Landtagswahlen sind auch Entscheidungswahlen über einzelne Themengebiete. Und eines, das über das Leben von Millionen Sachsen bestimmt, ist nun einmal der ÖPNV, in den vergangenen Jahren viel zu oft nur das Stiefkind von Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik. Aber bei mehreren Parteien haben erstaunliche Umdenkprozesse eingesetzt, kann der Fahrgastverband PRO BAHN Mitteldeutschland nun feststellen, nachdem er die wesentlichen Parteien dazu befragt hat.
Am 1. September 2019 wählt Sachsen einen neuen Landtag. Der Fahrgastverband PRO BAHN Mitteldeutschland hat dazu Wahlprüfsteine mit zehn Fragen zur Verkehrspolitik an die Parteien gesandt. Die Antworten stehen allen Sachsen online für ihre Entscheidungsfindung zur Verfügung.
Viele Parteien nennen die gleichen Probleme, fasst PRO BAHN das wesentliche Ergebnis der Befragung zusammen. Während sich die Lösungsansätze zu manchen Themen ähneln, gibt es bei einigen Punkten starke Unterschiede.
Die zehn Fragen, die sich über ein breites Spektrum der Verkehrspolitik erstrecken, wurden an alle Parteien, die aktuell im Landtag vertreten sind und/oder in aktuellen Umfragen über 3 Prozent erreichen und damit realistisch in den Landtag einziehen könnten, versandt. Dies sind die CDU, die Linke, AfD, SPD, Bündnis 90/Grüne, FDP und die Freien Wähler. Bis auf letztere Gruppierung erhielt der Fahrgastverband von allen Parteien ausführliche Antworten.
Was schon erstaunt, weil gerade ein gutes ÖPNV-Netz auch die ländlichen Räume, wo die Freien Wähler stark sind, besser anbindet und auch Menschen Mobilität sichert, die nicht mit dem Pkw fahren können oder wollen.
Eine Verkehrsgesellschaft für alle
Bemerkenswert ist aus Sicht von PRO BAHN, „dass nahezu alle Parteien Handlungsbedarf bezüglich der Struktur der sächsischen Aufgabenträger sehen. Aktuell übernehmen die Zweckverbände der fünf Verkehrsverbünde diese Funktion. Wenngleich die CDU noch eine abschließende Bewertung der möglichen Organisationsmodelle vornehmen möchte, zeigen die Antworten auf die weiteren Fragen, an wie vielen Stellen dem Freistaat im aktuellen Modell Gestaltungsmöglichkeiten fehlen. Während die Grünen diese Problematik mit einer Reduzierung auf drei Verbünde lösen möchten und die FDP generell über Fusionen nachdenkt, gehen SPD, Linke und AfD einen Schritt weiter. Sie fordern einen eigenständigen, sachsenweiten Aufgabenträger. Unterschiede gibt es lediglich bei dessen Ausgestaltung.“
„Es ist erfreulich, dass das Problem erkannt wurde und die meisten Parteien unseren Forderungen nach einer Zusammenlegung der Verbünde folgen“, freut sich Ronny Hausdorf, Vorsitzender des Fahrgastverbands PRO BAHN Mitteldeutschland.
Zur Erinnerung: 2018 versuchte Verkehrsminister Martin Dulig (SPD) mit seinem Vorstoß, das Thema über eine Landesverkehrsgesellschaft zu lösen. Damit stieß er auf heftigen Widerstand in den Zweckverbänden, in denen die Landräte und Oberbürgermeister das Sagen haben und sich nicht wirklich geneigt sahen, diese Entscheidungskompetenz wieder an das Land abzugeben.
Soll Sachsen wieder eigene Eisenbahnstrecken betreiben?
Deutlich mehr Unterschiede gibt es bei der Finanzierung von Infrastrukturprojekten, also auch den Ausbau oder die Wiederinbetriebnahme von Strecken der Deutschen Bahn. Denn wenn die DB AG in die Kapazitätserweiterung des sächsischen Schienennetzes investiert, weil es sich für den staatlichen Konzern „nicht rechnet“, dann steht die Frage: Sollte der Freistaat nicht aus Eigeninteresse ganze Strecken selbst übernehmen und investieren?
Die CDU verweist auf die aktuelle Haushaltsordnung und schließt eine vollständige Finanzierung des Baus von Schienenprojekten durch den Freistaat Sachsen aus; die SPD möchte sich ebenfalls vorwiegend auf die Finanzierung von Vorplanungen beschränken. Alle weiteren angefragten Parteien stehen dem offener gegenüber und argumentieren, dass sächsische Haushaltsmittel auch für Bahninfrastrukturvorhaben eingesetzt werden sollen, die für Sachsen hohe Priorität haben und vom Bund nicht mitgetragen werden, so PRO BAHN.
Die Mehrheit der Parteien spricht davon, die Verantwortung des Bundes für den Infrastrukturausbau stärker anzumahnen. Die Linke sieht darüber hinaus die Übernahme von Bahninfrastruktur durch den Freistaat für sinnvoll an. Die AfD geht sogar so weit, den Bund für die unterlassenen Pflichten vor das Bundesverfassungsgericht ziehen zu wollen.
„Dass man allein beim Bund weiterkommt, wäre wünschenswert, ist aber zweifelhaft. Wir befürworten, dass Sachsen eigene Infrastrukturprojekte auch ohne den Bund vorantreibt“, kommentiert Anja Schmotz, stellvertretende Vorsitzende von PRO BAHN Mitteldeutschland.
365-Euro-Ticket und teurere Parktickets?
Interessant ist freilich eins der wichtigsten Themen, die in nächster Zeit entschieden werden müssen: Wie soll es mit der Mobilität in den Verdichtungsräumen weitergehen und wie stehen die Parteien zum 365-Euro-Ticket?
Ein Thema, das mittlerweile selbst bei der CDU angekommen ist, die durchaus etwas Wichtiges sagt, wenn sie betont: „Es muss in neue Linien, neue Gleise, neue Fahrzeuge und neues Personal investiert werden. Denn nur die Einführung eines 365-Euro-Tickets ohne diese begleitenden Maßnahmen flutet das bestehende System und wird nur unzufriedene Kunden zurücklassen.“ Sie verweist auf das Vorbild Wien, wo genau das geschehen ist.
Etwas konkreter wird da schon die SPD: „Da aber davon auszugehen ist, dass bei einem solchen attraktiven Angebot wie dem 365-Euro-Ticket die Fahrgastzahlen signifikant steigen, wollen wir die Kommunen bei der Beschaffung neuer Fahrzeuge und beim Ausbau der Infrastruktur noch stärker unterstützen.“
Und die Grünen gehen noch einen Schritt weiter, denn auch das gehört zum Wiener Modell: Dass Parken in der Innenstadt seinen Preis haben muss. „In den Verdichtungsräumen sind zusätzlich zu attraktiven Angeboten des ÖPNV, die nicht nur durch die Preisgestaltung sondern auch durch ein dichtes Netz, sinnvolle Linienführungen und Takte sowie moderne Fahrzeuge gekennzeichnet sind, auch weitere Maßnahmen notwendig, um den städtischen Verkehr zu organisieren: Parktickets dürfen nicht günstiger sein als die Fahrscheine im ÖPNV, Parkraum muss verknappt werden, Park- und Ride- Angebote müssen ausgebaut werden, Carsharing muss durch die Bereitstellung von Stationsflächen gefördert werden, die Bedingungen für den Rad- und Fußverkehr müssen massiv verbessert werden.“
So ähnlich sieht es auch die Linke: „Hier braucht es über ,Push- bzw. Förderansätze‘ im ÖPNV hinaus unbedingt auch ,Pull- bzw. Minderungsansätze‘ im Motorisierten Individualverkehr um ein ,Aufblähen‘ der Infrastruktur zu verhindern. Wirksame Ansätze wie Parkraumbewirtschaftung, Quartiersgaragen, autofreie Zonen, Verkehrsplanung nach städtebaulichen statt verkehrstechnischen Prämissen, Verkehrsberuhigung etc. existieren bereits, bedürfen jedoch einer engagierten und sozialverträglichen Umsetzung vor Ort.“
Nur FDP und AfD haben zum Thema so gar keine Meinung, wollen wohl lieber bei der alten Konkurrenz der Verkehrsmittel bleiben. Die AfD verkauft das als „Wahlfreiheit zwischen den Verkehrsmitteln“, die FDP spricht von einer „nutzerorientierten und überwiegend nutzerfinanzierten Verkehrspolitik“, also eigentlich von dem, was die Leipziger in den vergangenen Jahren erlebt haben, als die Fahrpreise der LVB jedes Jahr stiegen und die Nutzer von Bus und Straßenbahn einen immer großen Anteil an den Einnahmen der LVB einbrachten. Eine Politik, die ja mit der Einführung des 365-Euro-Tickets in Leipzig beendet werden soll.
Die Wähler haben also tatsächlich die Wahl – in diesem Fall zwischen zwei Parteien auf der einen Seite, die gern beim alten Betrieb bleiben wollen und von einem preiswerten ÖPNV nicht viel halten, und auf der anderen Seite eigentlich vier Parteien, die sich ernsthaft Gedanken über die Bezahlbarkeit eines ÖPNV-Netzes machen, das nicht nur günstigere Tarife anbietet, sondern auch ein wachsendes Angebot.
Die Antworten der Parteien zu den Fragen von PRO BAHN
Die Landesverkehrsgesellschaft als Ping-Pong-Spiel kindischer Männer in verantwortlichen Positionen
Die Landesverkehrsgesellschaft als Ping-Pong-Spiel kindischer Männer in verantwortlichen Positionen
Hinweis der Redaktion in eigener Sache: Eine steigende Zahl von Artikeln auf unserer L-IZ.de ist leider nicht mehr für alle Leser frei verfügbar. Trotz der hohen Relevanz vieler unter dem Label „Freikäufer“ erscheinender Artikel, Interviews und Betrachtungen in unserem „Leserclub“ (also durch eine Paywall geschützt) können wir diese leider nicht allen online zugänglich machen.
Trotz aller Bemühungen seit nun 15 Jahren und seit 2015 verstärkt haben sich im Rahmen der „Freikäufer“-Kampagne der L-IZ.de nicht genügend Abonnenten gefunden, welche lokalen/regionalen Journalismus und somit auch diese aufwendig vor Ort und meist bei Privatpersonen, Angehörigen, Vereinen, Behörden und in Rechtstexten sowie Statistiken recherchierten Geschichten finanziell unterstützen.
Wir bitten demnach darum, uns weiterhin bei der Erreichung einer nicht-prekären Situation unserer Arbeit zu unterstützen. Und weitere Bekannte und Freunde anzusprechen, es ebenfalls zu tun. Denn eigentlich wollen wir keine „Paywall“, bemühen uns also im Interesse aller, diese zu vermeiden (wieder abzustellen). Auch für diejenigen, die sich einen Beitrag zu unserer Arbeit nicht leisten können und dennoch mehr als Fakenews und Nachrichten-Fastfood über Leipzig und Sachsen im Netz erhalten sollten.
Vielen Dank dafür und in der Hoffnung, dass unser Modell, bei Erreichen von 1.500 Abonnenten oder Abonnentenvereinigungen (ein Zugang/Login ist von mehreren Menschen nutzbar) zu 99 Euro jährlich (8,25 Euro im Monat) allen Lesern frei verfügbare Texte zu präsentieren, aufgehen wird. Von diesem Ziel trennen uns aktuell 500 Abonnenten.
Alle Artikel & Erklärungen zur Aktion „Freikäufer“
Keine Kommentare bisher