LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 81, seit 31. Juli im HandelFriedemann Goerl ist erst 30 Jahre und trägt in Leipzig schon viel Verantwortung. Der studierte Geograph ist seit 2018 der Fußverkehrsverantwortliche der Stadt. In einer fast 300 Quadratkilometer großen Stadt mit 1.700 Kilometern Straße, zahlreichen Parks und dem Auwald eine echte Mammutaufgabe. Doch davon lässt sich Goerl nicht abschrecken, hat und erarbeitet Pläne. Die gefallen nicht jedem. Wie lange müssen sich Fußgänger den Autofahrern noch gänzlich unterordnen?
Herr Goerl, Sie sind der Fußverkehrsverantwortliche der Stadt Leipzig. Was bedeutet das?
Ich bin die Person, die sich mit dem Thema Fußverkehr in Leipzig explizit und in seiner gesamten Bandbreite auseinandersetzen darf. Beschäftigt bin ich im Verkehrs- und Tiefbauamt, dort wo auch Baumaßnahmen jeglicher Art – Straße, Plätze, Gehwege – stattfinden und trage dort die Verantwortung zu prüfen, ob für den Fußverkehr bei Bauprojekten alles passt. Ich bin seit dem 1. Januar 2018 angestellt und der erste, sowohl in Leipzig als auch weit und breit.
Weit und breit? Also deutschlandweit?
Es kommt natürlich immer auf die Definition an. Es gibt viele Städte, die sich natürlich genauso dem Thema Fußverkehr gewidmet haben, aber eine spezielle sektorale Verantwortlichkeit nur für dieses Thema ist eigentlich relativ einzigartig.
Haben Sie eine eigene Abteilung? Oder sind Sie die Abteilung?
Eine eigene Abteilung Fußverkehr gibt es noch nicht, daher bin ich der generellen Planung beziehungsweise dem Fachbereich Nahverkehr zugeordnet. Aber was noch nicht ist, kann ja noch werden…
Wie läuft der Arbeitsprozess ab? Bei welchen Projekten werden Sie mit herangezogen?
Ich bin prinzipiell eigentlich bei allen Projekten involviert, die irgendwas mit Gehwegen, Querungshilfen und Aufenthaltsflächen zu tun haben, das sind de facto fast alle Bauprojekte. Es gibt selten Baumaßnahmen, bei denen Fußverkehr keine Rolle spielt. Deswegen reicht die Bandbreite an Projekten von Haltestellen der LVB bis zu neuen Stadtquartieren wie am Bayerischen Bahnhof, bis hin zu Bebauungsplänen. Von Kleinmaßnahmen wie Zebrastreifen bis zu Komplexmaßnahmen ganzer Straßenquerschnitte.
Wie schaffen Sie denn das alles? In so einer Stadt wie Leipzig ist doch unglaublich viel los.
Ja sicher. Aber ich erstelle die Pläne ja nicht selbst und bin daher „nur“ im Ämterumlauf involviert. So schaue ich zum Beispiel, ob die selbst gesetzten Ziele der Stadt Leipzig für den Fußverkehr als auch die Richtlinien, die es in Deutschland dafür gibt, berücksichtigt oder abgewogen worden sind beziehungsweise welche Verbesserungen man noch vornehmen kann.
Aber das ist bloß ein Teil meiner Aufgaben, es gehört dazu auch, die strategische Dimension des Fußverkehrs zu fördern. Wir haben in Leipzig natürlich einen Nahverkehrsplan und es gibt ebenso einen Radverkehrsentwicklungsplan – so etwas braucht es daher auch für den Fußverkehr, und deswegen bin ich auch eingestellt. Ein Großteil meiner Arbeit macht es aus, die strategische Fußverkehrsplanung auf allen relevanten Entscheidungsebenen und Planungsebenen voranzutreiben und zu repräsentieren.
Bevor wir darüber reden: Mich würde noch interessieren, welche Kriterien eine Rolle spielen, wenn Sie auf Projekte im Umlaufverfahren schauen, um zu sagen, das passt für den Fußverkehr und das nicht?
Eine gute Verkehrsplanung nach neuesten Standards sollte von außen nach innen planen. Wir sind in einem urbanen Raum und eigentlich ist das Wertvollste was wir haben der Platz, wo wir uns begegnen können und wo das Leben stattfindet. Und das sind zum größten Teil die Bereiche des Fußverkehrs.
In der Vergangenheit wurde oft gesagt: Wir müssen einen bestimmten Querschnitt an Straße bringen, weil so und so viele Autos diese Straße durchdonnern und am Ende bleiben links und rechts irgendwelche Restflächen für den Fußverkehr übrig. Das ist natürlich nicht mehr Standard und sollte auch nicht so sein. Öffentliche Räume müssen wieder zum Wohnzimmer unserer Stadt werden und nicht der dreckige und ungemütliche Flur, in dem man private Möbel mit Rädern abstellt, für die woanders kein Platz mehr war.
Aber wie ernst wird denn die Position des Fußverkehrs in diesem Abwägungsprozess genommen?
Ein Abwägungsprozess heißt nicht, dass ich nur etwas sagen muss und dann wird der Fußverkehr automatisch in vollem Umfang berücksichtigt, sondern es geht ja eigentlich erst mal darum, die Position des Fußverkehrs überhaupt wahrzunehmen.
Also in der Abwägung sprechen ja sehr viele Leute mit, da sagt die Branddirektion wir wollen das, die LVB sagt jenes und der Radverkehrsbeauftragte wünscht sich noch Fahrradbügel. Von allen wird angemerkt, was aus deren Sicht noch in die Pläne einfließen soll. Aus der Position des Fußverkehrs geht es z. B. darum, notwendige Breiten und Qualitäten zu gewährleisten.
Wenn keiner diese Position hat oder das ausspricht, kann es gar nicht abgewogen werden und der Fußverkehr kommt im wahrsten Sinn unter die Räder. Deswegen ist es meine Aufgabe, diese Sprechposition als Fußverkehr überhaupt an den Verhandlungstisch zu bringen.
Betrachten wir die Projekte, die seit 2018 schon gelaufen sind: Wo würden Sie sagen, da war es ganz wichtig, dass wir gehört wurden, sonst würde es bei dieser Baumaßnahme das Element nicht geben?
Tatsächlich sind es eher die kleineren Dinge, die auch schnell einfließen können, die aber oft vergessen werden, aber trotzdem ungeheuer wichtig sind. Es geht dann um Bordsteinabsenkungen an den richtigen Stellen, eine Stadt der kurzen Wege, es geht um Barrierefreiheit und natürlich Verkehrssicherheit. All diese Dinge müssen mitbetrachtet werden und nicht bloß die „Leichtigkeit“ des Kfz-Verkehrs.
Aber es geht auch um die Qualität von öffentlichen Räumen, dass man es schafft, mehr Bäume und mehr Bänke einzuplanen. Wir tun sehr viel für den ruhenden Kfz-Verkehr, aber was tun wir denn in unserer Stadt für den ruhenden Fußverkehr? Aus meiner Sicht brauchen wir viel mehr Flächen für den ruhenden Fußverkehr! Man schaue sich doch nur um, wie viele Flächen für den ruhenden Kfz-Verkehr in unserer Stadt reserviert sind und setze das in Verhältnis zum ruhenden Fußverkehr.
In einer Stadt, die auch Lebensqualität ausstrahlen soll oder auch eine altersgerechte Stadt sein muss, braucht man auch alle 100 Meter eine Bank, auf welcher man als Senior ein Päuschen zum Verschnaufen machen kann oder einfach nur seine Bemme essen kann. Das muss mitgedacht werden. Aber es geht auch um größere Dinge, etwa Bereiche auch für den Kfz-Verkehr zu entwidmen beziehungsweise dessen Primat zu brechen.
Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Stellen Sie sich vor, man läuft auf einem ganz normalen Gehweg entlang. An jeder Kreuzung endet jedoch mein Fußweg schlagartig. Auch wenn es nur eine kleine Anliegerstraße ist, der Fußverkehr muss jedes mal Bordstein runter und wieder rauf über eine Fahrbahn treten. Diese Logik ist „auto-dominiert“.
An vielen Punkten kann man sich die Frage stellen, welche ist eigentlich gerade die vorherrschende Verkehrsart? Der Fußverkehr längs einer Geschäftsstraße oder der abbiegende Kfz-Verkehr in eine Nebenstraße? Wenn man jetzt Komplexmaßnahmen hat, bei denen eine ganze Straße neu angefasst wird, kann zum Beispiel auch der Gehweg durchgezogen werden. Der Gehweg bleibt dann für den Kfz-Verkehr überfahrbar, jedoch muss er sich dem Fußverkehr unterordnen.
Wir können also die Logik umdrehen, die dazu geführt hat, dass wir nicht mehr durch unsere Städte flanieren können, sondern an jeder Kreuzung warten. In der Bornaischen Straße wird dies an zwei Stellen gerade gebaut, am Lindenauer Markt wird dies hoffentlich nächstes Jahr für die Henricistraße und die Demmeringstraße erfolgen.
Aber das klingt etwas wie der Kampf um eine Gleichberechtigung von Frauen in Führungspositionen oder die Durchsetzung von Klimazielen. Das klingt nach Aufbrechen extrem verkrusteter alter Denkweisen und Strukturen und viel, viel Überzeugungsarbeit.
Ja. Aber das Tolle ist: Fußverkehr mag auf den ersten Blick etwas komisch daherkommen und wird auch immer belächelt: „Was soll denn dieser Fußverkehr sein?“ Wenn man das aber einmal ausdekliniert, was Fußverkehr alles ist und kann, dann hat man eigentlich sehr viele Freunde und Förderer.
Alle Menschen in Leipzig haben ein Interesse daran, in einer Wohngegend zu wohnen, wo sehr viel Lebensqualität herrscht. Und Lebensqualität entsteht nicht, indem ich da irgendwie 300 Parkplätze auf einer Asphaltfläche vorfinde, sondern indem ich eine Bank, einen Baum, einen Trinkbrunnen und ausreichend Freiflächen für meinetwegen auch Geschäftsauslagen und Freisitze habe. Damit kann man sehr viele Sympathiepunkte sammeln, was dann in der Kommunikation nach außen, wenn man so eine Umgestaltung einer Straße angeht, auch förderlich ist.
Natürlich gibt es am Anfang vielleicht auch Widerstände, aber wenn man einmal einen Raum verändert hat zu mehr Aufenthaltsqualität, wollen die Leute das Alte nicht wieder zurückhaben. Kein Mensch würde da, wo an der Thomaswiese in der Innenstadt die schönen Bäume und Bänke stehen, die Parkplätze der 90er Jahre wieder zurückhaben wollen.
Fallen kaputte Gehwege auch in Ihren Aufgabenbereich?
Also ich bin natürlich nicht der einzige, der sich in der Stadtverwaltung mit Fußverkehr auseinandersetzt. Das wäre auch nicht schaffbar in einer Stadt mit 600.000 Einwohnern. Deswegen haben wir natürlich auch die ganz normale Abteilung für Straßenunterhalt, die auch für die Gehwege zuständig ist.
Hier bin ich aber manchmal auch Scharnier oder Schnittstelle. Die Position als Fußverkehrsverantwortlicher ist natürlich von der Verwaltung her öffentlicher positioniert. Viele Menschen wissen, dass es einen Fußverkehrsverantwortlichen gibt, den man anschreiben kann. Wenn sie dann ein Anliegen haben, können sie auch direkt an mich schreiben und ich vermittle den Kontakt zur Straßenunterhaltung. Im besten Fall wird’s dann auch eingetaktet und behoben.
Aber das ist natürlich auch ein Abwägungsprozess. Ich bin mir bewusst, dass in Leipzig viele Gehwege desolat sind oder komplett fehlen. Auch unsere schönen Granitkrustenplatten haben einen hohen Sanierungsbedarf. Gleichzeitig weist Leipzig einen wahren Schatz städtebaulicher Natur von diesen Granitkrustenplatten auf. Nach heutigen Maßstäben wären solche Steine nicht bezahlbar.
Wie kommt das, dass es in Leipzig so viele gibt?
Früher war generell Fußverkehr etwas, wo sich das Bürgertum repräsentiert hat. Indem breite Gehwege geschaffen worden sind, war es dem Bürgertum möglich, sich flanierend beim Sonntagsspaziergang zu zeigen. Gleichzeitig spiegelte sich natürlich auch der Reichtum einer Stadt in hochwertigen Räumen wider. Hier hat Leipzig als reiche Messestadt um die Jahrhundertwende Maßstäbe gesetzt.
Die reiche Bürgerstadt hat sich breite Gehwege für alle gegönnt. Der absolutistische Fürst legte seinen Fokus eher auf die Anlage eines großen Parks für sich alleine. Breite Gehwege, Boulevards und Flaniermeilen sind deshalb auch Gradmesser für die gesellschaftliche Ermächtigung der Bewohner einer Stadt.
Fällt es Ihnen – wenn Sie in anderen Städten sind – als Fußverkehrsverantwortlicher auf, wie der Fußweg geschaffen ist?
Ja, es gibt unterschiedliche Gestaltungsgrundsätze. Dresden hat z. B. auch sehr viel Granit verbaut, aber keinen Ober- und Unterstreifen, aus Mosaikpflaster. Diese Einfassung aus Porphyr ist für Leipzig typisch und kommt aus der Region. Ich habe es zwar nie überprüft, aber ich habe schon oft die Geschichte gehört, dass die DDR die Granitkrustenplatten als Devisenbringer verkauft hätte und einige Städte deshalb keine mehr besitzen. Leipzig hat sich daran wohl nie beteiligt und so liegen sie bis heute.
Gibt es viele Anliegen, die an Sie herangetragen werden?
Als ich angefangen habe, waren es extrem viele. Es lag vielleicht auch ein bisschen daran, dass sich viele gefreut haben, dass es endlich jemanden gibt, der sich nun auch dem Thema Fußverkehr widmet. Einige E-Mails oder Briefe fingen dann auch tatsächlich damit an: „Endlich gibt es mal jemanden, der auch für uns Fußgänger etwas macht.“ Prinzipiell sind es schon eher die älteren Semester, die sich bei mir melden.
In letzter Zeit ist es wieder ein bisschen weniger geworden, nichtsdestotrotz ist es eigentlich ein kontinuierlicher Prozess. Es ist nicht zu unterschätzen, welcher Aufwand auch dahintersteht, Bürgeranliegen ordentlich zu beantworten – und zwar so, dass es die Bürger und Bürgerinnen zufriedenstellt. „Ja, schönen Dank, wir haben es aufgenommen und 2030 wird die Straße gemacht“ ist meistens nicht der Erwartungshorizont, den eine Liselotte Müller, 90 Jahre, dann zufriedenstellt.
Wenn es um Bauprojekte geht: Schauen Sie sich das dann vor Ort an? Inwiefern erlaufen Sie sich auch die Stadt und sagen, ok, den Stadtteil Reudnitz-Thonberg kenne ich gar nicht zu Fuß, das nehme ich mir mal vor am Wochenende?
Ich bin schon seit elf Jahren in Leipzig, sodass ich zumindest immer weiß, worum es sich eigentlich dreht beziehungsweise kann man das natürlich auch recherchieren. Irgendwann kann man, wenn man im Verkehrs- und Tiefbauamt arbeitet, jeden Straßennamen in Leipzig ungefähr zuordnen. Man kann sich nicht jede Straße oder jedes Bauprojekt physisch vor Ort anschauen, dafür sind es einfach viel zu viele. Da greift man ehrlicherweise natürlich auch gerne mal auf Google-Streetview oder dergleichen zurück.
Wir haben auch einen großen Datensatz im geografischen Informationssystem der Stadt, der auch über die Stadtseite verfügbar ist, aber wir haben natürlich auch noch viel mehr Datensätze, die man zur Analyse auch verwenden kann. Von Zustandsdatenbanken bis Erreichbarkeiten und dergleichen, wo man auch dezidiert Informationen abfragen kann, die hilfreich sind, um bestimmte Sachen einordnen zu können. Aber nichtsdestotrotz: Ich schaue mir auch durchaus die Dinge natürlich live vor Ort an.
Die Probleme von Personen mit Kinderwagen müssten doch auch in Ihren Bereich fallen …
Ja, auf jeden Fall. Das ist ja das Großartige an Barrierefreiheit. Manche denken, Barrierefreiheit hat nur was mit Senioren und Menschen mit Behinderungen zu tun. Das ist Quatsch. Es kann sein, dass wir alle uns mal das Bein brechen und in die Lage kommen oder Personen kennen oder pflegen, die darauf angewiesen sind.
Vielleicht brauchen wir Barrierefreiheit in einem bestimmten Lebensabschnitt nicht maßgeblich, trotzdem ist jede Absenkung und jede Rampe für uns genauso angenehm. Auch für mich, der vielleicht sportlich unterwegs ist, ist ein abgesenkter Bord ja nichts hinderliches, im Gegenteil, es ist komfortabler für alle. Barrierefreiheit ist ein Thema was uns alle betrifft, und deswegen ist es natürlich auch ein Thema, was wir unbedingt flächendeckend überall angehen müssen.
Sie haben diesen Fußverkehrsplan angesprochen, was hat es damit auf sich?
Wir haben den Auftrag vom Stadtrat bekommen, uns dezidiert als Verwaltung dem Fußverkehr planerisch anzunehmen, deswegen haben wir ein dreistufiges Verfahren angestrebt. Zuerst einmal die Fußverkehrsstrategie, dann den Fußverkehrsentwicklungsplan und parallel dazu die Fußverkehrskonzepte für einzelne Stadtviertel. Momentan ist die Fußverkehrsstrategie eigentlich so gut wie fertig, sie ist noch im Ämterumlauf und die Fachöffentlichkeit muss noch beteiligt werden.
In der Fußverkehrsstrategie geht es nicht darum, dass jetzt schon Maßnahme xy betitelt wird, das kommt später im Entwicklungsplan oder in den Fußverkehrskonzepten. Sondern erst mal müssen wir uns auch als Stadt grundsätzliche Leitbilder und Beschlusspunkte für den Fußverkehr geben.
Es gibt zwar schon allerhand Zielsetzungen, die sind aber meistens irgendwo versteckt oder nicht dezidiert für den Fußverkehr zugeschnitten. Da steht mal was im Nahverkehrsplan zur Erreichbarkeit von Haltestellen, oder im Zentrenkonzept ist was drin zu Geschäftsstraßen oder das Stadtplanungsamt hat ein Sitzplankonzept erstellt.
Die Fußverkehrsstrategie ist erstmalig auch ein Versuch, Sachen zusammenzuführen und neue Standards für den Fußverkehr zu setzen. Wenn das dann abgeschlossen ist, wollen wir auch in die Maßnahmenprogramme rein. Der Fußverkehrsentwicklungsplan soll deshalb expliziert ein Zebrastreifenprogramm, ein Gehwegsanierungsprogramm, ein Lückenschlussprogramm sowie ein Stadtplatzprogramm enthalten.
Der Unterschied zu allen anderen Verkehrsarten ist jedoch, dass Fußverkehr extrem kleinteilig ist. Ein Fußverkehrsentwicklungsplan für die ganze Stadt ist ein Husarenritt, der ist vom Maßstab einfach zu groß. Die Sachen um die es geht, sind jedoch teilweise sehr klein und ubiqitär. Deswegen brauchen wir auch kleinteilige Entwicklungspläne und damit haben wir auch schon angefangen. Für Stötteritz ist ein Fußverkehrskonzept eigentlich de facto fertig. Es ist gerade in der Abstimmung.
Was hat es mit dem Stadtplatzprogramm auf sich?
Zur Jahrhundertwende hatte man sehr gut verstanden, dass ein attraktiver Fußverkehr eine Abfolge von Straßen und Plätzen ist und dass man alle 200 bis 300 Meter auch einen Platz braucht. Der muss manchmal nicht riesig sein, das kann auch schon die Gehwegaufweitung mit Bank und Baum sein. Wir haben in Leipzig sehr viele Plätze, die tragen heute noch diesen Namen, zum Beispiel Westplatz, Ostplatz, auch Südplatz oder Nordplatz.
Körnerplatz, Shakespeareplatz…
Genau, das sind gründerzeitliche Schmuckplätze. In dem Fall gibt es die ja noch, aber ich würde sagen, der Ostplatz zum Beispiel oder der Westplatz, das hat nichts mit Platz zu tun, das ist eine Kreuzung. Muss es denn die Kreuzung bleiben, ist dann natürlich die Frage oder haben wir einfach dem Kfz-Verkehr in den letzten Jahrzehnten viel zu viel Raum gegeben und brauchen jetzt auch viel mehr Räume auch für den Fußverkehr oder für die aktive Mobilität insgesamt, wenn wir den Umweltverbund stärken wollen?
Was denken Sie, sind die Leipziger sehr lauffreudig, spazierfreudig, gehfreudig?
Ja natürlich, alle Menschen sind von Natur aus gehfreudig und das wird meistens vollkommen unterschätzt. Also wenn ich jetzt auf der Straße fragen würde, mit was bewegt man sich denn hauptsächlich zurück, würden die wenigsten sagen, dass Fußverkehr einen enorm hohen Anteil hat. Aus der Forschung haben wir jedoch das System repräsentativer Verkehrsbefragungen (SrV), was unter anderem auch den Fußverkehr seit Jahrzehnten in unseren Städten misst. Hier kommt für Leipzig heraus, dass 27 Prozent aller täglichen Wege zu Fuß zurückgelegt werden.
Da kann man sich dann natürlich die Frage stellen, geben wir 27 Prozent unserer finanziellen Mittel für den Fußverkehr aus? Sind 27 Prozent aller Planstellen im Verkehrs- und Tiefbauamt mit Fußverkehrsanliegen beschäftigt? Nein, natürlich nicht. Nicht mal ansatzweise. Aber wenn wir das Nachhaltigkeitsszenario für Leipzig ernst nehmen wollen, müssen wir auch dem Fußverkehr viel mehr Raum, Platz, Personal und Finanzen geben.
Aber ich kann mir jetzt schwer vorstellen, dass die Kfz-Verkehrslobby freiwillig auf ihren Platz verzichtet und Leipziger Autofahrer in die Hände klatschen und sagen: Super, dass jetzt die Straße für mich nicht mehr ohne weiteres passierbar ist oder ich auf die Fußgänger Rücksicht nehmen muss.
Es gibt auf jeden Fall Widerstände. Nichtsdestotrotz: Es funktioniert nicht ohne. Das Einwohnerwachstum ist vielleicht ein bisschen abgeschwächt und wir werden garantiert nicht die 700.000 Einwohner knacken, aber trotzdem wächst Leipzig noch, und das Bedürfnis an Mobilität wächst genauso.
Und dann ist die Frage, wie können wir diese Verkehrsleistung überhaupt abwickeln? Das private Auto ist verkehrsplanerisch und gesamtgesellschaftlich das ineffizienteste Verkehrsmittel, um in der Stadt von A nach B zu kommen. Das sieht man zum Beispiel am immensen Flächenverbrauch und an den Kapazitäten, die es in der Verkehrsplanung bindet.
Damit Kfz-Verkehr fließt, benötige ich immer teure Infrastruktur, welche im Endeffekt noch mehr Verkehr anzieht und noch mehr teure Infrastruktur benötigt. Ein Teufelskreislauf, der nicht beherrschbar ist und zudem unsere Lebensgrundlage auf vielen Ebenen gefährdet.
Fußverkehr hingegen ist super resilient, kann überall stattfinden und mit sehr wenig Mitteln kann man Möglichkeiten schaffen, damit er fließen kann. Dasselbe gilt für den Radverkehr. Das Rad braucht nur einen Bruchteil der finanziellen Mittel, damit ich dieselbe Verkehrsleistung abwickeln kann wie beim Kfz-Verkehr.
Aus diesen Gründen stellt sich zuerst die Frage: „Hab ich überhaupt den Platz, den Mehrbedarf an Mobilität durch Kfz-Verkehr abzuwickeln? Nein, hab ich nicht. Es sei denn, wir machen es wieder wie in den 90er Jahren und reißen ganze Straßenzüge ab und bauen zwei- oder dreizügige Achsen für den Kfz-Verkehr. Aber habe ich überhaupt die politischen und finanziellen Möglichkeiten dafür? Habe ich wahrscheinlich auch nicht. Zum Glück.
Und dann muss ich zwangsläufig auf Verkehrsmodi zurückgreifen, die diesen Mehrbedarf adäquat abbilden können. Das ist der Umweltverbund. Natürlich kann ich nicht alles zu Fuß machen, irgendwann ist dann auch meine persönliche Kilometerleistung am Tag erreicht, deswegen muss ich das natürlich sinnvoll ergänzen, mit Fahrrad oder ÖPNV. Und natürlich können dann auch Kfz im Sinne von Carsharing und Co. dazugehören oder der notwendige Wirtschaftsverkehr. Aber man sieht ja, was momentan noch an Verkehrsleistung unnötigerweise im Kfz abgewickelt wird.
Aber gibt es nicht auch Menschen, die auf Ihr privates Auto angewiesen sind?
Ja natürlich. Die Krankenschwester, die zur Schicht 30 Kilometer früh um sechs mit dem Auto fahren muss, kann natürlich darauf angewiesen sein, mit dem Auto zu fahren Das will ihr auch keiner absprechen. Aber wenn ich mir die Zahlen ansehe, die unser Verkehrsgeschehen insgesamt abbilden, dann sehe ich, dass ein Viertel der Kfz-Fahrten in Leipzig unter drei Kilometer „lang“ sind. Das sind eigentlich Verkehrsleistungen, die vollkommen obsolet sind.
7 % aller Fahrten mit dem Kfz sind in Leipzig unter 1 Kilometer lang. Wenn zumindest diese Fahrten, die wirklich vermeidbar sind, nicht mehr mit dem Kfz stattfinden, dann haben wir doch schon sehr viel gewonnen. Und da geht es nicht darum, dass jetzt der Handwerker auf sein Auto verzichten muss, sondern vielleicht reicht es auch, wenn man auf den Zweitwagen verzichtet oder die Fahrt zum Bäcker nicht mit dem Auto abwickelt.
Wie kann man das messen?
Durch die besagte SrV Verkehrsbefragung. Da werden Leute in ganz Leipzig, aber auch in anderen deutschen Städten Deutschland angeschrieben und eine repräsentative Stichprobe ermittelt. An bestimmten Stichtagen werden dann die Teilnehmenden zu allen Wegen, Entfernungen, Dauer, Zweck und Verkehrsart befragt.
Ist nicht unsere Welt mittlerweile so dynamisch geworden, dass wir uns den Luxus des Laufens nicht mehr leisten können? Es ist ja auch eine Zeitfrage letztlich.
Und damit sind wir bei Bertram Weißhaar, dem Leipziger Spaziergangsforscher. Er sagt, dass Zeit natürlich eine Ressource ist, die in unserer Zeit Luxus geworden ist. Wir versuchen uns immer weiter zu optimieren und Dinge noch schneller zu machen und am Ende haben wir doch noch weniger Zeit. Unsere Gesellschaft ist auf der Überholspur unterwegs und merkt nicht, dass der ständige Motor das Problem und nicht die Lösung ist.
Wenn ein Fahrzeug mit Tempo 50 auf einen Fußgänger oder eine Fußgängerin trifft, liegen die Überlebenschancen gerade einmal bei 30 Prozent. Ist das Auto dagegen mit Tempo 30 unterwegs, steigen die Überlebenschancen auf 90 Prozent. Der Zeitvorteil, welcher uns Tempo 50 in unseren Städten bietet, ist minimal und spätestens an der nächsten Ampel wieder aufgebraucht. Eine Stadt, welche in menschlichen Dimensionen gebaut ist, hat Zeit, Platz und Raum für alle Menschen. Dazu gehört auch eine gehörige Portion Entschleunigung.
Ob uns eingesparte Zeit, welche uns die technische Optimierung und die ökonomisch induzierte Beschleunigung bietet, glücklicher macht, das bezweifle ich. Der Philosoph Walter Benjamin beschrieb in seinem berühmten Passagen-Werk, dass die Pariser Flaneure als Protest gegen die Arbeitsteilung, die Spezialisierung und den Großstadtstress mit einer Schildkröte flanieren gingen. Vielleicht sollte man diese Protestform gegen Zeitarmut und ungebremste Beschleunigung reaktivieren…
Die neue Leipziger Zeitung Nr. 81: Von verwirrten Männern, richtigem Kaffee und dem Schrei der Prachthirsche nach Liebe
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