Es ist wie ein Déjà-vu. Am 24. März beschloss der Stadtrat mit deutlicher Mehrheit, den Oberbürgermeister zu beauftragen, bis zum 4. Quartal 2021 einen Vorschlag vorzulegen, welches abgegrenzte Stadtgebiet in Leipzig für einen Modellversuch flächendeckendes Tempo 30 sinnvoll nutzbar wäre. Ein Beschluss, der sofort die Leipziger Autolobby auf den Plan rief. So wie 2012, als Leipzig endlich ein Programm für Radstreifen auf Hauptverkehrsstraßen vorlegte.
Damals sorgte dann ein mediales Sperrfeuer aus Kammern und autoverliebten Zeitungen dafür, dass das Programm erst einmal ausgesetzt wurde. Die Radverkehrspolitik wurde für sieben Jahre regelrecht eingefroren. Bis der neu gewählte Stadtrat ab 2019 wieder Druck machte.Denn die Verkehrswende in Leipzig ist überfällig. Die 2013 im Stadtentwicklungsplan „Verkehr und öffentlicher Raum“ (STEP VöR) eigentlich beschlossenen Ziele bei der Verkehrsmittelwahl sind reine Utopie. Denn dazu muss sich das Angebot für sicheren umweltgerechten Verkehr ändern. Aber das hat sich bislang nicht geändert.
Stattdessen füllten sich die Straßen der Leipziger Wohnviertel immer mehr mit geparkten Kfz. Und das nicht nur auf erlaubten Stellflächen, sondern auch auf Fußwegen und Kreuzungen. Eine hochbrisante Mischung gerade für schwächere Verkehrsteilnehmer, wenn sie es dabei mit motorisierten Zeitgenossen zu tun bekommen, die – so wie der ADAC – immer noch für selbstverständlich halten, dass die Straßen allein den Kraftfahrzeugen gehören.
Schon am 15. März versuchte Helmut Büschke, Vorstandsmitglied für Verkehr und Technik des ADAC Sachsen e. V., dazwischenzugrätschen, als sich abzeichnete, dass ein Antrag von Linksfraktion, Grünen- und SPD-Fraktion im Leipziger Stadtrat, der die Einrichtung von Tempo-30-Pilotprojekten forderte, im Stadtrat eine Mehrheit bekommen könnte.
„Viele Autofahrer würden eine durchgängige Tempo-30-Regelung für Leipzig nur schwer akzeptieren, da sie unbegründet erfolgt“, verkündete Helmut Büschke via Pressemitteilung.
„Bisher wurden Tempo-30-Zonen aufgrund von Unfallschwerpunkten, zur besonderen Sicherheit vor Schulen und Kitas und in Wohngebieten installiert – damit sind bereits über 70 Prozent der Leipziger Straßen mit einer Tempo 30 Regelung versehen. Hauptverkehrsstraßen sind bautechnisch für ein Tempo von 50 km/h ausgelegt und Unfälle darauf passieren meist an Kreuzungen oder Einmündungen, wo allein systembedingt geringere Geschwindigkeiten gefahren werden. Ein Abweichen des aktuellen innerstädtischen Tempolimits bringt viele Umstellungen wie auch Gefahren mit sich.“
Die Argumentation fand man dann in den Stellungnahmen der Autofraktionen im Stadtrat wieder. Und entsprechend heftig wurde am 24. März dann auch gestritten am Rednerpult. Aber das änderte nichts daran, dass eine deutliche Mehrheit im Stadtrat mittlerweile die überall herrschende Dominanz von Pkw nicht mehr zu akzeptieren bereit ist.
Und auch wenn Büschke darauf verwies, dass 2019 schon einmal ein Vorstoß der Städte beim Bundesverkehrsminister gescheitert wäre, überhaupt erst einmal ein paar Modellprojekte für Tempo-30-Quartiere aufzulegen, sagt das nichts über die Unmöglichkeit dieses Vorstoßes, die Wohnquartiere in unseren Großstädten wieder lebenswerter zu machen und damit auch sicherer, gerade für die schwächeren Verkehrsteilnehmer.
Denn mit dem aktuellen Bundesverkehrsminister gibt es seit vier Jahren keinen Fortschritt bei der überfälligen Verkehrswende und für bessere Bedingungen für Radverkehr und ÖPNV in den Städten.
Aber dass der ADAC die vermehrten Vorstöße aus den Städten sehr ernst nimmt, wurde am 26. Mai deutlich. Da schrieb Büschke an jede einzelne Fraktion des Leipziger Stadtrates und wetterte gegen die aktuellen Maßnahmen, mit denen die Stadt die Bedingungen für die umweltverträglichen Verkehrsarten verbessern will – gegen die Pilotprojekte für Tempo 30 genauso wie die seit Jahren überfällige Schaffung von Radwegen rund um den Leipziger Innenstadtring.
Beim einen behauptet er „keinen Mehrwert für die Verkehrssicherheit“ (obwohl gerade das ja nur durch echte Pilotprojekte für generelles Tempo 30 ausprobiert werden könnte), beim anderen beklagte er den Raumverlust für die Kraftfahrer. Eigentlich beides typische Zeichen dafür, dass zumindest Büschke die Zeichen der Zeit noch nicht einmal erkannt hat, die eben auch heißen: Nein, 100.000 ADAC-Mitglieder in Leipzig wollen nicht alle dasselbe wie der ADAC. Viele würden sehr gern umsteigen, wenn es attraktive Radwege und ÖPNV-Angebote gäbe, mit denen sie alle Bedürfnisse ihres Lebens gut unter einen Hut bekommen.
Und anders als Büschke würden sie dafür auch den Verlust von Straßenraum für Autos akzeptieren.
„Generell ist festzustellen, dass die seit einigen Jahren vorhandene Verkehrspolitik das Ziel verfolgt, den motorisierten Verkehr zurückzudrängen“, stellt Büschke in seinem Schreiben fest. „Wenn man die Medien verfolgt, dann geht es Ihnen in Ihrer Politik nur noch um die Radfahrer, alle anderen Verkehrsteilnehmer finden keine Beachtung.“
So ist das mit „generellen Feststellungen“: Man sieht nur, was man sehen will. Dass sich in Leipzig nach sieben Jahren Stillstand endlich etwas für den Radverkehr tut, betrachtet der ADAC-Lobbyist als reine Fixierung auf die Radfahrer. Als wären ausgerechnet die in der Vergangenheit so opulent mit sicheren Radwegen beschenkt worden.
Den ÖPNV erwähnt er in seiner Argumentation übrigens überhaupt nicht, außer dass er ihn gleich noch mit zum Leidensträger von Tempo 30 erklärt (auch das ein immer wiederkehrendes Argument), als hätte er einfach ignoriert, dass der gesamte Stadtrat 2018 ein nachhaltiges Mobilitätskonzept beschlossen hat, in dem der ÖPNV noch viel stärker ausgebaut werden soll als das Radwegenetz.
Eben weil es längst viel zu viele Autos in der Stadt gibt und für diese umweltbelastende Verkehrsart dringend Alternativen geschaffen werden müssen.
Das Bild der autogerechten Stadt ist sichtlich fester Bestandteil der Weltsicht im ADAC, der – wie hier – alle Register zieht, um zu verhindern, dass das Auto seinen Ruf als unverzichtbar verliert.
Dabei ist selbst Leipzigs Stadträt/-innen nur zu bewusst, dass eine wirklich klimafreundliche Stadt das Automobil möglichst überflüssig macht und Strukturen schafft, in denen alle täglichen Anlaufpunkte problemlos mit umweltgerechten Verkehrsmitteln erreicht werden können und die Wohnquartiere zusehends sicherer werden, weil die meisten Automobile daraus verschwinden können.
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Es gibt 5 Kommentare
> denn letztlich haben ja alle eigentlich das gleiche Ziel. Oder?
Naja. Für den einen ist ein asphaltierter Radweg zum See “grün”, weil die Leute über Angebote animiert werden das Rad zu nutzen statt das Auto, für die anderen ist ein Schlämmweg “grün”, weil Asphalt im Wald natürlich gar nicht geht.
Das Gleiche bei “was ist links”, “was ist christlich”, “was sichert Arbeitsplätze”, usw. Verschiedene Organisationen, oder auch Leute innerhalb der Organisationen, und daher verschiedene Meinungen zum gleichen Oberbegriff.
Nun, mir schwebte die Grüne Liga Sachsen vor.
Imponiert haben mir vor allem rechtliche Aktionen, welche erfolgreich initiiert wurden.
Zudem könnte sich ja eigentlich jeder naturinteressierte Verein unter diesem Dach versammeln?
In Leipzig ist glaube ich nur NUKLA dabei.
Hier aus der LIZ gab es ja zu den örtlichen Vereinen immer wieder kritische Statements, anhand von Beispielen. Das bedauere ich, denn letztlich haben ja alle eigentlich das gleiche Ziel. Oder?
Christian, vielleicht der ADFC, der in Leipzig halbwegs sichtbar ist?
(Disclaimer: Ich bin in keinem Öko/Verkehrs/Naturschutzverein.)
Ich hatte mich vor Jahren für den Ökolöwen entschieden, weil ich deren Engagement wichtig fand. Also eher die Themen Fassadenbegrünung, Nachfrage warum Bau-Ausgleichsmaßnahmen nicht erfolgen, Protest gegen die Straßenbahn-Einstellung Markkleeberg inkl. konstruktiver Vorschläge, auch die Verbreitung der Saattüte mit Wildpflanzen für die Verbesserung der Bedigungen für Bienen fand ich gut. Mittlerweile glaube ich, dehnen sie ihren Einfluß bißchen zu weit aus und ich überlege wieder zu kündigen. Fast zum Kippen gebracht hat mich ihre Kampagne “Autobahnkreuz mitten in der Stadt”. Das war fast unter BILD-Niveau.
Da tut es gut, dass ich mich bereits vor ein paar Monaten dazu entschieden habe, aus dem ADAC auszutreten.
Erstens, weil Pannenhilfe seit längerem schon durch die Versicherungen mit vielen Abschlepp-Unternehmen abgedeckt wird.
Und zweitens – das war mir noch etwas wichtiger, weil ich es klüger finde, den PKW-Lobbyisten etwas Wind aus den Segeln zu nehmen. Nicht, um den Autoverkehr abzuschaffen, aber um gesünderen Alternativen zu mehr Gewicht zu verhelfen.
Den eingesparten Beitrag werde ich zugunsten eines Umweltverbands umwidmen.
Hier wird die Entscheidung allerdings schwierig, wenn ich die auf der L-IZ geführten Diskussionen zu den Vereins-Möglichkeiten und deren realen Initiativen sehe.
Vielleicht wird es dann doch eher etwas überregionales…