Das hat schon etwas von grandioser Rückwärtsgewandtheit, was die CDU-Fraktion im Leipziger Stadtrat da jetzt mit einem neuen Antrag versucht: Die so schwer erkämpfte Leipziger Mobilitätsstrategie von 2018 soll wieder rückgängig gemacht werden. Und das unter der völlig irreführenden Überschrift: „Verkehr neu denken – Verkehrsszenarien neu bewerten“. Und das, obwohl es bei der Umsetzung der Strategie überall klemmt. Weil’s klemmt, soll also die Rolle rückwärts gemacht werden?

„Das dynamische Einwohnerwachstum der Stadt, das einstmals Hauptbeweggrund für die Wahl des Nachhaltigkeitsszenarios war, ist zuletzt deutlich rückläufig“, behauptet die CDU-Fraktion in der Begründung ihres Antrags. „Mithin entspricht die im Moment der Szenarioauswahl zugrunde gelegte Einwohnerkalkulation nicht den tatsächlichen Entwicklungen. Eine Trendumkehr ist hier eher nicht zu erwarten.“

Dass die CDU-Fraktion so argumentierten kann, daran ist Leipzigs Verwaltung selbst schuld. Denn sie hat die „Mobilitätsstrategie 2030“ genau so verkauft:

„Der positive Wanderungssaldo, die Steigerung der Geburtenrate, die Erweiterung vorhandener Unternehmensstandorte sowie auch die Ansiedlung neuer Unternehmen haben dazu beigetragen, dass Leipzig mittlerweile zu einer der dynamischsten und am stärksten wachsenden Großstädte Deutschlands zählt. Doch so wie die Stadt selbst vollziehen auch die Mobilität und der Verkehr in der Stadt einen stetigen Prozess der Veränderung.“

Obwohl der Anlass ein völlig anderer war – auch schon mit der Beauftragung durch den Stadtrat 2016. Denn Leipzig hatte bis da hin überhaupt kein Konzept, die umweltfreundlichen Verkehrsarten in der Stadt endlich auf die Überholspur zu bringen. Man hatte zwar schöne Mobilitätsziele in alle möglichen Papiere gemalt, aber den ÖPNV über Jahre kurz gehalten und unterfinanziert.

Und den Radverkehrsentwicklungsplan von 2012 nur zu einem Viertel umgesetzt. Ausgebremst von einer lautstarken Autolobby, die jeden Fortschritt im Radwegenetz als eine Willkür gegen den motorisierten Individualverkehr interpretierte.

Zwei Jahre sind kein Trend

In der Begründung des Antrags behauptet die CDU-Fraktion auch noch: „Trends der vergangen zwei Jahre zeigen, dass der ÖPNV im Vergleich zum Fahrrad- und Fußverkehr sowie auch zum MIV deutlich an Attraktivität und Zuspruch eingebüßt hat. Auch wenn dies in Teilen der Pandemie geschuldet ist, zeichnet sich eine Verstetigung des Trends der Individualisierung der Mobilität deutlich ab.“

Eine Quelle, wo diese Entwicklung belegt werden könnte, gibt die Fraktion nicht an. Es waren vor allem pandemiebedingte Fahrplaneinschränkungen, geschlossene Geschäfte, Kultureinrichtungen und Gastronomie und ausgefallene Messen, die bei den LBV die Fahrgastzahlen zurückgehen ließen. Ausnahmebedingungen in einer Pandemie aber sind kein Trend.

Gerade die Leipziger Bürgerumfrage im Corona-Jahr 2021 hat gezeigt, dass die Leipziger den Verkehr als größtes Problem der Stadt betrachten, auch wenn nicht eindeutig ist, ob sie damit den ÖPNV meinen, die desolate Radwegesituation oder die von Autos verstopften Straßen. Das sollte man wohl erst einmal analysieren, bevor man über andere Verkehrskonzepte nachdenkt. Oder gar das noch immer nicht umgesetzte Mobilitätskonzept einfach in den Papierkorb steckt.

„Weiterhin gelingt im Rahmen aktueller Wohnbauvorhaben absehbar die Nahmobilität zu verbessern, was sich auf den abzuwickelnden Individualverkehr auswirken sollte“, behauptet die CDU-Fraktion einfach mal so. Wieder fehlt der Beleg.

Was hat das 9-Euro-Ticket wirklich gezeigt?

„Für das 9-Euro-Ticket wird eine Nachfolgeregelung eingefordert. Dazu werden entsprechende Regelungen in Bund und folgend im Land zu diskutieren sein“, führt die CDU-Fraktion an, obwohl gerade die drei Monate mit 9-Euro-Ticket gezeigt haben, wie sehr es an einem gut ausgebauten ÖPNV-Netz fehlt.

Auch in Leipzig. Leipzig müsste mit erhöhtem Druck endlich das Angebot ausweiten, um ein künftiges deutschlandweites Nahverkehrsticket auffangen zu können. Denn rappelvoll sind die Straßenbahnen schon seit dem Schulstart wieder.

„Die angespannte wirtschaftliche Situation erlaubt aktuell keine auskömmliche Finanzierung aus dem steuerlichen Querverbund“, meint die CDU-Fraktion noch.

„Besonders letztere Punkte machen strategische und entsprechend kostspielige Investitionen beinahe unmöglich. Ein Umschwenken ist geradezu zwingend nötig“, findet die CDU-Fraktion.

„Daher sind insbesondere die vorliegenden Mobilitätsszenarien nochmals einer intensiven Prüfung und eines Abgleichs mit den aktuellen Verkehrstrends und Vorlieben der Leipzigerinnen und Leipziger sowie den finanziellen Möglichkeiten abzugleichen.“

Dass es hier aber gar nicht um die „Vorlieben“ aller Leipziger geht, sondern um ein Ausbremsen der überfälligen Mobilitätswende, wird im zweiten Antragspunkt aus dem CDU-Antrag deutlich:

„Die Stadtverwaltung prüft unter Berücksichtigung aktueller Entwicklung, ob eines und falls ja, welches der 2018 vorgelegten Szenarien für eine zukunftsgerechte Verkehrsplanung am geeignetsten ist oder entwickelt ggf. auch neue Szenarien. Ein Bericht hierzu wird dem Stadtrat bis zum II. Quartal 2023 vorgelegt.“

Für die Verkehrswende kein Geld?

Von den 2018 geprüften Szenarien war das am Ende beschlossene Nachhaltigkeitsszenario das ambitionierteste und zeigte am ehesten den Weg hin zu einem umweltfreundlichen Verkehr in Leipzig, auch wenn die Planungen um Jahre hinterherhinken und von einer Klimaverträglichkeit noch längst keine Rede sein kann.

Aber genau darum geht es gerade bei diesem Szenario, wie man auf der entsprechenden Website nachlesen kann:

„Bei diesem Szenario ist die lebenswerte Gestaltung der Stadt, die Verkehrslösungen auf verträgliche Weise einbettet, das oberste Ziel. Im Mittelpunkt steht die Förderung von nachhaltiger, sauberer und alle Bevölkerungsgruppen einschließender Mobilität. Der Umweltverbund spielt die Hauptrolle bei der Bewältigung des durch die wachsende Bevölkerungszahl steigenden Verkehrsaufkommens. Für alle Verkehrsteilnehmer soll Leipzig nachhaltig weiterentwickelt werden.“

Es geht um „nachhaltige und saubere Mobilität“. Und genau das will der CDU-Antrag aushebeln. Und um einen ÖPNV, der das steigende Verkehrsaufkommen abfedern soll. Das wird kein Straßenbauprojekt für den Kraftverkehr schaffen.

Dass der Ukraine-Krieg jetzt den Stadtkonzern LVV mit den drastisch gestiegenen Gaspreisen unter Druck setzt, dürfte in Zeiten der sich verschärfenden Klimakrise eigentlich kein Anlass sein, die bestehenden Konzepte zur Klimaverträglichkeit der Stadt auszuhebeln.

Denn absehbar ist jetzt schon, dass auch die Benzinpreise weiter steigen werden und das eigene Auto für immer mehr Leipziger unerschwinglich wird. Für die ist ein funktionierender ÖPNV Gold wert.

Und die Stadtratsmehrheit wäre schlecht beraten, jetzt einfach ins Jahr 2017 zurückzukehren und so zu tun, als könnte man einfach so weitermachen. Denn das steckt ja im ersten Antragspunkt der CDU-Fraktion: „Das auserkorene Nachhaltigkeitsszenario für den öffentlichen Nahverkehr wird zurückgestellt. Der Stadtratsbeschluss VI-DS-03902-NF-02-ÄA-01 vom 27.09.2018 wird damit ausgesetzt.“

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Es gibt 2 Kommentare

Spätestens jetzt sollte für jeden offensichtlich erkennbar sein, dass die damalige Einstimmigkeit von der AfD bis zu den Grünen nichts wert war. Jeder hatte seine eigenen Vorstellungen in das Nachhaltigkeitsszenario hineinprojeziert, seien es niedrigere Ticketpreise oder keine Verteufelung des Autos. Die CDU hatte zudem mehrmals versucht, den gesamten Prozess abzuwürgen. Umso mehr hatte mich damals ihre Zustimmung überrascht.

Mittlerweile kann man auch sehen, dass sich das Nachhaltigkeitsszenario in der Realität zum nicht beschlossenen Fortführungsszenario entwickelt hat, weil niemand den damaligen Beschluss ernst und beim Wort nimmt. Mehrausgaben für den Nahverkehr? Fehlanzeige! Stattdessen Ferienfahrpläne über das ganze Jahr und zwischendrin wieder eine Preisdiskussion. Vielleicht sollte die Verwaltung mal mit einem selbstkritischen Reality Check beauftragt werden.

Wenn es weitergeht in diesem Tempo, wird sich bis 2030 fast nichts ändern. Der Chef der Verwaltung und der Dezernenten, OBM Jung, steht in der Verantwortung für die zügige Umsetzung des Konzepts, trotz der beiden Krisen.

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