Da dachten wir die ganze Zeit, wir hätten irgendwie die falsche Brille auf, wenn wir uns die Radwege in Leipzig anschauten. Wir sahen eine Menge Stillstand, zerfahrene Beläge, hochgefährliche Querungen, zögerlichen Ausbau. Und immer wieder meinte die Verwaltung: Wir kommen doch gut voran! – Doch der neue BYPAD-Bericht erzählt etwas anderes: Er bestätigt den Quasi-Stillstand im Leipziger Radnetz der letzten sechs Jahre. Das gesteht jetzt auch das Verkehrs- und Tiefbauamt zu.

Es wird ja leider nur in großen Intervallen untersucht. Aller fünf Jahre in der Regel. Bei der dritten unabhängigen Überprüfung der städtischen Radverkehrspolitik im EU-zertifizierten BYPAD-Verfahren wurde deren Zustand jetzt deutlich kritischer beurteilt als noch vor sechs Jahren. Die Gesamtnote betrug nun nur noch 2,3 von maximal 4,0 erreichbaren Punkten, 2014 wurde Leipzig noch mit der Note 2,7 bewertet. Der vorliegende Bericht sieht Schwächen vor allem bei den Themen Infrastruktur und Sicherheit. So heißt es beispielsweise, die Infrastruktur zum Radfahren sei in die Jahre gekommen und bedürfe einer generellen Überprüfung.

Das Amt hat natürlich auch nach tröstlichen Punkten gesucht und fand sie auch: „Der Bericht hebt aber positiv hervor, wie Leipzig bei der Stadtentwicklung bemüht ist, Alternativen zur Autonutzung im Alltagsverkehr anzubieten und zu fördern – um auch künftig wahlfreie Mobilität für alle zu sichern. Auch würde das Rad etwa bei Straßenbaumaßnahmen angemessen berücksichtigt. Anhand von Untersuchungen würden die Bedürfnisse der Radfahrerinnen und Radfahrer zudem regelmäßig erhoben, in verschiedenen Gremien wie der AG Rad sei der Dialog mit ihnen stetig gegeben. Auch dies wird positiv bewertet.“

Aber Bemühen und Drüberreden hilft eben nichts. Sowohl die Radnetzplanung als auch das Radverkehrsentwicklungskonzept sind um Jahre verspätet. Den neuen Radverkehrsentwicklungsplan erwartet man jetzt gar erst 2022, obwohl 2020 der alte ausgelaufen ist, der schon lange nicht mehr den veränderten Mobilitätserwartungen der Leipziger/-innen entspricht.

BYPAD wurde als Qualitätsmanagementverfahren innerhalb der EU entwickelt und bedeutet „Bicycle Policy Audit“, zu Deutsch etwa „Überprüfung der Radverkehrspolitik“. Durch das standardisierte Verfahren werden europaweit vergleichbare Ergebnisse erzielt. Leipzig hatte sich bereits 2009 und 2014 freiwillig zertifizieren lassen, der neue Bericht nimmt nun den Zeitraum von 2015 bis 2019 in den Blick.

Beteiligt an diesem durch ein externes Büro durchgeführten Verfahren waren städtische Ämter, die Polizeidirektion, Vertreter der Fraktionen und Interessensgruppen wie der ADFC und Ökolöwe. Mittels eines Fragebogens und in zwei Diskussionsrunden beurteilten sie die Radverkehrsförderung Leipzigs.

Die Entwicklung der Bewertungen 2009, 2014, 2019. Grafik: BYPAD-Audit2019/20
Die Entwicklung der Bewertungen 2009, 2014, 2019. Grafik: BYPAD-Audit2019/20

Der Bericht formuliert für Leipzig auch einen Aktionsplan, um Leipzig weiter zur Fahrradstadt zu entwickeln. Dabei wird unter anderem die personelle Aufstockung in den verantwortlichen Ämtern und die Bildung eines „Teams Radverkehr“ empfohlen. Denn genau hier hatte auch Leipzig all die Jahre eine Leerstelle.

Auch finanzielle Ressourcen müssten deutlich angehoben werden, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Was eigentlich schon 2018 hätte passieren müssen, als der Stadtrat das „Nachhaltigkeitsszenario“ für den Verkehr beschloss, in dem ein Ausbau des Radwegenetzes eine ganz zentrale Rolle spielt. Ganz zu schweigen davon, dass es viel schneller entwickelt werden kann als neue Strecken für die Straßenbahn.

Während BYPAD 2014 noch voller Erwartungen war, dass Leipzig nun langsam beginnen würde, das Radnetz sicher zu machen, war das Jahr 2019 von umfassender Enttäuschung geprägt, sackten die Noten für Steuerung, Strategien und Infrastruktur deutlich ab. Grund: Es wurde beim Radnetzausbau weiter geknausert.

Im Bericht heißt es dazu: „In den letzten Jahren wurden für den Radverkehr lediglich 2,87 € in 2016, 5,97 € in 2017 und 2,76 €in 2018 pro Einwohnende investiert. Diese Mittel können darüber hinaus nur beim Vorhandensein abgestimmter Maßnahmen und personellen Kapazitäten eingesetzt werden“, liest man da. Und darum, dass überhaupt 5 Euro pro Einwohner/-in zur Verfügung gestellt wurden, hatte der Stadtrat jahrelang mit zäher Geduld gekämpft. Obwohl selbst dieser Wert zu gering ist, um wirklich einen Qualitätssprung zu schaffen.

„Lösungen für die städtische Mobilität in Leipzig werden in der Mobilitätsstrategie 2030 thematisiert. Zur Umsetzung des im Stadtrat 2018 daraus beschlossenen Nachhaltigkeitsszenario müssten alleine für den Radverkehr zukünftig ca. 10 € pro Einwohnende und Jahr zusätzlich investiert werden. Dies entspräche auch dem Orientierungswert bezüglich des Finanzbedarfes nach dem Nationalen Radverkehrsplan der Bundesregierung (NRVP), der für ,Aufsteiger-Städte‘ einen Finanzbedarf von ca. 13-18 €/Einwohnende aufzeigt.“

Bei der Ertüchtigung der Wegeinfrastruktur sieht der Plan unter anderem Potential, die Lücken im Radwegenetz auf den Hauptverkehrsachsen zu schließen. Kreuzungen müssten sicherer werden und im Nebenstraßennetz der Fahrbahnbelag verbessert werden, liest auch das Verkehrs- und Tiefbauamt den Handlungsbedarf im Radverkehr. Der Aktionsplan schlägt zudem vor, dass sich die Stadt verstärkt im Bereich Mobilitätserziehung und Verkehrssicherheitstraining engagiert.

Dr. Christoph Waack, Radverkehrsbeauftragter der Stadt, sieht im deutlich kritischeren Bericht auch einen Ansporn: „Das BYPAD-Verfahren war notwendig, um zu erkennen, wo wir bislang stehen und wohin sich die Radverkehrspolitik in Leipzig entwickeln muss. Nur mit einer weiteren Konzentration der Kapazitäten in der Radverkehrsplanung können wir den Stadtverkehr im Sinne der Mobilitätsstrategie 2030 zukunftsfähig und nachhaltig gestalten“

Zugleich mache der Bericht deutlich, dass „mit der Zunahme des Radverkehrs auch die Ansprüche der Fahrerinnen und Fahrer steigen“, so Waack weiter. „Zusammen mit der vor kurzem vom Stadtrat beschlossenen Überarbeitung des HauptnetzRad ist der BYPAD-Bericht nun eine hervorragende Basis, um den Radverkehrsentwicklungsplan fortzuschreiben.“ Ende des Jahres startet die Stadt zudem eine Verkehrssicherheitskampagne.

Um 0,5 Pünktchen verbessert: Leipzigs Radpolitik ist nicht mehr ganz so zufällig wie 2009

Um 0,5 Pünktchen verbessert: Leipzigs Radpolitik ist nicht mehr ganz so zufällig wie 2009

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