Dass die Autofahrer selbst schuld sein könnten, dass sie immer öfter im dichten Verkehr hängen bleiben, ist zumindest für Leipzigs Kammerpräsidenten jenseits aller Vorstellungen. Eine neue Erhebung des Navigationsdienstleisters TomTom, die Anfang des Jahres veröffentlicht wurde, nutzen die beiden Kammerpräsidenten Matthias Forßbohm (Handwerkskammer) und Kristian Kirpal (IHK), um in einer gemeinsamen Pressemitteilung am 9. Januar wortgewaltig über die Verkehrspolitik der Stadt Leipzig herzuziehen. Mit ziemlich falschen Argumenten.

„Die Zusicherungen und Beteuerungen aus dem Dezernat Stadtentwicklung und Bau, den Stadtratsbeschluss im Interesse aller Verkehrsarten umzusetzen, sind das viele Papier nicht wert, auf dem sie uns gegeben worden sind. Jetzt ist der Oberbürgermeister gefragt, den zuständigen Dezernenten mit dem nötigen Nachdruck auf die Einhaltung des Stadtratsbeschlusses hinzuweisen“, polterte zum Beispiel Matthias Forßbohm, Präsident der Handwerkskammer zu Leipzig.

Beide Kammerpräsidenten berufen sich dabei auf den einen Satz, den Gegner der Verkehrswende in Leipzig immer wieder zitieren, um den Stadtratsbeschluss zum nachhaltigen Verkehrsszenario 2018 als Beleg dafür heranzuziehen, dass der motorisierte Verkehr nicht beschränkt werden dürfe: „Da das zunehmende Verkehrsaufkommen im Umweltverbund abgebildet wird, können der Verkehrsfluss und die Durchschnittsgeschwindigkeit im ÖPNV, MIV und insbesondere auch im Wirtschaftsverkehr, im Vergleich zum heutigen Niveau aufrechterhalten werden.“

Wer sich allein an diesem Satz festhält, sieht jede Verbesserung für Radfahrer, Fußgänger und ÖPNV mit Misstrauen. Die Äußerungen der Kammerpräsidenten erwecken den Eindruck, dass eine Rückkehr zur autogerechten Stadt die Lösung für alle Probleme urbaner Mobilität sei. Der ADFC Leipzig e.V. und die Initiative Verkehrswende Leipzig kritisieren diese einseitige Sichtweise scharf und fordern stattdessen die konsequente Umsetzung der 2018 einstimmig beschlossenen Mobilitätsstrategie der Stadt Leipzig.

Die Strategie sieht eine Verlagerung vom motorisierten Individualverkehr hin zur Mobilität zu Fuß, mit dem Rad oder mit Bus und Bahn vor und schafft damit auch bessere Rahmenbedingungen für den Wirtschaftsverkehr.

IHK und HWK ignorieren die Potenziale zukunftsorientierter Mobilität

Die IHK und HWK beklagen die vermeintliche Benachteiligung des Autoverkehrs und die steigende Zeitbelastung durch Staus, wie sie im aktuellen TomTom Traffic Index beschrieben wird. Dabei wird übersehen, dass nicht die zaghaften Maßnahmen zur Förderung nachhaltiger Mobilität, sondern der raumgreifende Kfz-Verkehr die Hauptursache für die Verkehrsprobleme ist, stelle ADFC und Verkehrswende Leipzig fest.

„Die Stadt- und Verkehrsplanung der letzten Jahrzehnte hatte die Infrastruktur und Flächennutzung in Leipzig weitgehend auf Autos zugeschnitten. Der dringend erforderliche Übergang hin zu nachhaltigen Verkehrsmitteln geht bisher nur schleppend voran. Wir müssen diesen Wandel jetzt entschlossener angehen, um Mobilität für alle zu ermöglichen und die Anziehungskraft der Stadt zu erhalten. Überholte Planungsansätze bringen uns nicht weiter. Die Verkehrswende ist kein Selbstzweck, sondern eine Notwendigkeit für die Zukunft unserer Stadt“, betont Katja Roßburg von der Initiative Verkehrswende Leipzig.

TomTom Traffic Index: Verzerrtes Bild der Wirklichkeit

Der TomTom Traffic Index wird oft als Rechtfertigung für die Förderung des Autoverkehrs genutzt. Dabei weist die vom Anbieter nicht vollständig offengelegte Methodik des Rankings erhebliche Schwächen auf. So misst der Index lediglich Zeitverluste in den Spitzenstunden im Vergleich zu einer fiktiven Freie-Fahrt-Situation. Zudem werden in Städten mit vielen Schnellstraßen und Autobahnen die Durchschnittsgeschwindigkeiten deutlich höher ausgewiesen.

Die tatsächliche Mobilität und ihre gesellschaftlichen Kosten – wie Flächenverbrauch, Straßeninstandhaltung, Lärmbelastungen, Luftverschmutzung und Unfallrisiken – werden nicht berücksichtigt. Der Index betrachtet allein den motorisierten Individualverkehr, der in Leipzig bei einem Anteil von etwas mehr als einem Drittel aller Wege liegt, während nachhaltige Verkehrsmittel und ihre Vorteile für urbane Räume nicht einbezogen werden.

In einem Forschungsprojekt der Universität Kassel wurde festgestellt, dass deutschen Kommunen Autoverkehr im Vergleich zum ÖPNV das Dreifache kostet. Weitere Kosten-Nutzen-Analysen belegen, dass Fuß- und Radverkehr im Gegensatz zum Autoverkehr volkswirtschaftlichen Gewinne liefern.

Warum die Mobilitätsstrategie der richtige Weg ist

Die Interpretation des TomTom Traffic Index als Beleg für eine fehlgeleitete kommunalen Verkehrspolitik ist wissenschaftlich unhaltbar. Die Lösung für Leipzig liegt nicht im teuren Ausbau der Autoinfrastruktur, sondern in einer konsequenten Förderung des kosteneffizienteren Umweltverbunds, stelle ADFC und Verkehrswende Leipzig fest.

Die Mobilitätsstrategie setze mit dem Nachhaltigkeitsszenario richtigerweise auf die Förderung von Fuß- und Radverkehr sowie ÖPNV. Eine deutliche Reduzierung des Kfz-Verkehrs führt zu einer effizienteren Nutzung des Straßenraums, zu besserer Luftqualität, weniger Lärm und mehr Sicherheit.

„Die Behauptung der Leipziger Wirtschaftskammern, dass mehr Platz fürs Auto nötig sei, um Staus zu vermeiden und den Verkehrsfluss zu beschleunigen, ist ein Trugschluss, der die Problematik verschärft. Das wäre in etwa so, als würde man bei einem verstopften Trichter vorschlagen, einfach oben noch mehr hereinzuschütten.

Jeder kann intuitiv verstehen, dass am Trichterende nicht mehr herauskommt. Genauso führt die vorrangige Gestaltung der Infrastruktur für Kraftfahrzeuge durch den bekannten Effekt der induzierten Nachfrage zu mehr Autoverkehr und damit zu noch mehr Staus. Der Platz auf unseren Straßen ist jedoch begrenzt“, erklärt Philipp Böhme vom ADFC Leipzig e.V.

Forderungen an Stadtverwaltung und Stadtpolitik

Der ADFC Leipzig e.V. und die Initiative Verkehrswende Leipzig rufen die Stadtverwaltung und die Stadtpolitik auf, derartigen Forderungen nach einer Rückkehr zur autogerechten Stadt eine klare Absage zu erteilen. Stattdessen muss die Mobilitätsstrategie zügig und konsequent durch die Verwaltung umgesetzt werden und darf nicht in der Ratsversammlung blockiert werden. Folgende Maßnahmen sollten im Fokus stehen:

Zielorientierte Investitionsentscheidungen: Angesichts knapper öffentlicher Kassen und zeitlich schwindendem Handlungsspielraum muss die Priorisierung von Investitionen auf Analysen der Kosten-Nutzen-Verhältnisse beruhen, die an den Zielen der Mobilitätsstrategie ausgerichtet sind.

Kostengünstiger und wirkungsvoller Ausbau der Radinfrastruktur: Die gewünschte Verlagerung kann mit dem ÖPNV allein nicht schnell genug umgesetzt werden. Die Verlagerung muss nicht nur direkt vom Auto auf das Rad ermöglicht werden, sondern das Rad als Alternative zum ÖPNV hilft in Spitzenstunden auch Kapazitäten im ÖPNV zu schaffen.

Flächendeckendes Parkraummanagement: Die Nutzung des öffentlichen Raums und von privaten Parkflächen muss effizienter gestaltet werden. Dies schafft bessere Bedingungen für den Anlieferungsverkehr von Gewerbe und Handwerk sowie Parkmöglichkeiten für haushaltsnahe Dienstleister.

Forderungen an die Wirtschaftskammern IHK und HWK

Letztlich sind auch die Wirtschaftskammern und ihre Mitgliedsunternehmen aufgerufen, eigene Lösungen zu entwickeln. Betriebliches Mobilitätsmanagement wird von IHK und HWK weder auf ihren Webseiten thematisiert, noch werden hierfür konkrete Beratungsangebote offeriert.

Auch den Zertifikatslehrgang „Betriebliches Mobilitätsmanagement“ scheint man bei der IHK Leipzig nicht anbieten zu wollen. Dagegen präsentiert sich der Westdeutsche Handwerkskammertag fortschrittlich mit seinem umfangreichen Informations- und Beratungsangebot „Mobility Hub Handwerk Nordrhein-Westfalen“.

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Es gibt 12 Kommentare

@Sebastian
Ja, da geht es nur um die private Nutzung, nicht um Wirtschaftsverkehr. Jede 3. private Autofahrt ist kĂĽrzer als 3km, jede 2. private Autofahrt ist kĂĽrzer als 5km. Nur jede 10. private Autofahrt der Leipzigerinnen und Leipziger ist weiter als 10km – also 90% sind kĂĽrzer als 10km. 1/3 aller privaten PKW-Fahrten sind laut SrV 2018 Binnenverkehr (also Fahrten innerhalb Leipzigs).

> “Und warum sind dennoch immernoch mehr als 10% aller Autofahrten kĂĽrzer als 1km?”
Da sind aber Lieferdienste, Pflegedienste, Taxis, Boten, Handwerker und die ganzen Paketdienstleister schon rausgerechnet, oder?

Ja, wahrscheinlich der “TomTom Traffic Index” genau so irrelevant wie der “Global Traffic Scorecard”, auf den die CDU-Fraktion 2023 angesprungen ist und lustige Fragen an den OBM stellte (VII-F-08109).

Mal in den Raum geworfen: Gibt es ĂĽberhaupt eine Zunahme der “Staus” im Sinne der Erhebung. Da es heute mehr Abschnitte mit T30 vor Schulen gibt, kann dort theoretisch nicht mehr 50 gefahren werden. Zusätzliche LSA fĂĽhren zu mehr Wartezeit an roten Ampeln. Wir reden hier ĂĽber insgesamt 38 Stunden/Jahr “Stauzeit”, Ludigsfelde und Geilenhofen haben 30 Stunden/Jahr “Stauzeit”. Wie schlimm geht es den Autofahrys also tatsächlich? Und warum sind dennoch immernoch mehr als 10% aller Autofahrten kĂĽrzer als 1km?

Ich glaube hier gibt es ein Missverständnis.
Was ich meinte:
Aktuell gibt es immer mehr Fälle, wo sich Räder auf Aufstellungsflächen an Kreuzungen “stapeln”, auch auf Mittelinseln.
Weil immer mehr Leute Rad fahren. Forderung: vergrößert die Aufstellungsflächen für den fließenden (Rad)Verkehr.
Hier bei den Autos wird gesagt, sie erzeugen selbst den Stau, schön blöd von denen. Sollen sie halt nicht Auto fahren. Das ist nicht Äpfel mit Birnen, das ist einfach ein Sau schlechtes Argument.

> “AuĂźerdem vergleichen Sie zugelassene mit verkehrenden Autos im Rahmen der Verkehrszählung.”
Was ich sagte: obwohl die Verkehrszählungen für Autos seit Jahren bergab gehen, wird immer wieder erzählt, dass die Autofahrer ja selber schuld seien, wenn sie im Stau stehen. Siehe hier im Artikel:
“… selbst schuld sein könnten, dass sie immer öfter im dichten Verkehr hängen bleiben”
Das ist nicht ruhender Verkehr vs. Birnen, das ist eine auffällig falsche Erzählung.
Man kann nicht sinkende Kfz – Nutzung auf den StraĂźen durch Zählung fahrender Autos als BegrĂĽndung nehmen, das die Spuren reduziert werden können. Und gleichzeitig den Nutzern vorwerfen, die wĂĽrden immer mehr und verursachen den Stau “immer öfter”.

Jeder weiĂź, dass man zwischen runder Ecke und dem neuen Rathaus im Stau steht, weil die Spuren reduziert wurden ohne die Ampelschaltung anzupassen, und nicht weil heute doppelt so viele Autos fahren wie frĂĽher.

@Sebastian
Sie vergleichen mal wieder Ă„pfel mit Birnen. Zum einen nämlich flieĂźenden mit ruhendem Verkehr. Ja, man muss keine neuen Aufstellflächen fĂĽr Räder an Kreuzungen bauen. HeiĂźt aber nicht, dass man diese Flächen dann fĂĽr das Abstellen privater KfZ nutzen könne. Sie könnten auch ganz simpel dem FuĂźverkehr zugeschlagen werden. Wir können auch gerne den von den stehenden KfZ genutzten öffentlichen Raum auf das Niveau der möglichen Radabstellplätze zurĂĽckbauen. Wollen wir das pro StĂĽck oder pro mÂł machen? Egal, da verliert sowieso das Auto. Ich möchte auch behaupten, dass Radfahrer prozentual mehr private Flächen zum abstellen ihrer Räder nutzen als Autofahrer…
Außerdem vergleichen Sie zugelassene mit verkehrenden Autos im Rahmen der Verkehrszählung. Selbst wenn mehr KfZ zugelassen worden sind, können diese immer noch weniger fahren. Heißt schlichtweg einfach, dass sie wesentlich mehr herumstehen. Kostenfrei. Im öffentlichen Raum.

> “Dass die Autofahrer selbst schuld sein könnten, dass sie immer öfter im dichten Verkehr hängen bleiben…”
Also mit DEM Argument muss man auch keine neuen Aufstellflächen fĂĽr Räder an Kreuzungen planen. Die Radfahrer könnten ja auch einfach nicht Rad fahren, sondern Bahn…
Was stimmt denn nun? Stagnieren die Zulassungen fĂĽr Autos, oder haben wir eine ” Blechexplosion”? Sind die Zählungen von Autos auf vielen StraĂźen seit Jahren rĂĽckläufig (was als Argument fĂĽr Verkleinerung benutzt wird), oder wird es immer mehr? Erzählt eure Narrative doch mal konsistent!

> “Die Stadtgesellschaft war sich schon einmal einig…”
Aber das ist doch gar nicht so. Es war sich der Stadtrat einig. Und auch nur insofern, daĂź es eine juristisch hinreichende Mehrheit im Stadtrat gab. Eine “Einigkeit in der Gesellschaft” gab es nicht und insofern war man auch nicht “schon mal weiter”.

@Tai.Fei
Wie stellst Du Dir das denn bloß vor. Sollen Matthias und Kristian etwa mit der Bimmel zum Angrillen oder den Frühling-Sommer-Herbst-Winter-Festen der zahlreichen CDU-Ortsverbände fahren? Wie sieht das denn aus?

Man sollte aber auch wissen, dass gerade Matthias Forßbohm vom Schicksal arg gebeutelt ist. Nicht nur, dass er ein Lautsprecher der Schwarzblaubraunen Autolobby in Leipzig ist. Er kann auch demnächst nicht mehr vor seiner eigenen Haustür seine Gehhilfe kostenfrei im öffentlichen Raum lagern. Denn die Linksgrünsiffigen dieser Stadt haben ihm doch dort eine Schulstraße in Form eines verkehrsberuhigten Bereichs hingezimmert. Gut. Er hätte natürlich auch 25 Jahre lang sein Vehikel im Parkhaus zwei Ecken weiter abstellen können. Da er und die ähnlich Veranlagten dies aber nicht getan haben, wurde das Parkhaus vor drei Jahren kurzerhand abgerissen. Schon traurig irgendwie. Er könnte einem echt leidtun.

Das Rad als Alternative für den ÖPNV? Es wäre ja schön, wenn xer ÖPNV in Leipzig noch die gleiche Priorität hätte wie in den 80s. Stattdessen ist er trotz Einwohnerwachstum zurück gebaut worden und Verkehsprojekte wie die Südsehne werden weiter verschleppt, obwohl die seit Jahrzehnten angedacht waren. Klar Mobilität als ÖFFENTLICHE Daseins Vorsorge ist ja nicht gewünscht, kann man besser privatisieren und wenns mit dem Rad ist.

Die Stadtgesellschaft war sich schon einmal einig dazu, das bei allen Maßnahmen der Stadt Vorrang der ÖPNV haben sollte, siehe Mobilitätsszenario. Es ist für diese kleinteilige Stadt einfach zu viel individualer motorisierter Verkehr unterwegs. Dadurch stecken dann auch oder gerade der Wirtschaftsverkehr und der ÖPNV mit im Stau. Neue Tunnel oder weitere Straßen lösen das Verkehrsproblem nicht, sondern die Staus verlagern sich an die Kreuzungen oder Engstellen und kosten viel Geld, was die Stadt nicht hat.

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