Bis hierher war die Zusammenarbeit des extra gegründeten „zeitweilig beratenden Ausschusses Verkehr und Mobilität“ mit dem Verkehrsdezernat noch friedlich, ging es erst einmal darum, die Stadtpolitik neu zu justieren, damit das 2018 vom Stadtrat beschlossene Nachhaltigkeitsszenario in der Mobilität auch wirklich umgesetzt wird. Eigentlich bis 2030. „Stadt konkretisiert Mobilitätsstrategie 2030“, hieß es am Mittwoch, 24. Februar.
Über ein Jahr haben Leipzigs Verkehrsplaner an einem 100-Seiten-Papier gearbeitet, das beschreibt, wie sich die Verwaltung die Umsetzung der Mobilitätsstrategie vorstellen kann. Denn natürlich muss eine Menge gebaut werden. Und auch Michael Jana, Leiter des Verkehrs- und Tiefbauamtes, weiß noch nicht wirklich, ob Leipzig das wirklich alles bauen kann.
„Wir werden das nicht ohne Fördergelder bauen können“, sagte er am Mittwoch, 24. Juni, als er mit Baubürgermeisterin Dorothee Dubrau gemeinsam den Rahmenplan zur Mobilitätsstrategie vorstellte, der jetzt zum Beschluss in den Stadtrat geht. Denn ob die Stadt so vorgehen kann, entscheidet der Stadtrat.
Immerhin geht es allein in den großen Straßenbauprogrammen um 292 Millionen Euro bis ungefähr 2024. Mit der Einschränkung: Das sind fast alles längst durchgeplante und eingetaktete Straßenbauvorhaben, die noch in Zeiten in Angriff genommen wurden, als an ein Nachhaltigkeitsszenario noch gar nicht zu denken war.
„Zehn Jahre für solche Komplexmaßnahmen sind eigentlich keine lange Zeit“, sagt Jana.
Und der Zuhörer stutzt. Denn: Diese Zeit hat Leipzig gar nicht mehr. Die langen Planungsprozesse aber erzählen von einer alten Verkehrspolitik, in der die Fördergelder erst beantragt werden können, wenn die Planungen fertig sind. Ohne dass es die geringste Garantie dafür gibt, dass es die Fördergelder auch gibt. Denn mittendrin ändern sich Bundesgesetzgebungen und Fördermodalitäten. Und das Förderprogramm für den sächsischen Straßen- und Brückenbau ist derzeit sowieso ausgesetzt, stellte Jana noch fest.
Es sollte längst überarbeitet sein, denn es erzählt noch immer von den Maßstäben der 1990er Jahre, nicht von den Bedürfnissen eines nachhaltigen Verkehrs mit möglichster Gleichberechtigung für alle Verkehrsteilnehmer. Aber noch immer, so Jana, ist viel wichtiger, wie viele Sekunden die Autos an der Ampel stehen, während Vorrang für Straßenbahn und Radfahrer keine Rolle spielen, oft sogar nachteilig sind für die Förderung.
Und in Leipzig kommt hinzu: Schon jetzt hängen viele große Projekte in der Warteschleife, weil die Planer im Rathaus fehlten.
Deswegen reagierte auch der „zeitweilig beratende Ausschuss Verkehr und Mobilität“ sofort und schrieb einen Änderungsantrag zur Vorlage des Planungsdezernats. „Die meisten Punkte haben wir gleich übernommen“, sagt Jana, der die Zusammenarbeit mit dem Ausschuss als produktiv und hilfreich empfunden hat. Aber der Ausschuss moniert auch zwei Punkte, die die Verwaltung ungern übernehmen möchte: die „absolute Festlegung zum Ausgleich jeglicher Personalbedarfe für die Umsetzung aller Maßnahmen des Rahmenplanes“ (in bester Erinnerung an all die Probleme, die durch fehlende Planer entstanden sind) und die „Festschreibung der Termine und Prioritäten aller Maßnahmen (außer Teil Infrastrukturprogramm)“.
Das solle eigentlich erst in einem groß angelegten Bürgerbeteiligungsprozess im nächsten Jahr passieren, so Jana.
Und der Zuhörer schluckt. Denn bei diesem Tempo wird einem ganz bestimmt nicht schwindelig. Schon jetzt sind vier Jahre seit dem Start vergangen. 2016, als es eigentlich um den neuen Nahverkehrsplan ging, beauftragte der Stadtrat die Verwaltung, hier nicht nur einen Plan vorzulegen, sondern mindestens zwei – zwei echte Alternativen für eine andere Verkehrszukunft in Leipzig, in der nicht immer nur das Auto Vorrang hat.
Im Stadtrat war längst das Thema Klimawandel angekommen. Und die Stadträt/-innen selbst merkten im täglichen Verkehr, dass gerade die drei umweltfreundlichen Verkehrsarten überall ausgebremst wurden und werden. Und das, obwohl man im STEP Verkehr 2012 eindeutig andere Ziele beim Modal Split (also dem Anteil der einzelnen Verkehrsarten) beschlossen hatte.
Doch diese Ziele verschwanden in lauter schönen Worthülsen, ohne dass sie in echte Veränderungen umgesetzt wurden.
2017 entwickelten die Verkehrsplaner deshalb aus allen verfügbaren Plänen, Fördermöglichkeiten und Ideen lauter mögliche Mobilitätskonzepte für Leipzig, dampften sie dann auf fünf plus ein Szenario ein, das OBM Burkhard Jung im Oktober 2017 persönlich der Presse vorstellte. Da wollte man innerlich schon jubeln: „Jetzt geht’s looooos!“
Aber es dauerte dann doch bis November 2018, bis der Stadtrat alle Szenarien ausgesiebt hatte, die nicht wirklich straff auf ein nachhaltiges Verkehrskonzept hinausliefen: Mit voller Mehrheit wurde das Nachhaltigkeitsszenario beschlossen.
Wer dann freilich erwartet hatte, dass sich das schon im nun mit drei Jahren Verspätung 2019 vorgelegten neuen Nahverkehrsplan widerspiegelt, sah sich enttäuscht. Deswegen gilt der auch nur bis 2024, damit Leipzig überhaupt einen hat. Die Tragik dabei: Er enthält keine einzige Maßnahme, die das ÖPNV-Netz tatsächlich schon erweitert. Nur Prüfaufträge.
Deswegen wird es vor 2024 auch keine Netzerweiterungen geben.
Was aber gibt es bis 2024 überhaupt?
Vor allem lauter auch große Straßenumbauprojekte, die schon lange in der Pipeline sind – selbst die drei in diesem Jahr angepackten Projekte Goerdelerring, Bornaische Staße und Rosa-Luxemburg-Straße stehen noch einmal drin. Und auch bei den anderen großen Projekten ist nicht damit zu rechnen, dass die Leipziger hier noch Spielraum haben, ihrerseits Prioritäten zu setzen. Denn die meisten stammen aus dem Mittelfristigen Straßen- und Brückenbauprogramm 2012 bis 2020. Das läuft zwar aus in diesem Jahr. „Wir müssen demnächst das nächste vorstellen“, sagt Jana.
Aber ein Drittel der darin enthaltenen Projekte wurde nicht einmal begonnen. Mal fehlte das Geld, mal die Planer, mal der Fördergeldgeber. Oder es war so groß, dass es zwingend ins nächste Jahrzehnt verschoben werden musste – so wie die Georg-Schwarz-Brücken.
Das heißt: Der Löwenanteil der Gelder, die jetzt im „Rahmenplan“ stehen, sind längst verplant, die Projekte zeitlich längst eingetaktet – ohne Chance, sie zu verschieben, weil sie sonst mit anderen Großprojekten kollidieren. Leipzig ist, wie der Wirtschaftsjournalist Helge-Heinz Heinker es formuliert, noch immer dabei, die Defizite der frühen Jahre abzuarbeiten.
Deswegen findet man sämtliche Projekte zur Erweiterung des LVB-Netzes erst mit einem Baubeginn ab 2030 verzeichnet – egal, ob die Revitalisierung der Hermann-Liebmann-Straße, das Brünner-T oder die Anbindung des S-Bahnhofs-Wahren. Der Bau einer Straßenbahnlinie zum Lindenauer Hafen soll sogar erst 2040 beginnen. Kein Wunder, dass der „Ausschuss Verkehr und Mobilität“ das Gefühl hat, dass das so nicht geht. Dass sich hier einige Prioritäten ändern müssen. Die zehn Jahre, die von den Planern mittlerweile als normal angesehen werden, hat Leipzig nicht mehr.
Nicht bei den Mobilitätszielen und nicht bei den Klimazielen.
Geht es beim Radverkehr wenigstens ein bisschen schneller? Der Lichtblick ist zumindest: Die Stadt will bis 2024 tatsächlich einmal mehr Geld für Radverkehr ausgeben als in den kärglichen Vorjahren. Von den 357 Millionen Euro, die Stadt und LVB bis 2024 in ihre gemeinsamen Straßenbauprojekte investieren wollen (LVB 147 Millionen, Stadt 210 Millionen Euro) sollen 17 Millionen in Radverkehrsanlagen fließen (und 12,5 Millionen Euro in Anlagen für Fußgänger).
Und in diesen 17 Millionen stecken tatsächlich schon die ersten Abschnitte für den Radschnellweg nach Halle, zu dem alle Bauabschnitte am „Bahnbogen Gohlis“ und dann immer weiter stadtauswärts an der S-Bahn-Strecke entlang gehören. Die sollen 2022 schon gebaut werden.
Die beiden abgebildeten Maßnahmenlisten sind nur Ausschnitte aus dem Rahmenplan, aber sie zeigen exemplarisch, wo es klemmt.
Wobei Michael Jana auch zu Recht darauf hinwies, dass die Einzelplanungen ja weiterlaufen. 2024 muss der konkretisierte Nahverkehrsplan vorliegen. Auf den neuen Radverkehrsplan warten wir noch, der zwingend echte Verbesserungen im jetzt schon bestehenden Straßennetz bringen muss.
Denn es hilft nichts, die immer neuen tödlichen Verkehrsunfälle mit Radfahrer/-innen zu bedauern. Das aktuelle Radnetz ist veraltet, bietet an vielen Stellen nicht mehr die nötige Sicherheit und ist schon gar nicht auf ein wachsendes Radfahreraufkommen ausgelegt.
Gut vorstellbar, dass der „Ausschuss Verkehr und Mobilität“ darum kämpft, dass auch noch seine zwei aussortierten Anforderungen von der Verwaltung übernommen werden. Wenn nicht, könnte das dann durchaus in der Ratsversammlung passieren. Egal, wie gut man miteinander arbeitet: Das Tempo beim Übergang zu einem echten Nachhaltigkeitsszenario ist viel zu langsam.
Acht Jahre, bis es überhaupt erste Veränderungen bringt, sind viel zu lange. Aber Michael Jana hat auch recht: Wenn die Fördergeldgeber in Bund und Land noch zusätzlich trödeln, schafft es Leipzig nicht. Dann ist der Leipziger Verkehr auch 2030 noch nicht nachhaltig.
Und da ist noch nicht einmal von den Netzerweiterungen im S-Bahn-Netz die Rede. „Auf den ZVNL haben wir noch weniger Einfluss“, sagt Jana. Und die Planungsprozesse dauern dort noch viel länger.
Die neue Achdujemine-Kampagne zum 365-Euro-Ticket in Leipzig
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Es gibt 5 Kommentare
Die Fahrradfernwege halte auch ich für nicht sehr zielführend. Wichtiger sind gute Wege IN Leipzig, und nicht von Stadt zu Stadt.
Im S-Bahn-Netz sind dringend fehlende Verkehrswegebeziehungen zu ergänzen, wie Gewerbegebiete im Norden oder Lückenschlüsse.
Auf der “starken Straßenbahn” ruhen sich die Leipziger Räte schon jahrzehntelang aus; es wurden sogar Strecken still gelegt.
Hier müsste sofort etwas getan werden, um die Attraktivität und die Möglichkeiten innerhalb Leipzigs zu steigern, damit ein geplantes 365-Euro-Ticket auch für alle Sinn ergibt.
Aber die LVB wollen (sollen?) ja vor 2030 nichts tun.
Also fragen wir in zehn Jahren noch mal nach…
Es bewahrheitet sich leider immer wieder.
Wie auch bei der Mehrwegquote oder anderen ungelebten Festlegungen:
Ohne Gesetz und Strafe passiert freiwillig nichts oder viel zu wenig.
Leider!
Jede Stadt sollte für ihr CO2-Kontingent zahlen müssen oder Nachteile erleiden.
Und der Bund muss für nachweislich sinnvolle Klimainvestitionen viel Geld zur Verfügung stellen.
Ich habe die unangenehme Befürchtung (nur eine Vermutung), dass da jemand im Bienengewand (Bienen sind doch schwarz-gelb, oder?) im Hintergrund mächtig auf die Bremse tritt. Jemand der für die gnadenlose Bevorzugung des motorisierten Individualverkehrs eintritt, weil der Einzelhandel dem Irrglauben unterliegt, das fördere den Umsatz. Zufällig ist das auch im Interesse der Autoindustrie. Nach Helmut Kohl wissen wir, dass solche Entscheidungsprozesse durch schwarze Koffer gut geschmiert ablaufen.
Die SPD ist da auch keine wirklich entscheidungsfrohe unabhängige Alternnative. Linke und Grüne haben wenigsten Konzepte, über die man diskutieren kann.
Ich würde mir keine Gleichberechtigung wünschen, sondern den Schutz/ die Bevorzugung der schwächsten Verkehrsteilnehmer.
Und last not least wünsche ich mir eine gnadenlose Bevorzugung der Straßenbahn gegenüber dem Auto, allein schon, weil das das absolute Horrorszenario der Autoindustrie ist. Die gegenüber anderen Städten starke Straßenbahn Leipzigs ist objektiv betrachtet für eine Stadt dieser Größe in Punkto Preis-Leistung nicht zu schlagen (verglichen mit Bus oder U-Bahn). Die Kosten sollen ja auch aufgebracht werden können, gerne auch mit zusätzlichen Einsparungen durch Tatras oder Eigenkreationen.
Durch Höhenunterschied abgetrennte Fahrradwege sind sicherlich eine gute Idee. Fahradfernwege und S-Bahn-Mammut-Projekte (Kosten-Nutzen-Verhältnis) halte ich für weniger effiziente Maßnahmen.
Da gibt es viele Erklärungen.
Eine davon:
“Der Klimawandel ist zu abstrakt, zu komplex, zu weit weg und zu wenig nachfühlbar.” Es gibt kein Feedback für gute Taten. Und ‘die anderen machen ja auch nichts’.
Ich denke, viele ignorieren die Tatsachen und meinen, selbst ihre Kinder werden es schon irgendwie schaffen, durchzukommen. Vielleicht mit 2 Grad mehr im Sommer; hatten wir ja auch schon.
Also warum dann unbequeme Dinge tun?
Ach, wir haben doch uuuunendlich viel Zeit. Wir haben doch nur schon 2026 unser CO2-Kontinent bis 2050 verfrühstückt. Was soll’s, prüfen und planen wir halt so lange, bis alles zu spät ist, und dann ist eh alles egal.
Was ich mich da nur frage: Haben die alle keine Kinder? Oder hoffen die, daß morgen das Wunderauto erfunden wird, was mit CO2 angetrieben wird?
Immer öfter beneide ich Länder wie China oder Japan.
Da wird eben geklotzt, statt jahrzehntelang gedacht und beraten.
Und bereits jetzt überfällige ÖPNV-Erweiterungen wären schon lange realisiert. Bei dem Tempo in Leipzig (bzw. in Deutschland) verliere ich so langsam die Geduld.