Eigentlich ist CDU-Stadträtin Dr. Sabine Heymann eine vernünftige Frau, manchmal sogar so etwas wie das ruhige Gewissen ihrer Fraktion, gerade wenn es um Verkehrsfragen in Leipzig geht. Aber am 5. August hat sie sich irgendwie von ihren Fraktionskolleg/-innen so richtig ins Bockshorn jagen lassen und eine regelrechte Panik-Meldung zu den Kosten von Tempo 30 abgesegnet.

Am 14. Juli meldeten nicht nur die Schweizer Zeitungen die durchaus sensationelle Nachricht: „In der Stadt Zürich soll künftig Tempo 30 gelten“. So auch die „Handelszeitung“.Und am selben Tag begann auch die Diskussion über die Kosten. Was kostet es wirklich, eine 420.000-Einwohner-Stadt zur Tempo-30-Zone zu machen? Übrigens vor allem wegen des Lärmschutzes. Es ging dem Züricher Stadtrat vor allem darum, den Verkehrslärm für rund 100.000 Menschen zu senken. Natürlich ist da die Frage berechtigt, was das kostet.

Immerhin hat ja auch Leipzigs Stadtrat schon heftig über Tempo 30 diskutiert – aber noch lange nicht über ein flächendeckendes Tempo 30, sondern über ein Pilotprojekt, wie es aber in Deutschland bislang nicht möglich ist. Was Bundes-Autominister Andreas Scheuer auch postwendend in alle medialen Kanäle verkündete: Mit ihm gibt es kein flächendeckendes Tempo 30.

„Erst im März hat die Mehrheit des Stadtrates gegen die Stimmen der CDU-Fraktion die Erprobung von drei Tempo30-Zonen beschlossen, schon liebäugeln einige Vertreter des Rates mit einem stadtweiten Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet. Hierzu soll beim Bundesverkehrsministerium ein Modellversuch beantragt werden. Entschiedener Widerspruch dazu kommt aus der CDU-Fraktion“, benannte die CDU-Fraktion am Donnerstag, 5. August, den Grund zu ihrer Wortmeldung.

Und die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dr. Sabine Heymann erklärte dazu: „Wir brauchen Tempo 30 nur dort, wo es wirklich nötig ist und die Sicherheit erhöht: vor Kitas und Schulen und natürlich in Wohngebieten. Mit einem generellen Tempo 30 weicht man diese Schutzzonen auf und verlagert den Verkehr auch dorthin, wo wir ihn nicht wollen. Das führt obendrein zu enormen Lärmbelästigungen in den genannten Gebieten. Dazu kommen die finanziellen Auswirkungen, die eine Verlangsamung des städtischen Verkehrs mitbringen würde. Wir wollen kein Versuchslabor sein! Wir wollen keine Experimente und lehnen Tempo 30 ab!“

Um welche Kosten geht es eigentlich?

Insbesondere vor den enormen Kosten, die mit der Einführung von Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet auf die Leipziger zukommen sollen, warnte Heymann:

„Es sind ja nicht bloß neue Straßenschilder und Markierungen, die zu beschaffen wären, obgleich auch deren Kosten nicht zu unterschätzen sind. Vor allem die Auswirkungen auf den ÖPNV sind gravierend. In Zürich, das hinsichtlich Einwohnerzahl und Fläche bedeutend kleiner ist als Leipzig und wo Tempo 30 flächendeckend eingeführt wird, rechnet man mit Einmalkosten von fast 75 Millionen Euro sowie bis zu 20 Millionen Euro jährlich, um den innerstädtischen Verkehr zu verlangsamen.“

Und weiter: „Dieses Geld für neue Fahrzeuge und Personal werden unsere Verkehrsbetriebe allein nie und nimmer aufbringen können. Stattdessen werden entweder weitere Belastungen auf die L-Gruppe zukommen oder aber es drohen Einschnitte beim Fahrtakt des ÖPNV – ein Armutszeugnis für die ideologische Verkehrspolitik von Rot-Rot-Grün.“

Erstaunliche Worte für die verkehrspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion. „Was wir brauchen, sind intakte Straßen, Rad- und Fußwege sowie einen nutzerfreundlichen ÖPNV. Dafür und nicht für Experimente sollte zusätzliches Geld eingesetzt werden.“

Die Zahlen, die sie nennt, stammen übrigens aus einem Interview der Neuen Züricher Zeitung mit dem Züricher Stadtrat Michael Baumer (fdp.), Vorsteher der Industriellen Betriebe, also dem, was in Leipzig die L-Gruppe ist.

„Wir haben ja schon früher bekannt gemacht, dass es bei der flächendeckenden Einführung von Tempo 30 zusätzliche Investitionskosten von rund 75 Millionen Franken brauchen würde und 20 Millionen zusätzliche Betriebskosten jährlich“, sagte er dort. Und: „Das wird entscheidend sein. Es geht um zusätzliche Eigentrassees, aber auch um die Steuerung an den Kreuzungen, die sogenannten Knotensteuerungen.“

Was ja nur logisch ist. Und was auch Leipzig längst durchdiskutiert hat – zwar nicht unterm Motto „Tempo 30“, sondern im Zusammenhang mit dem Nachhaltigkeits-Szenario in der Mobilitätsstrategie 2030. Dort hat der Stadtrat beschlossen, zwischen 843 und 991 Millionen Euro in den ÖPNV zu investieren, um genau das hinzubekommen, was Baumer auch erwähnt: dichte Takte, mehr Fahrzeuge im Einsatz, dichteres Netz.

Nur so am Rande: Gleichzeitig hat der Stadtrat 506 bis 581 Millionen Euro Investitionen ins Straßennetz beschlossen. Nur um einen Vergleich herzustellen zu den von Baumer genannten Zahlen. Da hätte auch die NZZ nachfragen müssen, wie sich die von ihm einfach in den Raum geworfenen Zahlen eigentlich in die Verkehrsstrategie einordnen, die auch Zürich hat. Ich betone: nachfragen müssen.

Denn wenn Baumer von „zusätzlichen Investitionskosten von rund 75 Millionen Franken“ spricht, dann wird das auch in Zürich nicht gleich im nächsten Jahr umgesetzt. Das dauert dort auch zehn Jahre. Zehn Jahre, in denen das ÖPNV-Netz sowieso weiter ausgebaut werden soll.

Wo Zürich beim ÖPNV tatsächlich steht

Und jetzt werden wir ganz gemein und ordnen die Züricher Zahlen auch noch in den Stand des ÖPNV ein. Nicht ohne Grund hat die Heinrich-Böll-Stiftung Zürich schon 2018 zur „Welthauptstadt des ÖPNV“ erklärt. Denn das, was Leipzigs Stadtrat 2018 mit der Mobilitätsstrategie 2030 beschlossen hat, hat Zürich schon 1980 begonnen. Was schon lange dafür gesorgt hat, dass der Modal Split in Zürich ein völlig anderer ist als in Leipzig. In Zürich ist der ÖPNV mit 41 Prozent Anteil an allen Wegen die absolute Nummer 1 unter den Verkehrsarten (Stand 2015), deutlich vor dem MIV mit 25 Prozent.

Die Verkehrsmittelanteile in Zürich. Grafik: Stadt Zürich
Die Verkehrsmittelanteile in Zürich. Grafik: Stadt Zürich

In Leipzig ist es geradezu umgekehrt: Der motorisierte Individualverkehr liegt bei 40 Prozent, der ÖPNV nur bei 16 Prozent.

Entsprechend völlig anders sind auch die Fahrgastzahlen. Vor Corona kamen die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) gerade mal auf 156 Millionen Fahrgäste. Die Züricher Verkehrsbetriebe schafften 327 Millionen, davon allein 205 Millionen mit der Straßenbahn. Auch das zum Aufmerken: Mit dem Nachhaltigkeitskonzept planen Leipzigs Verkehrsbetriebe gerade einmal lächerliche 220 Millionen Fahrgäste bis 2030.

2013 beschloss der Züricher Stadtrat ein weiteres Ausbauprogramm für das sowieso schon gut ausgebaute ÖPNV-Netz im Umfang von rund 400 Millionen Franken. Damit wollen die ZVB bis zum Jahr 2030 weitere 100 Millionen Fahrgäste akquirieren.

Wenn also in Zürich gejammert wird, dann auf einem völlig anderen Niveau als in der ÖPNV-Spätstarter-Stadt Leipzig. Und Baumer weist auch eher nebenbei darauf hin, dass noch nicht einmal entschieden ist, welche (Haupt-)Straßen Tempo 50 behalten sollen. Denn wenn dort Tempo 50 bleibt, bleibt auch der ÖPNV schnell.

In der Summe heißt das: Leipzig diskutiert heute auf einem Niveau, auf dem Zürich vor 40 Jahren mal war. Und mit dem, was Zürich heute an ÖPNV-Angebot zu bieten hat, kann sich Leipzig nicht mal ansatzweise vergleichen.

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Keine Kommentare bisher

Bin etwas spät dran, weil gerade erst gelesen . . . Zürich hat natürlich einen gewissen Vorteil durch seine Größe, welche im Stadtbereich ca. 30% der von Leipzig entspricht. Zudem mit recht heftigen Parkkosten, auch für Züricher Verhältnisse, ist der Anreiz für Bahn/Bus/Velo oder zu Fuß größer als er in Leipzig jemals war. Zusammen mit dem sehr gut ausgebautem Zugnetz und diversen Anreizen (u.a. Stichwort Halbtax) überrascht da der Modal Split nicht.
Die größere abzudeckende Fläche kann, sollte aber keine Ausrede für Leipzig sein, denn wo ein Wille ist . . . aber allein daran scheint es bekanntlich schon zu scheitern.

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