Fast sah es so aus, als würde ausgerechnet die Leipziger Volkszeitung die „Velo-city Leipzig 2023“ mit ihrer blauen Farbe okkupieren, just die Zeitung, die in Leipzig jeden Fortschritt in der Radverkehrspolitik vehement infrage stellt. Der Protest gerade aus der Radfahrer-Community der Stadt war laut und heftig. Denn die „Velo-city 2023“ ist nicht irgendein Kongress. In Leipzig trifft sich vom 9. bis zum 12. Mai der Dachverband der europäischen Radverkehrsverbände. Und der hat ein klares Ziel.
Im Leitbild der European Cyclists’ Federation (ECF) heißt es eindeutig: „Der Europäische Radfahrer-Verband (ECF) wird alles in seiner Kraft stehende tun, die weitestgehende Verwendung des Fahrrads mit dem Ziel der nachhaltigen Mobilität und des Wohlergehens der Bevölkerung zu fördern. Zur Erreichung dieses Ziels bemüht sich der Verband, Haltung, Politik und Zuteilung von Haushaltsmitteln auf europäischer Ebene zu ändern.“
Die „Velo-city 2023“ ist so etwas wie der „Weltfahrradgipfel“, wie sich der Kongress selbst beschreibt, „der Ort, an dem sich Befürworter, Städte, Entscheidungsträger und politische Entscheidungsträger, Forscher und Branchenführer treffen, um die Zukunft des Radfahrens zu gestalten. Als jährliche Flaggschiff-Veranstaltung des Europäischen Radfahrerverbands leistet Velo-city einen wertvollen Beitrag zur Förderung des Radfahrens als nachhaltiges und gesundes Fortbewegungsmittel für alle.
Wie keine andere Veranstaltung bietet die Konferenz der wachsenden Zahl von mehr als 1.400 Velo-Bürgern aus über 60 Ländern, die sich mit Politik, Förderung und Bereitstellung für Radfahren, aktive Mobilität und nachhaltige Stadtentwicklung befassen, eine Plattform für Wissensaustausch und Politiktransfer. Darüber hinaus präsentiert die Konferenzausstellung die neuesten Innovationen für ein besseres Fahrraderlebnis in Städten und darüber hinaus.“
Der Wandel ist fällig
Seit 1980 findet dieser Radfahrer-Gipfel in verschiedene Städten statt. Letzter Austragungsort war 2022 die slowenische Hauptstadt Ljubljana. Der diesjährige Kongress findet unter dem Motto „Leading the Transition“ statt, zu Deutsch: „Den Wandel anführen“. Leipzig ist seit München im Jahr 2007 die erste deutsche Gastgeberstadt.
Leipzig hat sich im Wettbewerb um die Austragung der „Velo-city 2023“ gegen die Hansestadt Hamburg durchgesetzt. Das ist sehr wohl ein Zeichen dafür, dass sich in der Leipziger Radverkehrspolitik sichtlich etwas zum Besseren gewandelt hat, auch wenn der ADFC-Radklimatest 2022 noch keinen (Stimmungs-)Fortschritt unter Leipzigs Radfahrerinnen und Radfahrern feststellen konnte.
Was auch so nicht zu erwarten war. Der massive Gegenwind der Leipziger Autolobby, die insbesondere die LVZ als Plattform nutzt, ihr altes Denken von der autogerechten Stadt immer wieder durchzusetzen, hat natürlich auch dafür gesorgt, dass zum Beispiel der Radverkehrsentwicklungsplan von 2012 zum größten Teil nicht umgesetzt wurde.
In der Debatte um die neue Fahrbahnaufteilung vorm Hauptbahnhof wurde sichtbar, wie eine nur zu logische neue Verkehrsorganisation von den Autobefürwortern mit dem Hauptargument bekämpft wurde: „Die nehmen uns zwei Fahrbahnen weg!“ Als ob das Automobil einen Erstanspruch auf jede Fahrbahn und jede Straße hätte.
Doch gerade dieses Denken bremst jede Verbesserung der nach wie vor mittelmäßigen Radverkehrsinfrastruktur. Egal, ob es um neue Radwege auf der Berliner Straße oder auf der Prager Straße geht – es erschallt ein gewaltiges „Nein!“ Unterfüttert mit Argumenten, die dann bei Umsetzung in die Praxis nicht mehr standhalten.
Stadt für Menschen, statt für Autos
Und so wie Leipzig ist jede europäische Großstadt im Wandel. Aus Klimagründen genauso wie aus einem anderen Verständnis von Stadtqualität. Was die Bewohner von Städten wie Kopenhagen, Amsterdam und Utrecht längst als Selbstverständnis erleben: So komfortabel wie dort kommen die Leipziger mit dem Rad nicht in die Innenstadt.
Ein wenig in die Nesseln setzte sich Sachsens Verkehrsminister Martin Dulig, als er sagte: „Ich freue mich sehr, dass der diesjährige Weltradverkehrskongress in unserer heimlichen Fahrradhauptstadt Leipzig zu Gast ist. Schon heute gehört die Messestadt zu den fahrradfreundlichsten Großstädten in Deutschland und sie hat sich noch ehrgeizigere Ziele gesetzt.“
Sagen darf er das. Immerhin ist der Freistaat Sachsen Premiumpartner des Kongresses.
Der Blick auf die Ergebnisse des ADFC-Fahrradklimatests von 2022 zeigt Leipzig freilich unter den deutschen Großstädten im Mittelfeld, wenn auch im vorderen. Vor Städten wie Hamburg und München, hinter Bremen, Frankfurt und Hannover. Das einhellige Gelb in der Bewertung zeigt, dass es in allen Städten kaum Fortschritte gab.
Was auch schlicht daran liegen kann, dass immer mehr Radfahrer, die am ADFC-Radklimatest teilnehmen, die Vorbilder eben in Städten wie Kopenhagen und Utrecht sehen – und eben auch sehen, was alles möglich ist, wenn Stadtverwaltungen nur konsequent am Ausbau wirklich leistungsfähiger Radstrukturen arbeiten. Und inzwischen hat auch die französische Hauptstadt Paris gezeigt („Plan vélo“), was möglich ist, wenn man das Herz der Stadt von Autos befreit und dafür Platz für Radfahrer schafft.
Die Fahrradstadt braucht langen Atem
Dass der Weg zu einer fahrradfreundlichen Stadt Geduld und Spucke braucht, das machte die Dutch Cycling Embassy in ihrer Meldung zum Kongress deutlich: „Die Niederlande waren nicht immer ein fietsparadijs (‚Fahrradparadies‘) und sollten es auch nicht immer sein. Wie bei ihren Kollegen schufen die Planer der Nachkriegszeit in ihren Städten Platz für das Auto, Abriss von Gebäuden und Auffüllen von Kanälen.
Konvergierende Krisen (Verkehrssicherheit und Ölversorgung) in den 1970er Jahren lenkten sie in eine andere Richtung, aber es erforderte viel Experimentieren sowie einige hochkarätige Misserfolge. Erst Mitte der 1990er Jahre wurden Best Practices in nationalen Richtlinien für Straßendesign und Straßenverkehrssicherheit kodifiziert. Die daraus resultierenden Prinzipien waren ein ‚Game Changer‘, der in den letzten 25 Jahren zu 20.000 Kilometern getrennter Radwege – mehr als der Hälfte des bestehenden Netzes – geführt hat.“
Eine Entwicklung, die in deutsche Großstädten immer wieder an der deutschen Gesetzgebung und den stockkonservativen Verkehrsministern scheitert, die eine solche systematische Neudefinition des Verkehrsraums immer wieder verhindern.
Schon 2018 forderte der ADFC ein neues Verkehrsrecht, das die überkommenen Privilegien für den Kfz-Verkehr endlich beseitigt und damit auch endlich Raum schafft für umweltfreundliche Verkehrsarten. Aber bei dem Thema waren die CSU-Verkehrsminister stets genauso beratungsresistent, wie es auch der aktuelle Bundesverkehrsminister der FDP ist.
Was dann insbesondere all den Kommunen das Arbeiten schwer macht, die durchaus die vielen Möglichkeiten sehen, ihre Städte mit besseren Radinfrastrukturen attraktiver und lebenswerter zu machen.
Was ist wichtig in den nächsten drei Tagen?
Die temporäre Radroute zur Velo-city auf der Neuen Messe
Um den etwa 1.200 Besucherinnen und Besuchern der internationalen Fahrradmesse Velo-city 2023 eine nachhaltige und sichere Anfahrt unmittelbar bis zum Veranstaltungsort zu ermöglichen, wurde eine temporäre Radroute zwischen Innenstadt und neuer Messe ausgeschildert.
Neben der Fahrradkonferenz (9. bis 12. Mai) findet in Kürze auch noch das International Transport Forum der OECD (24. bis 26. Mai) in Leipzig statt. Beide hochkarätig besetzten Veranstaltungen mit weltweiter Strahlkraft setzen einen inhaltlichen Fokus auf das Thema nachhaltige Mobilität – die neu ausgeschilderte Wegeführung für Fahrräder soll diesen Anspruch unterstreichen.
Baubürgermeister Thomas Dienberg sagt dazu: „Ich freue mich, dass wir während der weltweit wichtigsten Radmesse Velo-city unseren Gästen eine komfortable und sichere Wegeführung mit dem Rad anbieten können – von Hotel und Bahnhof bis zur Messe.“
Die Radroute zur Neuen Messe: Für die Dauer von drei Wochen weisen gelbe Velo-city-Schilder an Lichtmasten insbesondere Ortsfremde auf die Fahrradroute hin. Die Route wird auf bestehenden Radwegen oder im Nebenstraßennetz auf den Fahrbahnen im Mischverkehr geführt.
Sie verläuft entlang folgender Straßenzüge: Markt – Katharinenstraße – Brühl – Am Hallischen Tor – Gerberstraße – Eutritzscher Straße – Georg-Schumann-Straße – Bleichertstraße – Blochmannstraße – Geibelstraße-Arthur-Bretschneider-Park – Grüner Weg – Gräfestraße Mothesstraße – Delitzscher Straße – Dübener Landstraße – Radweg entlang der B2 – Graf-Zeppelin-Ring – Alte Dübener Landstraße – Merkurpromenade.
In stadteinwärtiger Richtung weicht die Route zwischen Geibelstraße und Eutritzscher Straße über Erlenstraße und Delitzscher Straße von der stadtauswärtigen Richtung ab.
In der Gerberstraße, der Eutritzscher Straße und der Georg-Schumann-Straße folgt die Radroute auf den bestehenden Anlagen des Fuß- und Radverkehrs im Seitenraum. Im weiteren Verlauf wird in der Blochmannstraße zwischen Bleichertstraße und Geibelstraße temporär ein gegenläufiger Radfahrstreifen auf der Nordseite eingerichtet.
Zwischen dem 2. und 31. Mai besteht dort Halteverbot für Autos und Motorräder. Auch an einigen anderen Stellen wird die Routenführung durch temporäre Markierungen verdeutlicht. Dabei handelt es sich um sogenannte Furtmarkierungen, gestrichelte Linien an Einmündungen auf der Fahrbahn. Auf Höhe der Mothesstraße wird auf der Delitzscher Straße eine Auffahrt auf den Radweg mit Asphalt befestigt.
Die Route ist insgesamt 7,5 Kilometer lang.
Verkehrsbeeinträchtigungen im Leipziger Stadtgebiet am 10. Mai
Rund um die von der Stadt Leipzig ausgerichteten Bike-Parade am Mittwoch, 10. Mai, ab circa 18 Uhr im Rahmen der Velo-city 2023 ist im Leipziger Stadtgebiet mit Verkehrseinschränkungen zu rechnen.
Die Strecke verläuft ab Augustusplatz über Roßplatz, Martin-Luther-Ring, Harkortstraße, Floßplatz, Dufourstraße, August-Bebel-Straße, Kurt-Eisner-Straße, Schleußiger Weg, Rödelstraße, Antonienstraße, Erich-Zeigner-Allee, Karl-Heine-Straße, Käthe-Kollwitz-Straße, Ferdinand-Lasalle-Straße, Edvard-Grieg-Allee, Herzliyaplatz, Karl-Tauchnitz-Straße, Martin-Luther-Ring, Thomaskirchhof, Thomasgasse, Markt, Katharinenstraße, Brühl, Am Hallischen Tor, Richard-Wagner-Straße und Goethestraße wieder zurück zum Augustusplatz.
Die Veranstalter erwarten etwa 10.000 Radfahrer.
Jede Velo-city richtet traditionell eine Bike-Parade aus. Mit ihr wird während des weltweit wichtigsten Radverkehrskongresses bewusst nicht nur ans Fachpublikum gedacht – auch die Leipzigerinnen und Leipziger sollen das Radfahren feiern. Alle sind eingeladen, den zehn Kilometer langen Rundweg mitzuradeln. Ausgangspunkt ist der Augustusplatz, auf welchem die Stadt vom 10. bis 12. Mai, jeweils 15 bis 22 Uhr, ein großes Fahrradfest ausrichtet. Live-Musik, viele Aktionen rund um das Radfahren und nachhaltige Mobilität sind geplant.
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