So unterschiedlich kรถnnen die Einschรคtzungen sein: Die einen haben im Corona-Shutdown im April deutlich mehr Radfahrer/-innen auf den Straรen gesehen und dementsprechend mehr Protected Bikelanes in Leipzig gefordert. Aber die Stadt hat erst spรคt und zรถgerlich reagiert. Die Antwort auf eine Grรผnen-Anfrage macht jetzt deutlicher, warum.
โDas Verkehrsaufkommen in Leipzig unterliegt seit den coronabedingten Beschrรคnkungen einem groรen Wandel bzw. enormen Schwankungen. Dies hat vermutlich unmittelbare Auswirkungen nicht nur auf die Nutzung der Straรenrรคume, sondern auch auf das Lรคrmaufkommen sowie mรถglicherweise die Unfallentwicklungโ, hatten die Grรผnen in ihrer Anfrage festgestellt.
Aber wie sich das Verkehrsaufkommen konkret verรคndert hat, unterliegt zum Teil natรผrlich subjektiven Einschรคtzungen. Und Gesamtzahlen fรผr Leipzig hat auch das Verkehrs- und Tiefbauamt nicht, das jetzt die Fragen der Grรผnen-Fraktion beantwortet hat. Was man hat, sind die Dauerzรคhlstellen im Stadtgebiet, die รผber Induktionsschleifen im Asphalt zรคhlen, wie viele Fahrzeuge hier drรผberrollen.
Das Problem: Diese Induktionsschleifen befinden sich ausschlieรlich an stark befahrenen Hauptachsen, auch die fรผnf fรผr den Radverkehr. Diese Achsen werden logischerweise auch in einem Shutdown stark frequentiert โ auch und gerade von Lieferfahrzeugen.
Die Grรผnen wollten zwar eine umfassende Auswertung der Monate Januar bis Mai 2020 im Vergleich zu den Monaten Januar bis Mai 2019. Das hรคtte dann tatsรคchlich ein dynamisches Bild von den Verkehrsverรคnderungen im Shutdown gegeben.
Doch gerade das liefert das Verkehrs- und Tiefbauamt nicht. Es hat sich im Januar und im April jeweils Vergleichstage herausgepickt.
โExemplarisch fรผr die 21 Kfz-Dauerzรคhlstellen im Stadtgebiet wurden Datensรคtze fรผr die Zรคhlstellen Schleuรiger Weg und Wilhelm-Leuschner-Platz ausgewertetโ, erklรคrt es in seiner Antwort und liefert dann diese Zahlen: โWรคhrend sich in der Gegenรผberstellung zweier vergleichbarer Januartage 2019/2020 nur graduelle Unterschiede von +/- 2 % ergaben, sank die Kfz-Verkehrsbelegung Anfang April 2020 gegenรผber dem Vergleichstag im April 2019 um 39 % (Schleuรiger Weg) bzw. 43 % (Wilhelm-Leuschner-Platz). Der Anteil des Schwerverkehrs verringerte sich Anfang April gegenรผber dem Vorjahr an diesen beiden Zรคhlstellen um 23 bzw. 28 %.โ
Der Kfz-Verkehr kam also gar nicht so stark zum Erliegen, jedenfalls nicht nach diesen Zรคhlungen, obwohl an vielen Tagen im April der Eindruck vorherrschte, dass gerade der Berufsverkehr in der Rushhour deutlich zurรผckgegangen ist und es an Kreuzungen kaum noch zu Rรผckstau kam. Tatsรคchlich fuhren ja auch deutlich weniger Menschen ins Bรผro, auch die Fahrten zur Schule und Kita fielen aus.
Und wie ist das mit den Radfahrenden?
Hier seien die Zahlen noch deutlicher zurรผckgegangen, meint das Verkehrs- und Tiefbauamt: โExemplarisch fรผr die 5 Rad-Dauerzรคhlstellen im Stadtgebiet wurden Datensรคtze fรผr die Zรคhlstellen Manetstraรe, Semmelweisstraรe und Karl-Liebknecht-Straรe ausgewertet: Am Referenztag Anfang April 2020 ging das Radverkehrsaufkommen gegenรผber dem Referenztag im April 2019 an der Zรคhlstelle Manetstraรe um ca. 60 % zurรผck, an der Zรคhlstelle Semmelweisstraรe um ca. 48 % und an der Zรคhlstelle Karl-Liebknecht-Straรe um ca. 58 %.โ
Die Manetstraรe fรผhrt direkt zum Martin-Luther-Ring und von dort in die Innenstadt, wo ja bekanntlich auch fast sรคmtliche Bรผros, Lรคden und Gaststรคtten geschlossen waren.
Die Karl-Liebknecht- und die Semmelweisstraรe sind auch aussagekrรคftig fรผr ein besonders radaffines Vรถlkchen: die Leipziger Studierenden, die hauptsรคchlich mit dem Rad die Hรถrsรคle, Bibliotheken und Hochschulen ansteuern. Ihre Veranstaltungen fielen ja komplett aus, was einen gehรถrigen Teil des Rรผckgangs erklรคrt.
Und noch lรคngst sind nicht alle Institutionen wieder hochgefahren, wie das Verkehrs- und Tiefbauamt noch feststellt: โAktuell werden die Belegungswerte des Vorjahres bei allen Verkehrstrรคgern noch nicht wieder erreicht.โ
Aber man ist sich dort auch bewusst, das diese wenigen Zahlen eigentlich nicht genรผgen, um wirklich etwas Aussagekrรคftiges zur Verรคnderung im Verkehrsverhalten der Leipziger/-innen im Shutdown sagen zu kรถnnen. Auf die Frage der Grรผnen โIst durch die Stadt eine Zunahme des Fahrrad- und Fuรverkehrs im genannten Zeitraum 2020 feststellbar und wenn ja, wo insbesondere und an welchen Stellen fehlt der nรถtige Raum fรผr diese beiden Verkehrsarten?โ, antwortet das Verkehrs- und Tiefbauamt deswegen eher vorsichtig:
โZu Entwicklungen und Verรคnderungen beim Fuรverkehr wรคhrend der Pandemie liegen keine Daten vor. Die oben aufgefรผhrten Daten fรผr den Radverkehr zeigen, dass dieser โ ebenso wie der Kfz-Verkehr und die Nutzung des รPNV โ bedingt durch die Pandemie an den Dauerzรคhlstellen deutlich rรผcklรคufig war. Um die Auswirkungen des Lockdowns auf das Verkehrsverhalten bewerten zu kรถnnen, bedarf es noch weiterer umfangreicher Auswertungen im Verlauf der Pandemie.โ
Kein Wunder, dass sich das Verkehrsdezernat schwertat, den Umweltverbรคnden nachzugeben und stark befahrene Routen fรผr Radfahrer besonders abzusperren, obwohl diese keine eigenen Zรคhlstellen besitzen โ man denke nur an die besonders diskutierten Routen Jahnallee/Ranstรคdter Steinweg, Prager Straรe und Gerberstraรe.
Offen bleibt noch die Frage: โWie hat sich die Unfallsituation der Stadt Leipzig im benannten Zeitraum 2020 im Vergleich zu den Monaten Januar bis Mai 2019 entwickelt?โ
Hier fehlt noch die Zuarbeit, betont das Verkehrsdezernat: โDie Erfassung und Auswertung aller gemeldeten Unfรคlle liegt in der Zustรคndigkeit der Polizei. Diese wurde um eine entsprechende Zuarbeit gebeten. Die Antwort wird nachgereicht, sobald sie vorliegt.โ
Und auch fรผr die letzte Frage der Grรผnen hat man keine Antwort in Zahlen: โWie bewertet die Stadt die Entwicklung der Lรคrmbelastung im genannten Zeitraum?โ
Der Grund fรผr fehlende Zahlen ist: Die Lรคrmbelastung wird in Leipzig nicht gemessen, sondern nur anhand des Verkehrsaufkommens (an den Hauptverkehrsstraรen) berechnet. Das Verkehrs- und Tiefbauamt dazu: โDie Daten der Lรคrmbelastung werden in der Regel nach den einschlรคgigen Regelwerken berechnet, wesentliche Eingangsdaten sind die Verkehrsbelegung mit Kfz- und Schwerlastverkehr und die Zahl der Schienenverkehrsfahrzeuge. Somit ist davon auszugehen, dass die Lรคrmbelastung entsprechend der gesunkenen Verkehrsstรคrke ebenfalls zurรผckgegangen war, was auch im subjektiven Empfinden der Bรผrgerinnen und Bรผrgern deutlich gewesen sein dรผrfte.โ
Die Stadt war tatsรคchlich leiser geworden. Aber wie macht man das โobjektivโ, wenn der grรถรte Teil des Leipziger Verkehrs gar nicht mit Zรคhlstellen erfasst wird und auch keine Lรคrmmessstellen existieren, die das โsubjektive Empfindenโ durch echte Messwerte untermauern kรถnnten?
Warum ich ab jetzt nicht mehr mit dem Rad ins Bรผro fahre
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Es gibt 5 Kommentare
Wenn man auf der Grundlage von Berechnungen und nicht auf der Basis von Messwerten Entscheidungen trifft, kann man sich diese โRechenknechteโ auch sparen und stellt einen Schamanen ein welcher allein aus Rauchzeichen die nรถtige Auskunft herausliest! Doch womรถglich ist die Ursache ganz simpel? Es wurde, รผber nun schon Jahrzehnte, an Fachpersonal und Messtechnik gespart und man kann daher auch keine fundierte Auskunft ob Radverkehrt, Lรคrm, Schadstoffbelastung usw. geben! Sachkundige Entscheidungen treffen, gleich gar nicht! Erschreckend ist aber auch das die Verantwortlichen nicht einmal ihre Augen aufmachen, ihre Nasen in den Wind halten, hรถren und ihren Verstand nicht nutzen! Die Welt innerhalb eines Autos sieht eben anders aus, riecht und klingt anders! Wozu da รผber โnicht Existierendesโ nachdenken?
Keine Ahnung. Mir fiel auf, dass plรถtzlich sehr viel Radverkehr auf bspw. dem Luppedeich war. Mehr als sonst. Und in den Parks waren auรergewรถhnlich viele Jogger zu sehen.
Naja, lag es vielleicht am Home-Office? Da fรคhrt man ja nicht tรคglich ins Bรผro in der Stadt mit dem Rad, sondern in der Pause oder nach Feierabend eher ins Grรผne um abzuschalten.
Und wozu hรคtte man in die Stadt sonst fahren sollen? Die Geschรคfte waren ja auch zu.
Die Messungen decken sich mit meinen Beobachtungen.
Ich gehe tรคglich als Fuรgรคnger die รคuรere Jahnallee entlang zur Arbeit. Das ist auf der Brรผcke รผber das Elsterbecken unangenehm, denn dort dรผrfen die Radfahrer den Fuรweg benutzen. Viele ungeduldige Berufspendler rasen dort mit viel zu wenig Abstand an mir vorbei und ich spรผre die ganze Zeit schon den Lenker im Rรผcken, der dort irgendwann mal landen wird โฆ
Jedenfalls war die Corona-Zeit eine Erholung. Plรถtzlich waren die Radfahrer weg. Nach meinem Empfinden waren zu Beginn des Shutdowns noch 10% der รผblichen Radfahrer unterwegs. Und das steigerte sich nur sehr langsam.
Ein biรchen verfรคhrt die Stadt Leipzig mit dem Radverkehr wie manche Lรคnder mit Corona โ wenn wir keine Zahlen haben, existiertโs nicht. Also besser nicht genau nachschauen, am Ende finden wir noch was. Praktisch.
Wieso existiert keine einzige Lรคrmmessstelle?
Es ist aberwitzig, diese relevante Grรถรe nur allein aufgrund von Berechnungen zu beobachten, obwohl diese fรผr die Gesundheit wichtig und fรผr verschiedene Konsequenzen ursรคchlich sind.
Kann nicht auf den โFeinstaubstationenโ eine zusรคtzliche Lรคrmmessstelle nachgerรผstet werden?