Das, was das Klimakabinett der Bundesregierung da am 20. September vorgelegt hat, war nicht nur erhellend. Es machte – gerade weil es den wichtigsten Themen auswich – deutlich, was in der deutschen Politik seit 30 Jahren falschläuft. Denn dass die Bundesregierung heute derart abhängig ist von Autoindustrie und Energiewirtschaft, hat mit falschen Weichenstellungen gleich nach 1989 zu tun. Eine davon ist der Versuch, die Bahn zu einem Börsenunternehmen zu machen. Das Ergebnis auch in Sachsen: Ein Schienennetz mit Löchern und Frustration. Pro Bahn schreibt deshalb einen Offenen Brief.
Den Brief bekommt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, der in der „Bild am Sonntag“ vom 22. September darüber spekulierte, wie sehr die Leute sich über die Belastungen aus dem am 20. September vorgelegten Klimapaket wundern würden. Werden sie wohl auch, denn es ist wieder ein typisches Kompromiss-Paket, mit dem eine wirtschaftsnahe Regierung versucht, die klimaschädlichen Branchen zu schonen, ohne dass der Mut zu einem echten Umschwenken sichtbar wird.
Denn viele Erwerbstätige haben gar keine Möglichkeit, den Mehrbelastungen auszuweichen. Angefangen bei denen, die darauf angewiesen sind, jeden Tag weite Strecken bis zur Arbeit zurückzulegen. Aber auch in Sachsen fehlen den Pendlern vielerorts die Alternativen, gibt es weder belastbare Bus- noch Zugverbindungen. Viele Gemeinden wurden beim Rückbau des Schienennetzes dauerhaft vom Zugverkehr abgekoppelt. Die Verbindung Leipzig–Chemnitz ist bis heute nicht modernisiert und elektrifiziert, 29 Jahre nach der Deutschen Einheit. Ein Armutszeugnis. Dasselbe gilt stückweise für die Strecke Dresden–Berlin.
Und bei S-Bahn-Verbindungen in die Großstädte geht es weiter, fehlen Wagen, Linien und wirklich zukunftsfähige Taktzeiten.
Weshalb der Fahrgastverband Pro Bahn Michael Kretschmer seine vorwurfsvollen Töne in der „Bild am Sonntag“ so nicht durchgehen lassen will, denn für einen Großteil dieser echten Pendler-Probleme, die auch ein klimabewussteres Verkehrsverhalten unmöglich machen, ist auch die sächsische Staatsregierung verantwortlich.
Der Offene Brief:
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmer,
mit Erstaunen haben wir Ihre Einschätzung in der Bild am Sonntag vom 22. September 2019 gelesen, in der Sie wie folgt zitiert werden: „Die Leute werden sich über […] Mehrbelastungen von bis zu 15 Cent für Benzin und Diesel […] erschrecken. […] So lange man mit dem Zug über sechs Stunden von Dresden nach Düsseldorf braucht, bringt eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Bahntickets nichts.“ Wir fühlen uns leider gezwungen, Ihnen hier zu widersprechen.
15 Cent mehr für den Liter Sprit – wenn das die Gesellschaft erschreckt, fragen wir uns, warum bei den jährlichen Preiserhöhungen im öffentlichen Personenverkehr kein Aufschrei der Politik erfolgt. Im Gegenteil. Die finanzpolitischen und organisatorischen Bedingungen für die Preissteigerungen wurden über ein Vierteljahrhundert von Ihrer Partei im Land- und im Bundestag mitverantwortet. Da hilft kein Erschrecken über die Herausforderungen der Zukunft, sondern eindeutiges Handeln der Politik.
Der Flugverkehr ist heute weitgehend von Steuern befreit, so gibt es weder eine Treibstoffsteuer noch eine Umsatzsteuer auf internationale Tickets, während der Bahnverkehr voll mit Steuern und EEG-Abgabe belastet ist. Weiterhin bezahlen die Eisenbahnverkehrsunternehmen für jeden gefahrenen Meter eine Schienenmaut in Form von Trassengebühren und für jeden Halt werden Stationsgebühren erhoben. Ein klarer Nachteil gegenüber dem Auto. Die Bahn wird hier also gegenüber diesen beiden Verkehrsträgern benachteiligt. Das dringend notwendige Umsteuern auf faire Steuern, Abgaben und Gebühren für klima- und umweltfreundliche Verkehrsmittel darf nicht mit dem Totschlagargument „es bringe nichts“ verhindert werden.
Die Bahnfahrt von Dresden Hauptbahnhof nach Düsseldorf Hauptbahnhof dauert auf der kürzesten Strecke heute fast sieben Stunden, das ist eine Folge jahrzehntelang versäumter Investitionen in die Schienenverkehrsinfrastruktur. Erst mit dem Zielfahrplan des Deutschland-Takt wird die Fahrzeit von Dresden nach Düsseldorf nur noch rund fünf Stunden betragen. In Japan, China, Frankreich oder Spanien werden vergleichbare Distanzen auf der Schiene bereits heute teilweise in weniger als drei Stunden zurückgelegt.
Betrachtet man die genannte Verbindung, so fällt auf, dass selbst heute, knapp 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, die Strecke Dresden–Berlin noch nicht fertig auf- und ausgebaut ist. Hier wurden wichtige Investitionen nicht getätigt und es wird wohl noch bis Mitte der 2020er Jahre dauern, bis der Ausbau der Strecke abgeschlossen ist. Bereits dann sinkt die Fahrzeit nach Düsseldorf via Berlin unter sechs Stunden. Das hätte natürlich schneller gehen müssen. Wir möchten Sie daher auffordern, sich als Mitglied des Präsidiums einer Regierungspartei nicht nur unseres Freistaats, sondern auch unserer Bundesrepublik, dafür einzusetzen, dass Planungs- und Bauprozesse beschleunigt werden. Sonst werden auch die für den Kohleausstieg angekündigten Strecken nicht bis 2038 fertig sein, sondern erst 2050.
Zudem würden wir es außerordentlich begrüßen, wenn Sie sich als Ministerpräsident und Vorsitzender der CDU Sachsen stärker als bisher dafür einsetzen, den öffentlichen Nahverkehr im ländlichen Raum attraktiver zu gestalten. Eine landesweite Strategie für den ÖPNV, die die Verantwortung nicht allein auf die fünf Verkehrsverbünde abwälzt, die Reaktivierung von Strecken wie zum Beispiel Döbeln–Meißen und die Einführung eines Sachsen-Tarifs würden dazu beitragen, dass mehr Menschen den ÖPNV nutzen können.
Trotz der erwähnten Benachteiligung der Eisenbahn finden sich bereits jetzt viele Nutzer. Viele Sachsen sind Wochenendpendler, die sich Sonntag abends in Dresden oder Leipzig in den ICE setzen – oft nach einer Zubringerfahrt mit einem Regionalzug – und sich auf den Weg ans andere Ende der Republik machen. Diese Menschen tun bereits heute ihren Teil zum Klimaschutz. Es ist nicht fair, wenn man sie weiterhin benachteiligt. Stattdessen sollte man sie als positives Beispiel hervorheben. Nehmen Sie doch bei Ihrer nächsten Dienst- oder Privatfahrt den Zug – bevorzugt in der zweiten Klasse – und unterhalten Sie sich mit diesen heimlichen Helden.
Vom durch den Menschen hervorgerufenen Klimawandel mögen einige nicht überzeugt sein, aber machen wir doch eine einfache Risikoabschätzung. Wenn die Worst-Case-Prognosen zutreffen und wir jetzt nichts tun, leben wir (oder leben auch nicht mehr) zukünftig in der Hölle auf Erden. Wenn die Prognosen nicht stimmen, aber wir trotzdem den Weg für eine Mobilitätswende ebnen, dann haben wir danach immer noch lebenswertere Innenstädte, mehr Grünflächen und eine Gesellschaft, die nicht länger vom Auto und der zugehörigen Industrie abhängig ist. Wäre das nicht eine Zukunft, die wir alle unseren Kindern und Enkeln hinterlassen wollen?
Ihr Fahrgastverband PRO BAHN Mitteldeutschland
Beschlüsse des „Klimakabinetts“ sorgen nicht nur bei „Fridays For Future“ für Riesenenttäuschung
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