Es war ein echtes Eigentor, das der Südtiroler Landesrat für Landwirtschaft Arnold Schuler da für sich und Südtirol schoss, als er seine Strafanzeigen gegen das Umweltinstitut München, oekom-Autor Alexander Schiebel und den Münchner oekom verlag stellte. Es ging um ein Buch, das über das „Wunder von Mals“ berichtete, den Versuch einer Gemeinde mitten im Vinschgau, den Pestizideinsatz auf seinen Obstplantagen zu beenden – und wie ihm das von der Landesverwaltung geradezu verboten wurde.

Logisch, dass so ein Buch und der zugehörige Film gewaltige Wellen schlugen. Viele Leser erfuhren erst so, mit welchem gewaltigen Pestizideinsatz die Obsternten in Südtirol besprüht werden. Das empfand nicht nur der Landesrat als eine Verunglimpfung des schönen Obstanbaugebietes. Über 1.300 Obstbauern traten der Klage bei. Am Dienstag, 15. September, sollte der Prozess in Bozen beginnen.

Und er begann auch, auch wenn der ebenfalls betroffene oekom verlag am Montag noch melden konnte: „Laut einer Meldung der Südtiroler Landesverwaltung zieht der Südtiroler Landesrat für Landwirtschaft Arnold Schuler seine Strafanzeigen gegen das Umweltinstitut München, oekom-Autor Alexander Schiebel und den oekom verlag zurück. Laut Angaben des vertretenden Rechtsanwalts Nicola Canestrini wurde diese Information allerdings bis dato noch nicht offiziell bestätigt.

Die Beklagten werten diesen Schritt als Zeichen, dass der öffentliche Druck für Schuler zu groß wurde. Sie hatten in Verhandlungen mit dem Landesrat stets klargestellt, dass die Rücknahme aller Strafanzeigen die Grundbedingung für eine außergerichtliche Einigung sei.“

Tatsächlich hatte Schuler mit seiner Anzeige mehr Schaden angerichtet, als dass er irgendeinen Nutzen aus dem Prozess ziehen könnte. Denn damit gab er der Kritik am massenhaften Pestizideinsatz erst die große Bühne. Und dem Obst ist diese Kampagne ganz bestimmt nicht bekommen. Denn die meisten Käufer bevorzugen nun einmal Äpfel möglichst ohne Pestizideinsatz.

Schneller kann man seinen Ruf gar nicht ruinieren.

Nicola Canestrini erklärt dazu gemeinsam mit Francesca Cancellaro, Verteidiger der Angeklagten: „Wir sind natürlich sehr erfreut über die Ankündigung, dass Landesrat Schuler sich anscheinend dazu gezwungen sah, die Anzeige bedingungslos zurückzunehmen. Im Laufe des morgigen ersten Prozesstages wird sich klären, ob auch wirklich alle der über 1.600 Strafanzeigen zurückgenommen wurden, und dementsprechend werden wir unsere Bedingungen für die Annahme zu Protokoll bringen. Was angebliche ,geheime Verhandlungen‘ und sonstige Gerüchte angeht, weiß jeder, dass (übrigens: vertrauliche!) Vergleichsgespräche nur bei erreichter Einigung erfolgreich sind. In den im Vorfeld geführten Gesprächen konnte die Gegenpartei nicht einmal die entsprechenden Vollmachten der weiteren Anzeigenden vorweisen.“

Südtirol verklagt Umweltschützer | Pestizideinsatz im Apfelanbau | quer vom BR

https://www.youtube.com/watch?v=o5OmbemdFMU

Die Angeklagten begrüßen den Vorstoß ebenfalls. oekom-Autor Alexander Schiebel: „Die Welle der Solidarität, die über die ganze Welt bis nach Südtirol gerollt ist, hat bei Landesrat Schuler möglicherweise ein radikales Umdenken bewirkt. Wir werden allerdings nicht zu früh jubeln. Erst, wenn alle Angeklagten freigesprochen sind, können wir aufatmen. Bis dahin bleiben wir wachsam.“

Karl Bär, Agrarreferent beim Umweltinstitut München: „Sollte sich bewahrheiten, dass dieser skandalöse Prozess nun zu einem schnellen und guten Ende kommt, bedeutet das einen Sieg auf voller Linie für die Meinungsfreiheit in Europa. Die Einsicht, dass öffentlicher Druck und ein wachsames Auge der Gesellschaft strategische Klagen schon vor dem ersten Prozesstag zum Scheitern bringen können, dürfte sich bei potenziellen Klägern ebenso verbreiten wie unter den möglichen Opfern solcher Prozesse. Wenn wir dazu einen Teil beigetragen haben, dann haben wir noch deutlich mehr erreicht als einen bloßen Freispruch.“

Film „Das Wunder von Mals“ ORF konkret

Warum doch ein Prozess?

Der Prozess begann dann trotzdem am Mittwoch, 15. September. In Bozen fand der Auftakt im Prozess wegen übler Nachrede gegen Karl Bär, den Agrarreferenten des Umweltinstituts München, statt. Das Umweltinstitut München und der oekom verlag riefen den Südtiroler Landesrat Arnold Schuler auf, seinem Angriff auf die Meinungsfreiheit endlich ein Ende zu setzen.

Er müsse unverzüglich seine eigene Anzeige gegen Pestizid-Kritiker aus Deutschland und Österreich offiziell zurückziehen und dafür sorgen, dass auch alle weiteren Anzeigen ad Acta gelegt werden. Dies ist entgegen Arnold Schulers Ankündigung nicht geschehen.

Der Grund dafür: Die Vollmachten der mehr als 1.300 Landwirt/-innen fehlten, die sich Schulers Anzeige angeschlossen hatten. Der Richter setzte deshalb im Verfahren am Dienstag den Klägern eine Frist bis zum 27. November, um alle Anzeigen zurückzunehmen.

Der Ausgang ist damit weiterhin offen, betont das Umweltinstitut München. Als Nebenkläger ließen sich neben Arnold Schuler noch zwei Landwirte ein.

Karl Bär und Alexander Schiebel. Foto: Umweltinstitut / Jörg Farys
Karl Bär und Alexander Schiebel. Foto: Umweltinstitut / Jörg Farys

Nicola Canestrini, Rechtsanwalt der Beklagten, zum Prozess am Dienstag: „Es ist ein gutes Zeichen, dass die Kläger heute auch vor dem Richter bestätigt haben, ihre Klage fallenlassen zu wollen. Erstaunlich ist allerdings, dass Landesrat Schuler nun als Nebenkläger auftritt und gemeinsam mit den weiteren Nebenklägern aus der Obstwirtschaft eine Schadenersatzforderung von einem Euro geltend machen will. Damit liegt auf der Hand, dass der wahre Zweck seiner Strafanzeigen von 2017 nicht die Wiedergutmachung eines Schadens war. Er wollte mit seiner Anzeige die Debatte um den schädlichen Einsatz von Pestiziden in Südtirol unterbinden.“

Alexander Schiebel, Buchautor: „Landesrat Schuler hat mit seinen Anzeigen Südtirol einen enormen Imageschaden zugefügt. In ganz Europa ist nun bekannt, dass in Südtirol nicht nur ein Pestizid-Problem, sondern auch ein Demokratieproblem herrscht. Aufgrund des enormen öffentlichen Drucks von hunderttausenden Menschen aus ganz Europa musste sich Arnold Schuler nun eines eines Besseren besinnen. Wir hoffen, dass er Wort hält. Bis wir nicht alle zurückgenommenen Anzeigen auf unserem Tisch haben, werden wir mit unserer Kritik an diesen unsäglichen Verfahren nicht aufhören.“

Karl Bär, Agrarreferent beim Umweltinstitut München: „Auch wenn wir entgegen der Verlautbarungen von Herrn Schuler noch immer mit Anzeigen konfrontiert sind, haben wir heute vor Gericht einen großen Teilerfolg errungen. Die Staatsanwaltschaft Bozen hat auf unseren Antrag hin die Betriebshefte der mehr als 1.300 Landwirt/-innen einsammeln lassen, die sich der Anzeige des Landesrates angeschlossen hatten. Darin enthalten sind die genauen Angaben, welche und wie viel Pestizide jeder einzelne Landwirt im Jahr 2017 auf seinem Acker ausgebracht hatte. Auch wenn der Prozess eingestellt werden sollte, können wir auf diese konkreten Daten zurückgreifen – was europaweit so noch nie zuvor möglich war.“

Kurz vor der Gerichtsverhandlung hatten in Bozen das Umweltinstitut München sowie weitere Aktivist/-innen gegen den Angriff auf die Meinungsfreiheit demonstriert. Sie verklebten sich vor Ort die Münder, um symbolisch gegen den Versuch von Landesrat Schuler zu protestieren, Pestizid-Gegner/-innen mundtot zu machen.

„Die Wahrheit auszusprechen ist kein Verbrechen!“ stand auf einem großen Plakat, das Karl Bär sowie den österreichischen Buchautor Alexander Schiebel abbildete, der ebenfalls wegen übler Nachrede angeklagt ist. Unterstützung erhielten die Angeklagten auch von mehr als 100 Umwelt-, Sozial- Verbraucherschutz- und Agrarverbänden sowie kirchlichen und direktdemokratischen Initiativen aus aus der ganzen Welt, darunter Greenpeace, die Deutsche Umwelthilfe, Slowfood, der Europäische Berufsimkerverband, Legambiente und der WWF Italien.

Vertreten sind Organisationen aus 18 Ländern, von Italien über Ungarn bis Neuseeland. Sie veröffentlichten heute in „La Repubblica“ und in „La Stampa“, die zu den bedeutendsten Tageszeitungen Italiens gehören, eine gemeinsame Solidaritätserklärung. Zudem haben bereits mehr als 200.000 Menschen aus ganz Europa einen Appell der Kampagnennetzwerke Campact und WeMove an Landesrat Arnold Schuler unterzeichnet, in dem dieser aufgefordert wird, seine Anzeigen fallenzulassen.

Was passiert in Südtirol?

In Südtirol werden auf rund 18.000 Hektar ungefähr die Hälfte der Äpfel Italiens und rund zehn Prozent aller in der EU geernteten Äpfel produziert. Auch etwa jeder zehnte Apfel in deutschen Supermärkten kommt von hier. Damit diese intensive Landwirtschaft funktioniert, werden große Mengen an Pestiziden eingesetzt. Laut aktuellen Zahlen des italienischen Statistikamts wurden in Südtirol im Jahr 2018 sechs mal mehr Pestizide verkauft als im italienischen Durchschnitt. Bis zu 20 Mal pro Saison werden die Apfelplantagen gespritzt.

Das Umweltinstitut München hatte im Jahr 2017 mit einer Kampagne den hohen Einsatz von Spritzmitteln in den Südtiroler Apfelplantagen kritisiert. Alexander Schiebel veröffentlichte im selben Jahr das Buch „Das Wunder von Mals”, in dem er die Geschichte einer Bürgerinitiative für ein pestizidfreies Mals schildert und dabei auch den Pestizideinsatz in Südtirol und das Verhalten der dortigen Obstwirtschaft anprangert. Der Südtiroler Landesrat Arnold Schuler hatte sie daraufhin gemeinsam mit über 1.300 LandwirtInnen angezeigt. Der Vorwurf: Üble Nachrede zum Schaden der Südtiroler Landwirtschaft.

Auch weitere Vorstandsmitglieder des Umweltinstituts München und der Verleger von Alexander Schiebel, Jacob Radloff vom oekom verlag, wurden angezeigt. Den Betroffenen drohen bei einer Niederlage nicht nur eine Haft- und Geldstrafe, sondern auch mögliche Schadensersatzforderungen von der Landesregierung und den Nebenklägern und damit der finanzielle Ruin.

Alexander Schiebel, Autor von „Das Wunder von Mals“, soll sich jetzt vor Gericht verantworten

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Da weiß man endlich, welche Äpfel man nicht mehr kauft. Die aus China sowieso nicht. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen irgendwelche Erkrankungen haben, bei dem hohen Einsatz von Pestiziden. Welchem Lebensmittelhersteller kann man noch trauen?

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