Das war dann schon teilweise wie ein Rückschritt in alte Zeiten: Am 1. April stellte die Deutsche Bahn ihr S-Bahn-Angebot im Mitteldeutschen Netz auf Corona-Taktung um, führte auf stark befahrenen Linien Halbstundentakte ein, ließ S-Bahnen auch teilweise wieder im Stundentakt fahren. Und das, wie sie vermeldete, in Absprache mit den zuständigen Bundesländern. Der Fahrgastverband Pro Bahn findet das überzogen.
„In Abstimmung mit den Ländern Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie den Aufgabenträgern in Sachsen wird die Zahl der Verbindungen im Regional- und S-Bahn-Verkehr der DB Regio AG, Region Südost, ab 1. April 2020 bis auf Weiteres angepasst. Damit stellen wir trotz der Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie ein stabiles Grundangebot sicher“, erklärte die Deutsche Bahn zu diesem doch sehr deutlich eingeschränkten Angebot.
Und auch der für das westsächsische Gebiet zuständige ZVNL betonte: „Die Züge der Mitteldeutschen Regiobahn sind weiterhin im Einsatz, um die Grundversorgung der Bevölkerung im Rahmen einer zuverlässigen Verkehrsdienstleistung sicherzustellen. Aufgrund der stark gesunkenen Fahrgastzahlen und notwendigen Sicherheitsmaßnahmen kommt es jedoch zu Fahrplananpassungen. Um die Corona-Pandemie einzudämmen, wurden fast alle Einrichtungen und Geschäfte geschlossen, viele Berufstätige arbeiten von zu Hause aus. Nichtsdestotrotz gibt es eine Vielzahl von Menschen und Berufsgruppen, die auf die Bahn als Verkehrsmittel angewiesen sind. In den Zügen der Mitteldeutschen Regiobahn wurden daher alle möglichen Maßnahmen ergriffen, um Fahrgäste und Mitarbeiter vor einer Ansteckung zu schützen.
Aufgrund der Tatsache, dass viele Menschen dem Aufruf der Bundesregierung zu Hause zu bleiben gefolgt sind, fahren auch deutlich weniger Fahrgäste in den Zügen der Mitteldeutschen Regiobahn. Somit wurde eine generelle Anpassung der Kapazitäten notwendig, d. h. es sind weniger Wagen im Einsatz. Um eine an die Situation angepasste zuverlässige Leistung erbringen zu können, wurden weiterhin bei unseren Linien in Abstimmung mit den zuständigen Aufgabenträgern nachfolgende Anpassungen vorgenommen.“
Aber die Anpassungen gehen zu weit, kritisiert der Fahrgastverband Pro Bahn.
Den Großteil der Einschränkungen bei den Verkehrsangeboten in Sachsen und Sachsen-Anhalt beurteilt der Fahrgastverband als nachvollziehbar und an vielen Stellen für angemessen. Die drastischen Fahrplaneinschränkungen im Netz der Mitteldeutschen S-Bahn jedoch seien kontraproduktiv.
Und er begründet das auch: „Während der andauernden Ausgangsbeschränkungen sind vor allem jene Menschen auf Mobilitätsangebote angewiesen, die die Grundversorgung unserer Gesellschaft aufrechterhalten: Beschäftigte in den Bereichen Gesundheit, Versorgung und Logistik. Starke Angebotskürzungen im öffentlichen Personenverkehr begründet mit niedrigen Fahrgastzahlen sind gerade in Ballungsräumen problematisch.“
„Es passt nicht zusammen, dass für die anstrengende Arbeit in Krankenhäusern Beifall von Balkonen gespendet wird und im gleichen Moment halbiert man das S-Bahnangebot für den Weg zur Arbeit“, erklärt dazu Carsten Schulze-Griesbach, Sprecher des Fahrgastverbands Pro Bahn Mitteldeutschland für die Region Halle/Leipzig. „Dort und für zahlreiche andere Berufsgruppen wird der Arbeitsweg unzumutbar verlängert. Wer kann, steigt auf den PKW um und wird langfristig als Fahrgast im System des ÖPNV fehlen.“
Anja Schmotz, stellvertretende Vorsitzende des Fahrgastverbands Pro Bahn Mitteldeutschland, mahnt daher: „Das Angebot im öffentlichen Nahverkehr darf nicht so weit ausgedünnt werden, dass die bereits erreichten Erfolge für eine nachhaltige zukunftssichere Mobilität für lange Zeit wieder verloren gehen.“
Bundesweit bleibt deshalb auch die Finanzierung der Nahverkehrsleistungen (Regionalisierungsmittel) in voller Höhe bestehen.
In anderen Regionen Deutschlands wurden Angebotskürzungen wieder zurückgenommen, so unter anderem in Stuttgart und im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr. Der Fahrgastverband Pro Bahn Mitteldeutschland fordert deshalb die Verbünde und die Deutsche Bahn auf, bei der S-Bahn Mitteldeutschland zu einem angemessenen Takt zurückzufinden. Die betroffenen Berufstätigen müssten uns das wert sein. Unabhängig von den Abstandsgeboten, deren Einhaltungen möglich bleiben müssen.
Und nicht nur der Fahrgastverband Pro Bahn, sondern auch das Robert-Koch-Institut mahnt, dass Kürzungen im öffentlichen Nahverkehr nicht angebracht sind.
Auch Marco Böhme, mobilitätspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Sächsischen Landtag, kritisiert die teilweise überzogenen Einschränkungen im Linienbetrieb.
„Es ist sicherlich angemessen, in Großstädten die Taktstärke im ÖPNV zu reduzieren, und zum Beispiel wie bei den Leipziger Verkehrsbetrieben den Sonntagsfahrplan zu aktivieren. Das darf aber nicht dazu führen, dass mehr Fahrgäste als sonst in einem Fahrzeug unterwegs sind und der nötige Sicherheitsabstand nicht eingehalten werden kann!“, geht er auf das Grunddilemma gerade während der Covid-19-Epidemie ein.
„Wir lehnen es aber ab, komplette Linien einzustellen. Dann kommen viele Menschen, die auf öffentliche Transportmittel angewiesen sind, nicht mehr zur Arbeit, zum Arzt oder zum Einkaufen. Insbesondere im ländlichen Raum, wo der öffentliche Personennahverkehr als Schülerverkehr existiert und nun teilweise eingestellt wurde, kann das zu Versorgungsengpässen führen. Dies muss unbedingt verhindert werden! Ebenso halten wir es für unangemessen, den regionalen Eisenbahnverkehr zu kürzen, wie es beispielsweise bei der Mitteldeutschen S-Bahn passiert ist.“
Der Präsident des Robert-Koch-Instituts Dr. Lothar Wieler betonte in einer Pressekonferenz am 3. April ausdrücklich, dass es in öffentlichen Verkehrsmitteln keine Menschenansammlungen geben darf und daher große oder sogar zusätzliche Fahrzeuge bereitgestellt und nötigenfalls sogar Taktzeiten erhöht werden müssen. Marco Böhme: „Diesen Empfehlungen müssen sich der Freistaat und die Landkreise anschließen und dafür sorgen, dass dies gewährleistet wird.“
Freizeitaktivitäten in Coronazeiten: 15 Kilometer Umkreis laut OVG Bautzen
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