Dass sie die Idee eines 365-Euro-Tickets in Leipzig nicht so toll finden, haben die Redakteure der LVZ schon öfter demonstriert. Die letzte Attacke ritten sie Ende Mai, als völlig ungewiss war, ob der Bund die Einführung so eines Jahrestickets in Leipzig unterstützen würde. Aber ohne Anschubfinanzierung geht es nicht. Und auch nicht ohne Prüfung. Dazu gehören auch belastbare Gutachten. So eins hat OBM Bukhard Jung auch beauftragt. Am Mittwoch, 24. Juni, wurde es im Verwaltungsausschuss vorgestellt. Und freudig titelte die LVZ: „Gutachten erteilt Absage für 365-Euro-Ticket in Leipzig“. Das hätte die Leipziger Auto-Zeitung wohl gern.

Das Gutachten gibt es wirklich, auch wenn es schlicht nicht öffentlich ist. Und in Wirklichkeit bestätigte es die Bedenken, die auch Burkhard Jung hatte. Und die Bedenken von SPD- und Linksfraktion sowieso, die 2019 gemeinsam den Antrag eingebracht haben „365-Euro-Ticket nach Auslaufen des Tarifmoratoriums einführen“.

Im Beschluss steht eben nicht, wie die LVZ so gern andeutet, das Ticket solle in dieser Form 2021 eingeführt werden. Gleich der erste Absatz lautet: „Der Oberbürgermeister wird beauftragt, bis zum 31.12.2019 ein Konzept vorzulegen, welches das Ziel verfolgt, im Rahmen der Umsetzung des im Herbst 2018 beschlossenen Nachhaltigkeitsszenarios auch die Einführung eines 365-Euro-Tickets zu realisieren. Dies soll für verschiedene Zeitpunkte bewertet werden: 01.01.2021, 01.01.2024 und 01.01.2027. Darüber hinaus sollen Erfahrungen aus anderen deutschen Städten in diese Betrachtung einfließen, die aktuell mit Fahrpreissenkungen arbeiten“.

Die LVZ tut gern so, als hätte Jung das Ticket einfach schon für 2021 versprochen, weil es ja auch eins seiner Wahlkampfthemen war. Obwohl er auf den Wahlkampfpodien immer wieder auf die nötige Anschubfinanzierung verwies.

Das Gutachten, das Jung in Auftrag gegeben hat, macht tatsächlich eher deutlich, in welcher Reihenfolge Leipzig vorgehen muss, um einmal das 365-Euro-Ticket einführen zu können.

Zum jetzt vorliegenden Gutachten von Prof. Carsten Sommer, Universität Kassel, erklärte Oberbürgermeister Burkhard Jung dann am Freitag, 26. Juni, selbst: „Ganz unmissverständlich: Mein Ziel bleibt die Einführung eines 365-Euro-Tickets für Leipzig, auch wenn der Weg steinig ist und wir das Ziel möglicherweise auch erst stufenweise erreichen werden. Corona hat uns weit zurückgeworfen, weil finanzielle Möglichkeiten weggebrochen sind oder sich deutlich verändert haben.

Das Gutachten beleuchtet aber nur einen Teil der offenen Fragen: Wir müssen genau abwägen – zwischen sozialen, finanziellen, ökologischen und Mobilitätsaspekten. Mit der Rahmenplanung zur Mobilitätsstrategie 2030 und der Netzerweiterung der LVB planen wir weitreichende Verbesserungen einschließlich Erweiterungen unserer Verkehrsinfrastruktur, die noch nicht umfänglich in das Gutachten eingeflossen sind, aber mit Empfehlungen aus dem Gutachten deckungsgleich sind.“

Das Problem an den Netzerweiterungen ist nur: Die LVB wollen das Thema erst nach 2030 anpacken. Das konterkariert alle Bemühungen um ein 365-Euro-Ticket. Und 2019 haben die LVB sogar Fahrgäste eingebüßt – unter anderem, weil sie wichtige Linien monatelang im „Ferienmodus“ fahren ließen.

„Hinsichtlich der Finanzierung war von Anfang an klar, dass dies ohne zusätzliche Gelder von Bund und Land nicht sofort und nachhaltig für eine Kommune realisierbar sein wird. Nicht zuletzt deshalb hat sich Leipzig bereits sehr frühzeitig um zusätzliche finanzielle Mittel der Bundesregierung als ÖPNV-Modellregion zur Finanzierung des 365-Euro-Tickets beworben“, betont die Stadt Leipzig.

„Die Gremien des Leipziger Stadtrates und der kommunalen Unternehmen werden sich in den kommenden Wochen übergreifend mit den sozialen Aspekten, der Rahmenplanung und dem Gutachten auseinandersetzen. Dem Stadtrat wird im Ergebnis voraussichtlich noch in diesem Jahr eine entsprechende Entscheidungsvorlage zugeleitet.“

Gut möglich, dass die von Prof. Carsten Sommer kalkulierten Summen von 28 bis 29 Millionen Euro pro Jahr, die die LVZ nennt, die als Finanzierungslücke auftauchen würden bei sofortiger Einführung des 365-Euro-Tickets, mehrere Stadträt/-innen erschreckt haben. Wobei davon (auch das erwähnt die LVZ) nur rund 24 Millionen Euro bei den LVB anfallen würden. Was dann schon fast der Summe entspricht, über die auch im Stadtrat schon debattiert wurde.

Und ganz sicher hat Sommer (wenn er das wirklich vorgeschlagen hat) recht, wenn er Gelder in dieser Größenordnung erst einmal im Ausbau des LVB-Angebots besser investiert sieht. Aber genau da hat Leipzig ein Problem, was am Freitag, 26. Juni, FDP-Stadtrat Sven Morlok noch einmal anmerkte, der in Jungs Festhalten am 365-Euro-Ticket einen Dissens zum vorliegenden Rahmenplan zur Umsetzung der Mobilitätsstrategie 2030 für Leipzig sieht.

„Am Ziel 365-Euro-Ticket festhalten zu wollen, ohne jetzt schon den Grundstein zu legen, zeigt die Realitätsferne des Stadtoberhaupts“, kritisierte Morlok und verwies auf die gegenwärtig fehlende Bereitschaft des Oberbürgermeisters, das Personaldefizit bei der Stadtverwaltung im Bereich Infrastrukturprojekte zeitnah auszugleichen, wie vom zeitweilig beratenden Ausschuss Verkehr und Mobilität gefordert. „Wer kein Geld für Personal zur Planung neuer Schienentrassen bereitstellt, sollte nicht vom 365-Euro-Ticket träumen.“

Laut Morlok gebe es keine Studie, die einen wesentlichen Zusammenhang zwischen einer Fahrpreissenkung und einem Fahrgastanstieg im ÖPNV belegt. Morlok: „Wenn der Oberbürgermeister eine Studie kennt, die allein die Nachfrage nach Bus und Bahn über einen günstigen Preis steigert, möge er sie nennen.“

Über den von der Stadt Leipzig vorgelegten Rahmenplan zur Umsetzung der Mobilitätsstrategie 2030 für Leipzig wird der Leipziger Stadtrat in der Ratsversammlung am 8., 9. bzw. 15. Juli 2020 beschließen. Und dann kommt auch der geharnischte Änderungsantrag des zeitweilig beratenden Ausschusses „Verkehr und Mobilität“ zur Abstimmung, dessen Mitglied für die Freibeuter-Fraktion Sven Morlok ist.

Hier fällt der Stadt einfach die um zehn Jahre verzögerte Investitionsstrategie bei den LVB auf die Füße.

Dr. Sabine Heymann, Mitglied der CDU-Fraktion im Leipziger Stadtrat, schwankt dann ein bisschen in den Einschätzungen. Einerseits ist ihre Wortmeldung mit „Wahlversprechen des OBM nach 3 Monaten geplatzt“ betitelt, andererseits formuliert sie viel vorsichtiger: „Mit der Studie der Wissenschaftler von der Universität Kassel scheint das Vorhaben nun erledigt, bevor es überhaupt erprobt werden konnte.“

„Die Studie gibt all die Argumente wieder, die uns am 365-€-Ticket haben zweifeln lassen. Wir haben stets gesagt, dass wir den Leipzigern einen günstigen Nahverkehr ermöglichen wollen. Hierzu sind aber zunächst Maßnahmen im Liniennetz, der Taktung und bei der Fahrzeugflotte der LVB nötig. Das bestätigt die wissenschaftliche Prüfung jetzt“, betont Heymann und findet nun auch das weitere Verfahren im Stadtrat spannend: „Das 365-€-Ticket war eines der prominenten Versprechen des Wahlkampfes von Burkhard Jung, mit dem er auch und vor allem linke und grüne Wähler angesprochen hat. Es wird interessant sein, zu beobachten, ob Jung das Vorhaben nun gegen jede Vernunft durchsetzen will. Die Mehrheit im Rat hätte er hinter sich.“

Eher dürfte das Gutachten jetzt den Druck auf Baudezernat und LVB erhöhen, die Angebotserweiterungen jetzt in Angriff zu nehmen und nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag (bzw. das Jahr 2030) zu verschieben. Denn der Beschluss geht eindeutig von massiv steigenden Fahrgastzahlen durch das Nachhaltigkeitsszenario aus – nämlich von aktuell 152 Millionen auf 220 Millionen. Ein echtes Henne-Ei-Problem. Wobei das Gutachten jetzt Klarheit geschaffen hat: Erst muss das Angebot attraktiver und leistungsfähiger werden, dann kann man ein 365-Euro-Ticket einführen.

Das dürfte auch der von Sabine Heymann beschworenen Stadtratsmehrheit klar sein.

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