der Preis für Pauschalreisen gegenüber dem Vormonat ging sogar um 21,6 % zurück. Bei Dienstleistungen fiel der Anstieg über das Jahr 2021 eher moderat aus.
Alles halb so wild?
Alles halb so schlimm also, was die aktuelle Inflation angeht? Ja und nein. Ja insofern, als sich bei genauer Hinterfragung der Zahlen und der Berechnungsgrundlagen eben manches relativiert. Viele Fachleute halten die erhöhte Inflation zudem für ein vorübergehendes Phänomen und rechnen mit einer Entspannung 2022. Für den bedenklichen Teufelskreislauf einer Lohn-Preis-Spirale – Inflation führt zu höheren Lohnforderungen von Gewerkschaften, das wiederum heizt Nachfrage und Preise an usw. – sehen sie zumindest derzeit keine Anzeichen.
Ganz pragmatisch gedacht mag man auch erkennen: Die derzeitige Situation ist wahrscheinlich eine besondere, die sich wieder verflüchtigen wird, und unmittelbar kann man einfach nichts ändern. Panik wäre ein schlechter Berater, und von einer Lage wie 1923 sind wir weit entfernt.
Nein insofern, als die Preissteigerungen gerade bei Nahrungsmitteln essenziell sind und jeden von uns treffen, zuerst Ärmere, Geringverdiener, Singles, Ältere und Alleinerziehende. Zudem weiß niemand, wie sich die dynamische Situation mit der Pandemie, der Omikron-Variante des Virus, 2022 weiterentwickeln wird.
Von möglichen Klimawandel-Folgen wie Ernteausfällen und der politischen Großwetterlage, die niemand vorausberechnen kann, haben wir da übrigens noch nicht gesprochen.
Was kommt 2022?
Sehr wahrscheinlich werden uns höhere Preise auch 2022 weiter begleiten. Die Frage ist, in welchem Ausmaß. Viele Firmen unter Druck haben schon „Anpassungen“ verlautbart.
In einem aktuellen Beitrag des Hessischen Rundfunks kündigt zum Beispiel der Spielehersteller Schmidt an, Spiele würden nächstes Jahr leicht teurer – was jetzt noch für 9,99 Euro zu haben ist, könnte dann im Geschäft 10,50 Euro oder 10,90 Euro kosten.
Josef Friedrich Schmidt (1871–1948) kennt heute kaum noch jemand – dafür aber seine berühmte Kreation, das Brettspiel „Mensch-ärgere-dich-nicht.“ Wenn der Klassiker also demnächst teurer als bisher im Regal steht: Vielleicht sollte man ihn dennoch kaufen, ein paar Runden mit Freunden spielen und das Motto einfach ganz ernst nehmen.
„Inflation in Deutschland: Mega-Gefahr, Panik-Hype, Angst-Neurose? Warum wir gelassen, aber wachsam sein sollten“ erschien erstmals am 17. Dezember 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 97 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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