Steigende Spritpreise und die immer heißeren Folgen des Klimawandels machen inzwischen unübersehbar, dass sich auch die Mobilität in einer Großstadt wie Leipzig gravierend ändern muss, dass viel mehr Menschen vom spritgetriebenen Untersatz auf den ÖPNV umsteigen müssen. Da wäre ein 365-Euro-Ticket geradezu die richtige Lösung, fanden die Ratsfraktionen von SPD, Grünen und Linken.
Im März stellten sie ihren gemeinsamen Antrag, wenigstens für alle unter 27 Jahren die Einführung eines 365-Euro-Tickets zu prüfen.
Aber jetzt, wo der Ausbau der ÖPNV-Nutzung dringend gebraucht wird, wird er durch die drastischen Preissteigerungen heftig infrage gestellt, muss das Verkehrs- und Tierbauamt (VTA) in seiner Stellungnahme zum Antrag der drei Fraktionen feststellen. Auch wenn das Amt das Anliegen teilt und nicht ablehnt, sondern eine Prüfung des Anliegens befürwortet.
Erst einmal das 9-Euro-Ticket auswerten
Die Prüfung wolle man aber erst durchführen, wenn man die Leipziger Erfahrungen mit dem 9-Euro-Ticket ausgewertet habe: „Um abschätzen zu können, ob die Einführung eines 365-Euro-Tickets für alle Leipzigerinnen und Leipziger bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres möglich, strategisch sinnvoll und finanzierbar ist, sollten zunächst die Erfahrungen aus dem 9-Euro-Ticket abgewartet und ausgewertet werden. Hierfür wird nach dem Ende des Aktionszeitraums eine Evaluation des 9 €-Tickets durchgeführt. Die entsprechenden Untersuchungen können frühestens im September beginnen, sodass mit einer Auswertung Ende des Jahres 2022 gerechnet wird.“
Der Knackpunkt für ein 365-Euro-Jahresticket aber bleibt die Finanzierung. Schon vor dem massiven Anstieg der Energiepreise hat ja ein Gutachten ergeben, dass die Einführung eines 365-Euro-Tickets bei den LVB bis zu 29 Millionen Euro zusätzliche Kosten verursachen würde, die bisher durch die Querfinanzierung durch die Leipziger Gruppe und die Zuschüsse aus dem Stadthaushalt nicht gedeckt werden.
Die Inflation droht diese zusätzlichen Kosten noch weiter anschwellen zu lassen, warnt das VTA.
„Die derzeitigen Kostenentwicklungen (insbesondere die Steigerung der Energiepreise, der Personal- und Sachkosten sowie die pandemiebedingt verzögerte Nachfrageentwicklung) setzt auch die Nahverkehrsunternehmen massiv unter Druck. Aktuell ist davon auszugehen, dass für die Unternehmen im MDV-Gebiet 2023 gegenüber der mittelfristigen Kostenplanung insgesamt Mehraufwendungen in Höhe von mindestens 50 Millionen Euro pro Jahr entstehen; anteilig wirkt dies bereits im aktuellen Wirtschaftsjahr 2022“, so das VTA.
Fahrgastzahlen noch längst nicht wieder auf dem Stand von 2019
Mit der „pandemiebedingt verzögerten Nachfrageentwicklung“ spielt es augenscheinlich auf die von den LVB gemeldeten Fahrgastzahlen für das erste Quartal an. Mit 27,5 Millionen lagen sie zwar wieder deutlich über den 20 Millionen aus dem Vorjahr, aber immer noch deutlich unter den 34 Millionen aus dem Vor-Corona-Jahr 2019.
Weshalb die LVB in diesem Jahr ja zumindest hoffen, 127 Millionen Fahrgäste zu bekommen, 25 Millionen mehr als 2021, aber noch deutlich weniger als die 153 Millionen im Jahr 2019.
Aber das VTA befürchtet, dass es auch ohne diesen Effekt immer teurer wird für den Leipziger Mobilitätsdienstleister und vor allem seine Geldgeber.
„Konkret führen die steigenden Ausgleichsbeträge für die Verkehrsleistung zusammen mit den finanziellen Folgen der Anforderungen an die Versorgungssicherheit und die Klimaneutralität trotz wirksamer Kostensenkungsprogramme des LVV-Konzerns langfristig sogar zur Überforderung der Finanzierungsfähigkeit der L-Gruppe“, befürchtet die Stadtverwaltung.
„Vor diesem Hintergrund und der sich aufdrängenden Priorisierung immer knapper werdender Mittel ist die (teilweise) Einführung eines 365-Jahres-Tickets in absehbarer Zeit innerhalb der L-Gruppe nicht finanziell darstellbar.“
Meint zumindest das VTA. Was zumindest heißt, dass die bisherige Finanzierung des ÖPNV an ihre Grenzen stößt und sich auch die Gesellschaft Gedanken machen muss, wie ÖPNV gemeinsam besser finanziert werden kann, nachdem man ihn seit 30 Jahren bewusst knapp gehalten hat.
Es braucht mehr Gelder von Bund und Land
„Für die nachhaltige Finanzierung eines 365-Euro-Jahrestickets für Leipzigerinnen und Leipziger bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres bzw. ggf. weiterführender 365-Euro-Tickets sind neben städtischen Haushaltsmitteln dementsprechend auch zwingend Gelder des Bundes und/oder des Landes erforderlich“, meint das VTA.
„Die Einführung sollte daher auch nicht vor einem erneuten Förderprogramm-Aufruf erfolgen, um die Möglichkeit einer entsprechenden (Anlauf-)Finanzierung offenzuhalten. Insofern gilt es, sich weiterhin für Förderprojekte wie die ‚Modellprojekte zur Stärkung des ÖPNV‘ des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur zu bewerben, wie bereits 2020 mit dem leider abgelehnten Projekt ‚PELIKKAN‘.“
Denn die Summe, die ein 365-Euro-Ticket für alle unter 27 in Leipzig zusätzlich kosten würde, ist durchaus greifbar, wie das Verkehrs- und Tiefbauamt vorrechnet.
„Prinzipiell haben sich seit dem abgelehnten Förderantrag, in dem auch die Einführung eines 365-€-Jahrestickets für Leipzigerinnen und Leipziger bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres vorgesehen war, einige Rahmenbedingungen geändert“, schildert das VTA in der Stellungnahme zum Antrag der drei Ratsfraktionen.
„Nach zwei Jahren Corona-Pandemie und der Einführung neuer Produkte für Kunden in der Altersgruppe der Zielgruppe des ‚Starter-Tickets‘, wie dem BildungsTicket, sowie der Ausweitung des Mitte 2019 eingeführten AzubiTicket Sachsen, muss das der Nachfrageabschätzung zugrunde liegende Stückzahlgerüst neu bewertet werden.
Eine vorläufige Abschätzung der Kosten eines 365-Euro-Tickets für Leipzigerinnen und Leipziger bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres kann nur als Beispielrechnung auf der Grundlage der ab 01.08.2022 gültigen Preise erfolgen.
Dementsprechend ist mit zusätzlichen Kosten in Höhe von ca. 1 Mio. Euro in 2023 (bei Einführung des Tickets ab 01.08.2023) und ab 2024 mit ca. 3 Mio. Euro Jahr, inklusive der Risiken für Ausgleichszahlungen sowie einer zusätzlichen Reserve für die Tarifanpassungen 2023 und 2024, zu rechnen. Auch in den Folgejahren ab 2025 sind dauerhafte Ausgleichszahlungen aus dem kommunalen bzw. Bundes-/Landes-Haushalt notwendig.“
Denn natürlich hat das 365-Euro-Ticket den Nachteil, dass es ein starrer Preis ist, der vor allem funktioniert, weil er für jeden Mobilitätsnutzer so sinnfällig ist: Ein Tag mit Bus und Bahn kostet immer nur 1 Euro, egal, wie viel man mit dem Ticket fährt.
Aber was stellt man mit den preislichen Folgen der Inflation an? Diese einfach immer nur auf die Zuschüsse von Stadt und L-Gruppe obendrauf zu schlagen, ist bestimmt kein kluger Weg. Da braucht es, wie die Grünen-Fraktion beantragte, wohl tatsächlich die Suche nach weiteren Finanzierungsquellen.
Und so empfiehlt das VTA erst einmal ein bisschen Geduld, um die Auswertung des 9-Euro-Tickets abzuwarten: „Somit ist es auch aus der finanziellen Perspektive heraus sinnvoll, zunächst die Auswertung des 9-Euro-Tickets abzuwarten, um die tatsächlich anfallenden Kosten und die konkreten Wirkungen eines solchen vergünstigten Tickets abschätzen zu können.“
Es gibt 5 Kommentare
Ehe uns jetzt der Schnaps für Ideen ausgeht, würde mich interessieren wie SPD, Linke & Grüne sowie die werten KommentatorInnen einen nicht geschäftsfähigen 6 jährigen zur erzwungenen Mobilitätsbeglückung verhelfen. Dann doch eher erstmal 18-27? Für Leipziger U18 bleiben nur Gratistickets, querfinanziert. Problemlos jetzt schon finanzierbar, da es derzeit ähnliche Angebote (Abo mit Kindern, Schülerkarte etc.) gibt. Und wenn Dresden ein Herz für Kinder & Umwelt hätte gänge das sogar freistaatweit (das Geld kommt von nicht mehr benötigten Subventionen bei fossil).
Die Berechnung vergleicht nicht die tatsächlichen Nutzerzahlen der Gruppe U27, sondern die möglichen Nutzer in der Gruppe U27 und bildet daraus dann die Differenz zwischen Vollpreis und 365 € Ticket.
Hier wird gar nicht untersucht (obwohl man sich sonst für keine Studie zu schade ist), wie viele Nutzer man zusätzlich bekommen würde und wieviel der “zusätzlichen Kosten” sich damit ausgleichen ließe, da ja bisher sicherlich nicht alle in der Altersgruppe eine teure Monatskarte haben oder überhaupt fahren.
“Zusätzliche Kosten” hat man übrigens nicht (und da kann man als Journalist ruhig mal überlegen, bevor man sowas schreibt), wenn sich jemand statt einer teuren eine billigere Fahrkarte kauft.
Die LVB bekommt ggf.(!) insgesamt weniger Geld, aber die Kosten steigen durch ein 365 € Ticket doch nicht, das ist Unsinn. Bei Ticket-Einnahmen überhaupt von Kosten zu sprechen…LVB, Stadtverwaltung, insgesamt die LVV – leider ein Trauerspiel, wenn die Verantwortlichen keine Ahnung haben.
Ein finanzierbares 365 Euro Ticket, “inklusive der Risiken für Ausgleichszahlungen sowie einer zusätzlichen Reserve für die Tarifanpassungen 2023 und 2024”. Aber verlangen Sie bitte nicht, dass ich erkläre was ein 365 Euro-Ticket(u27) bringen würde. Versucht der Artikel ja.
Für mich ein fauler Kompromiss. Sie müssten sich das Geld bei der PKW-Lobby wiederholen, sonst funktioniert es nicht. Meine Meinung.
Aber so: Führerschein-Alter auf 27 hoch und das Problem ist gelöst. Vielleicht haben wir dann sogar einen sichereren Verkehr (entscheiden Sie selbst). Wahl-Alter empfehle ich in dem Zug auch gleich mit anzuheben. Wer jünger ist soll laufen um sich dem System zu widersetzen. Das wiederum entlastet Krankenkassen und Gesundheitssystem. Inflation: verbieten wir einfach! Und nicht vergessen: immer schön runde Zahlen machen, sonst versteht’s der Bürger nicht.
@ Mimi
Und was sollte ein Preis von 386,25 € bringen?
Warum macht man dann nicht ein 386,25€-Ticket daraus? (Bei angenommenen 141.203 Leipzigern zischen 5 u. 27 Jahren die das betreffen würde * 365 Euro + die fehlenden 3 Mio. und wieder zurück / die Anzahl der Profiteure)
Was da nun wieder für geheimnisvolle Berechnungsmodelle dahinter stecken, die bei einen Ticketpreis von 365 Euro glatt 1-3 Mio. Mehrkosten prophezeien.
Wenn das noch nicht genug verwirrt: Ein 9-Euro Ticket ist ja eigentlich ein 108 Euro teures 365-Euro-Ticket, das in allen Verkehrsbetrieben der Republik gültig ist und nicht nur für u27. Da scheint also noch was zu gehen.