Als am 9. Februar die Vorlage für die Planungen zur Berliner Straße in der Ratsversammlung diskutiert wurde, ging es hoch her. Doch während CDU-Stadträte mit immer seltsameren Argumenten versuchten, die vorgeschlagene Variante 4 des Straßenumbaus und gleich noch die Qualifikation der städtischen Planer zu diskreditieren, hatten drei Freibeuter einen Antrag ins Verfahren gebracht, der eigentlich weit über das diskutierte Straßenprojekt hinausging.
Denn die Diskussion machte mehrere Dinge sichtbar. Zum einen die Verfangenheit der CDU-Fraktion in einer reinen, jahrzehntelang eingeübten Autofahrerperspektive, die sich einfach nicht vorstellen kann, wie sich Verkehrsräume für andere Verkehrsteilnehmer ändern, wenn Autofahrer auf eine Fahrspur verzichten müssen.
Und zum anderen, dass auch andere Stadträte noch kein Bild davon haben, wie die 2018 vom Stadtrat beschlossene Mobilitätsstrategie in der Praxis eigentlich einmal aussehen soll. Denn dass man mehr Menschen bewegen will, auf den Umweltverbund umzusteigen, ist ein hehres Ziel. Aber nicht nur SPD-Stadtrat Andreas Geisler stellte fest, dass von einer Verbesserung der Angebote gerade an den Stadträndern nichts zu spüren ist.
Die Berliner Straße wird nun zweistreifig umgebaut. Am 9. Februar setzte sich dann doch die Mehrheit jener Faktionen durch, die in der Berliner Straße ein gleichberechtigtes Nebeneinander aller Verkehrsarten befürworten.
Doch die drei Freien Demokraten im Stadtrat – Sven Morlok, Dr. Klaus-Peter Reinhold und Sascha Matzke – wollen diese Diskussionen zukünftig zielführender führen. Denn wenn endlich klarer ist, wie das Verkehrssystem in Zukunft aussehen wird und in welchen Schritten die Stadt da hinkommen will, entfallen viele sinnlose Diskussionen – nicht nur im Stadtrat, sondern auch in der Stadtgesellschaft.
Wie weiter bei ÖPNV und Radverkehr?
Der zentrale Punkt des Änderungsantrags, den die drei Stadträte eingebracht hatten, lautete: „Der Oberbürgermeister legt dem Stadtrat bis zum III. Quartal 2023 einen Zeit- und Maßnahmenplan als Beschlussvorlage vor, aus dem hervorgeht, wann welche Maßnahmen zum Ausbau des ÖPNV-Angebots und der ÖPNV-Infrastruktur sowie des Radwegenetzes realisiert werden, welche besonders geeignet sind, Anreize für Verkehrsteilnehmer, insbesondere Berufspendler aus den Randgebieten der Stadt bzw. von außerhalb der Stadt mit dem Ziel Innenstadt, zum Umstieg vom PKW auf den Umweltverbund zu geben.“
Denn dass Leipzig gerade die Problematik der Berufspendler nicht gelöst hat, wurde am 9. Februar deutlich. Das S-Bahn-Netz ist noch immer nicht fertig und leistungsfähig genug, in vielen Ortsteilen am Stadtrand gibt es keine dichten Busverbindungen, von Straßenbahnverbindungen ganz zu schweigen. Flexa ersetzt solche direkten Verbindungen nicht ansatzweise. Und mit sicheren Radwegen vom Stadtrand ins Zentrum sieht es ebenso bescheiden aus.
Kollidieren ÖPNV und Wirtschaftsverkehr?
Der Antrag war so logisch, dass ihn Baubürgermeister Thomas Dienberg direkt mit in die Beschlussvorlage übernahm – bis auf einen Punkt, der rechtlich nicht so einfach ist: Was passiert, wenn die Straßenbahnen aufgrund neuer Radwege nicht mehr an parkenden Autos vorbeikommen – und man somit keine Ausnahmegenehmigung zum Parken erhalten kann?
„Zwangsläufig kommt man am Ausbau der Berliner Straße und vielleicht auch an der Zweistreifigkeit heute nicht mehr vorbei. Aber für die Zukunft muss es ein anderes Miteinander geben. Wir erwarten, dass der Stadtrat im Sinne des Nachhaltigkeitsszenarios und der Mobilitätsstrategie zu derartigen Konflikten für den Wirtschaftsverkehr und den Verkehrsfluss frühzeitig beteiligt wird“, betont Sven Morlok.
„Die Verwaltung muss gemeinsam mit dem Stadtrat auch gegenüber Dritten offen und ehrlich abwägen, welche Auswirkungen es gibt, welche Prioritäten man setzt und welche Alternativen man hat.“
Die Berliner Straße betrifft aus Sicht der drei FDP-Stadträte eine Grundsatzproblematik: Das Nachhaltigkeitsszenario wurde einstimmig beschlossen und hat das Ziel gesetzt, den Anteil der Nutzer des Umweltverbunds zu erhöhen, um mittel- und langfristig den motorisierten Individualverkehr (MIV) zu reduzieren. Selbst gesetzte Kriterien müssten von der Stadt aber auch umgesetzt werden. Dazu gehören zahlreiche Fahrradwege, ein erweitertes Bus- und Straßenbahnangebot und ein dichtes Haltestellennetz. Doch der verfügbare Platz ist umkämpft. Und nach fünf Jahren ist kaum ein Fortschritt sichtbar.
„Viele Berufspendler werden den Umstieg auf den öffentlichen Nahverkehr nicht in Betracht ziehen, weil es für sie schlichtweg nicht umsetzbar ist. Die Berliner Straße ist kein Teil dieses Umstiegsprozesses, denn es gibt keine neuen Radwege aus den Ortsteilen ins Zentrum und auch keine neuen Straßenbahnlinien“, so Morlok.
„Niemand aus Baalsdorf steigt auf den öffentlichen Nahverkehr oder das Fahrrad um, um auf Arbeit zu kommen, weil es auf dem Ring einen Radweg gibt. Es ist die Verantwortung des Oberbürgermeisters als Chef der Verwaltung, die Konzepte der Stadt umzusetzen. Und er muss das auch vor den Kammern rechtfertigen.“
Denn die Wirtschaftskammern versuchen inzwischen wieder kräftig mitzumischen in der Leipziger Verkehrspolitik, betonen aber meist nur die Rolle des Wirtschaftsverkehrs.
Wie weit darf der Stadtrat mitreden?
Was den drei Freibeutern besonders wichtig war, war ein Mitspracherecht bei Entscheidungen, bei denen Straßenbahn und Wirtschaftsverkehr möglicherweise kollidieren. Ein Punkt, bei dem Thomas Dienberg seine rechtlichen Bedenken äußerte. Noch während der Sitzung ergänzte Sven Morlok deshalb diesen Punkt, der dann auch extra abgestimmt wurde.
Er lautet nun: „Maßnahmen, welche zu einer Einschränkung des Verkehrsraums für den MIV und den Wirtschaftsverkehr dergestalt führen, dass Straßenbahnen an stehenden PKW oder LKW nicht mehr vorbeikommen, bedürfen unabhängig von ihrem Wertumfang ab sofort der Zustimmung des Stadtrates, sofern sie nicht aufgrund einer behördlichen Anordnung zwingend umzusetzen sind.“
Die Eingrenzung war wichtig. Womit dann aber in künftigen Vorlagen drei Punkte jedes Mal besonders beachtet werden müssen:
– Auswirkung auf die Andienungsmöglichkeiten
– Einfluss auf die Durchlässigkeit für den MIV und den Wirtschaftsverkehr
– Fahrstreifen Regelmaß
Da dieser Punkt extra abgestimmt wurde, war durchaus offen, wie sich die Stadtratsmehrheit dazu verhalten würde. Aber er bekam mit 31:24 Stimmen bei einer Enthaltung tatsächlich die notwendige Mehrheit.
Was natürlich nicht heißt, dass alle diese Konflikte im engen Leipziger Straßenraum gelöst werden können. Wahrscheinlich werden dann einige Straßenbauprojekte zusätzliche Diskussionen mit sich bringen.
Aber die Lösung der Verkehrsprobleme in Leipzig liegt tatsächlich in einer konsequenten Umsetzung der nachhaltigen Mobilitätstrategie und einem spürbaren Ausbau von ÖPNV und Radverkehr. Da ist nur zu verständlich, dass die Stadträte nach fünf Jahren gern wissen wollen, „welche Maßnahmen zum Ausbau des ÖPNV-Angebots und der ÖPNV-Infrastruktur sowie des Radwegenetzes realisiert werden“ und welche besonderen Anreize für Berufspendler sie bieten, tatsächlich vom Auto auf den Umweltverbund umzusteigen.
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