Im Jahr 2008 wurde die Critical Mass (CM) in Leipzig zu einem regelmäßigen Ereignis. Sie traf sich am Sonntag an der Lutherkirche im Johannapark, fuhr ein Stündchen durch Leipzig und endete wieder im Park. Im Jahr 2009 wurde auf den letzten Freitag „umgestellt“ und statt des Treffens im Park traf man sich ab 18:30Uhr vor der Oper auf dem Augustusplatz.
Mit den steigenden Temperaturen nahm auch die Zahl der Teilnehmenden zu – sicherlich auch befördert durch den kurz zuvor getroffenen Ratsbeschluss, das Radfahren in der Innenstadt einzuschränken. So nahmen am 29. Mai 2009 gut 100 Radfahrende an der Critical Mass in Leipzig teil.
Bereits im Mai 2009 wurde zum Start der CM das „Warmfahren um den Brunnen“ praktiziert. Dieses dient vor allem der Sammlung und gilt als Zeichen des allgemeinen Aufbruchs – nebenbei kann man schöne Bilder erzeugen und die Aufmerksamkeit auf die Critical Mass lenken. Und Spaß macht es obendrein.
Als die Critical Mass am 29. Mai gegen 19 Uhr mit dem „Warmfahren“ startete, waren viele Teilnehmende zum ersten Mal bei der CM. Die Atmosphäre war einerseits fröhlich, entspannt, andererseits war man voller Erwartungen und Neugierde, was denn da nun passieren würde. Niemand rechnete zum damaligen Zeitpunkt damit, dass wenig später ein längerer Kampf zwischen Polizei und Critical-Mass-Bewegung ausgetragen werden würde.
Etwa um 19:10 Uhr bog die Critical Mass auf den Promenadenring gen Roßplatz, Leuschnerplatz, fuhr beseelt über den Martin-Luther-Ring Richtung Dittrichring. Hier gab es den ersten Dämpfer. Eine Polizeistreife und zwei Motorräder tauchten auf, was wegen der Vielzahl an Teilnehmenden nur die hinteren Radfahrenden bemerkten. Nach einer Odyssee ab Halleschem Tor durch die Innenstadt ging es am Halleschen Tor wieder über den Ring in die Nordstraße.
An der Pfaffendorfer Straße wartete der Verband an der Ampel auf „grün“. Als es „grün“ wurde und der Verband sich in Richtung Emil-Fuchs-Straße in Bewegung setzte, griff die Polizei gewaltsam ein, riss Radfahrende vom Rad. In der Bilanz gab es mindestens 15 Verletzte, im Polizeiprotokoll wird es dazu später keine Notiz geben.
Wie der Polizeisprecher später dem „Rennradio“ auf Radio Blau sagen wird, hielt man die Maßnahme für verhältnismäßig, weil das Fahren mit dem Rad auf dem Promenadenring verboten ist. Dass das Radfahren auf dem Promenadenring verkehrsrechtlich zum damaligen Zeitpunkt nicht verboten war, spielte in der späteren Diskussion keine Rolle mehr, es wurde offensichtlich keine Anzeige gegen Polizistinnen und Polizisten gestellt.
Stattdessen sahen sich kurze Zeit später mindestens 25 Teilnehmende mit einem Ordnungswidrigkeitenverfahren konfrontiert. Vorwurf: Überfahren einer roten Ampel. Macht dann mit allem Drum und Dran gut 80 Euro. Der Zeuge war ein Motorradpolizist, der mit dem Verband an der roten Ampel gewartet hat, bis diese „grün“ wurde. Ein Verfahren wegen Falschaussage wurde nie eingeleitet.
Ein Teil der Teilnehmenden, die ein Verfahren betraf, bezahlten in vorauseilendem Gehorsam, andere setzten sich zusammen, organisierten einen Anwalt und erreichten, dass das Verfahren gegen sie eingestellt wurde. Ein erster Sieg.
Doch währenddessen war die Polizei auf die Critical-Mass-Bewegung aufmerksam geworden und es entstand ein Katz-und-Maus-Spiel. Einerseits die Polizei, die im Vorfeld eine/-n Verantwortliche/-n benannt haben wollte und die Route – hierfür kam sie auch mit Maschinenpistolen zur CM und filmte alles.
Auf der anderen Seite diejenigen, die einfach nur Rad fahren wollten – wie es der Gesetzgeber in §27 StVO geregelt hat. Als im Juni die CM dann einfach losfuhr („Wir sind alt genug und können schon allein Rad fahren“) kamen mehrere Sixpacks zum Einsatz um den Verband mit gut 80 Teilnehmenden auf einen Gehweg mit „Rad frei“ zu zwingen.
Nach mehreren Schlagabtauschen auch über die Medien kam es am 21. September 2009 zu einem ersten Gespräch mit dem Polizeipräsidenten Horst Wawrzynski. Im ersten Schritt konnte erreicht werden, dass die Critical Mass nicht gefilmt wird und es weniger Polizeiaufgebot geben soll als in den vorangegangenen CMs. Im Gegenzug sollte eine/-n Ansprechpartner/-in benannt und eine Route festgelegt werden – man war also trotz des freundlichen Gesprächs nicht sonderlich erfolgreich.
Nach einer Testphase kam es am 16. April 2010 zu einem zweiten Gespräch. Es hatte sich mittlerweile ein konstruktives Miteinander zwischen Polizei und den Teilnehmenden der Critical Mass entwickelt. Im Gespräch wurde festgelegt, dass die Critical Mass auf eigenen Wunsch im April keine Polizeibegleitung bekommt, aber die Polizei die Weisung vom Augustusplatz über den Promenadenring vornimmt, sodass ein gesichertes Abfahren möglich ist. Sollte die CM konfliktfrei verlaufen, soll diese zukünftig ohne Polizeibegleitung erfolgen.
Und so kam es, dass die Critical Mass – bis auf wenige Ausnahmen – in Leipzig ohne Polizei fährt und sich einer wachsenden Beliebtheit erfreut. Allerdings wuchs sie über viele Jahre deutlich langsamer als in anderen Städten. So erreichte die CM erst im Jahr 2018 erstmals die Marke von 200 Teilnehmenden. Im Juni 2018 waren es 230 Radfahrende.
Liebe Kinder, lernt aus meiner Geschichte! oder Warum in unserer Welt nichts so eindeutig ist, wie es gern verkauft wird
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