Für FreikäuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausg. 65Bertram Weisshaar hat einen ganz ungewöhnlichen Beruf. Er ist Spaziergangsforscher. Kurzum: Er entdeckt die Welt zu Fuß und denkt darüber nach, wie man diese Art der Welterfahrung wieder mehr Menschen näherbringen kann. Nachdem er vor Jahren seinen eigenen Weg, den Denkweg, entworfen hat, hat er nun ein Buch über das Gehen geschrieben. Aber was geht denn nun eigentlich bei uns ab, wie geht’s gut und ist nur gehen eigentlich gangbar?

Herr Weisshaar, es kann losgehen. Wie geht’s?

Es geht ganz einfach: ein Schritt nach dem anderen und schon geht man. Man braucht kein Zeug dafür, kein Zeug mit Rädern beispielsweise. Es ist heute noch so einfach wie für die ersten Menschen auf der Erde. Wir können uns immer noch eigenmobil ohne künstliche Hilfsmittel fortbewegen.

Trotzdem hat man den Eindruck, „nichts“ geht mehr. Sitzen sei das neue Rauchen. Warum, wenn es doch so einfach geht?

Das ist nicht ganz richtig. Auf der einen Seite ist es natürlich so, dass wir viele Verkehrsmittel für unsere Wege nutzen. Aber egal, welches wir nehmen, das Gehen ist immer unsere Basis-Mobilität. Das Fahrrad etwa muss ich erst aus dem Keller holen. Auch zum Auto muss ich erst hingehen und vom Stellplatz zum eigentlichen Ziel gehe ich wieder.

Es könnte doch aber mehr gehen.

Es könnte sehr viel mehr gehen. Das wissen wir auch aus Leipzig. Die Verkehrsbefragung um 1990 sagte aus, dass von den zurückgelegten Wegen etwa jeder dritte zu Fuß unternommen wurde. Heute ist es nur noch jeder vierte. Das meint nicht die zurückgelegten Kilometer, sondern die absolvierten Wege. Woran dies liegt und ob die Welt dadurch besser oder schlechter geworden ist, das ist schwierig zu sagen.

Geht los …

Mit Sicherheit gehen die Leute nicht deswegen weniger, weil die Gehwege schlechter geworden wären. Ich habe nicht in Leipzig gewohnt, als die Mauer fiel, aber das unterstelle ich jetzt einfach. Dass weniger abgeht, hat viel mehr mit der Struktur der Stadt und den Lebensstilen zu tun, die sich verändert haben. Aber es gibt hier trotzdem sehr wohl sehr viel zu tun, was die Gehweginfrastruktur angeht.

Das fängt damit an, dass auf vielen Wegen der bauliche Zustand der Gehwege sehr desolat ist. In manchen Straßen gibt es mitunter gar keinen Gehweg. Sehr oft oder in den überwiegenden Straßen ist der Raum ungerecht aufgeteilt. Der fahrende und ruhende, motorisierte Verkehr – also der Autoverkehr und Parken – okkupiert überproportional viel Raum, obwohl diese Verkehrsform die ineffizienteste ist. Nehmen wir beispielsweise eine Kreuzung und geben zu deren Überquerung einen Zeitraum von vielleicht 15 Sekunden, dann kommen in diesen 15 Sekunden zu Fuß am meisten Menschen über die Straße. Allenfalls eine Straßenbahn oder ein Bus könnte das übertreffen Dabei kommt das Gehen auch ganz ohne künstliche Ressourcen aus. Von daher sollte auch da „mehr gehen“.

Und Gehen macht ja auch unglaublich Freude. Das ist etwas in Vergessenheit geraten. Es hat sich eine komische Mentalität eingeschlichen, dass man, wenn man mit einem fahrenden Verkehrsmittel unterwegs ist, meint, man habe den größten Genuss, wenn man bis vor die Tür fahren kann. Das ist ein Irrtum, denn das Gehen ist eine Freude – abgesehen vom Gehen bei Wetterkapriolen. Es ist einfach die schönste Art der Fortbewegung.

Nur gehen, ist das für Sie gangbar?

Ich habe 2015 eine Wanderung von Aachen nach Zittau unternommen. Ich lief neun Wochen auf dem Denkweg, den ich entworfen habe. In meiner Vorbereitungszeit wollte ich alle Wege, die ich zu erledigen hatte, gehen. Und das war total super. Man kann in aller Ruhe nachdenken. Häufig sieht man etwas Interessantes. Man geht viel mehr mit offenen Augen und Sinnen durch die Welt. Sobald man fährt – egal mit welchem Fahrzeug – ist man hingegen nicht mehr so in der Welt, als wenn man ginge.

Bei Wegen ab einem Kilometer braucht man zu Fuß natürlich länger als mit dem Rad. Aber das ist doch oft egal – ich habe beim Gehen einfach eine gute Zeit. Wenn ich mit dem Auto oder mit dem Rad fahre, erlebe ich das immer als Hetze oder Stress.

Viele Menschen klagen, sie könnten ihre Wege gar nicht gehen, sondern müssten mit dem Auto fahren. Wie kann man seinen Alltag besser ge(h)stalten?

Das ist richtig. Ich kann mir diesen Luxus leisten, nicht fahren zu müssen. In der Geschichtsschreibung gab es ja mal einen anderen Blick: Dass nur die gehen, die kein Geld für ein Fahrzeug haben. Bevor die Promenade erfunden wurde, war es den Adeligen vorbehalten, in ihren Gärten zu spazieren. Erst mit der Erfindung des bürgerlichen Spaziergangs haben auch die Bürger die Zeit zu Fuß genossen, indem sie auf die Promenade gingen.

Dadurch zeigten sie, dass sie Zeit hatten, und waren in der Gesellschaft präsent. Man partizipierte am gesellschaftlichen Leben, indem man auf die Promenade ging. Das hat in Leipzig schon seit 300 Jahren Tradition. So einfach kann es gehen. Heute ist das eher andersherum.

Aber natürlich: Wenn ich drei kleine Kinder habe und eine Arbeit, dann habe ich Stress, wenn ich alles laufen wöllte. Ich bin sehr froh, dass ich das nicht muss. Aber ich komme immer wieder mit Menschen zusammen, auch in Leipzig, die das Gehen anderen Optionen vorziehen. Ich kenne beispielsweise eine Studentin, die morgens eine Stunde eher aufsteht, um zur Uni zu laufen statt mit dem Rad zu fahren.

Etwas Ähnliches hörte ich von einer Straßenbahnfahrerin, die bewusst für die Gesundheit 10.000 Schritte gehen will. Und wenn sie ihre Wege nicht laufen kann und schon zu Hause ist, muss sie noch mal los, um ihre Schritte zu machen. Also spart sie Zeit, wenn man alles läuft (lacht).

Und wie geht’s richtig?

Interessant ist, dass im Laufe der Geschichte die Menschen durchaus unterschiedliche Gangarten hatten. Wir rollen heute vom Ballen hin zur Ferse ab. Das hat auch mit unseren Schuhen zu tun. Wenn man barfuß oder nur mit dünnen Sandalen geht, dann setzt man meistens erst mit den Zehen auf, um den Untergrund zu spüren. Orthopäden sagen auch, dass viele Menschen eine schlechte Gangart haben. Früher oder später führt das dann zu Krankheiten am Knochengerüst.

Da versagt für mich der Sportunterricht, weil der nur auf Leistung aus ist. In der Grundschule müsste man vielleicht mal auf die Gangweisen achten. Darüber hinaus gibt es ja unterschiedliche Gangarten: schlendern, stolzieren, bummeln, marschieren, promenieren. Da zeigt sich ja auch eine Vielfalt und ein Reichtum.

Ihr kürzlich veröffentlichtes Buch heißt „Einfach losgehen“. Nehmen wir mal an, manch einer würde sich dafür entscheiden: So einfach scheint es ja nicht zu sein, wenn Sie darüber ein Buch schreiben.

Man ist oft ein Insasse in seiner Welt, voll mit Aufgaben. Manchmal ist es gar unmöglich, loszugehen. So stand auch mein gepackter Rucksack, das Versprechen auf die Freiheit, manchmal lange an meinem Schreibtisch, ehe ich tatsächlich losgehen konnte. Gerne laufe ich von meiner Haustür aus los. Die ersten Minuten führen durch die unmittelbare Wohnumgebung, die einem mehr als bekannt ist.

Trotzdem verändert sich der Blick bereits – von der Haustür weg ist man schon unterwegs auf seiner Reise. Das Zurückkehren findet ebenfalls allmählich statt, wenn man geht. Man kommt Stück für Stück nach Hause anstatt etwa mit dem Taxi binnen weniger Minuten. Die Umgebung ist einem wieder vertraut und gleichzeitig ganz neu.

Wie weit kann’s gehen?

Jeder kann im Grunde 15 bis 20 km laufen, mit Übung auch deutlich mehr. Kürzlich las ich von einem Extremwanderer, der 300 Kilometer ohne einmal zu schlafen gelaufen ist. Allein aus sich selbst heraus kann man sein Leistungsvermögen nach und nach steigern – eine Art der Selbstermächtigung.

Dies ist eine wertvolle Erfahrung, um sich selbst von Erwartungen von außen, die durch den Konsum an uns herangetragen werden, unabhängig zu machen. Konsum ist Ersatzbefriedigung. Je mehr Erfahrungen von Selbstermächtigung man erlebt, dass man also von sich heraus Dinge kann, desto freier wird man. Dann braucht man nicht ständig die neueste Mode oder irgendein aufgepimptes oder tiefgelegtes Zeug.

Geht’s gut in Leipzig?

In Leipzig geht es mit dem Gehen mehr und mehr voran. Beispielsweise gibt es seit einem Jahr einen Fußverkehrsverantwortlichen. Er überprüft laufende Straßenplanungen explizit im Hinblick auf die Bedürfnisse der Fußgänger und kann somit rechtzeitig Korrekturen einbringen. An sich – so sagt die hehre Theorie – wäre dies überflüssig, da die Verkehrsplanung ohnehin alle Verkehrsarten integriert.

Wenn man sich allerdings die Straßen in der Stadt anschaut, muss man feststellen, dass die Planung das nicht wirklich ist: integrativ. Hier und da beschleicht einen der Verdacht, die Straßen wurden von Autofahrern insbesondere für Autofahrer geplant.

Eine haarsträubende Stelle befindet sich beispielsweise am Tröndlinring zwischen Hauptbahnhof und Goerdelerring: Neben drei Fahrspuren für Straßenbahnen und jeweils drei oder mehr für den Autoverkehr verblieben kaum noch zweieinhalb Meter Seitenbreite, den sich Fußgänger und Radfahrer auf der nördlichen Seite teilen. Dies ist nicht aus böser Absicht der Planer so, sondern weil diesen die Perspektive der Fußgänger weit weniger präsent ist als die Perspektive der Fahrenden. Wenn man also etwas für eine fußgängerfreundliche Stadt tun will, muss man mit den Entscheidungsträgern zu Fuß durch die Stadt gehen und ihnen die Probleme zeigen, die sich auftun, wenn man geht.

Für den Fachverband Fußverkehr (kurz FUSS e. V.) und zusammen mit dem Verkehrsclub Deutschland gestalte ich dieses Jahr zum fünften Mal einen Spaziergang mit Oberbürgermeister Burkhard Jung. Dies folgt der Überlegung, dass der OBM, die Abteilungsleiter der Stadtverwaltung und die Stadträte einen sehr vollen Terminplan haben – aber wenig Zeit, um die Stadt zu Fuß zu erleben.

Die Art, wie wir uns bewegen, prägt aber unser Verständnis der Stadt. Ein solcher Perspektivwechsel, sich also einmal in die Rolle der anderen Verkehrsteilnehmer hineinzudenken, ist überhaupt eine gute Sache und auch allen zu empfehlen, die eine Meinung zum Verkehrsgeschehen haben. Wer selbst viel Freude am Gehen hat, ist übrigens bei der Leipziger Ortsgruppe des FUSS e. V. herzlich willkommen.

Mehr Informationen zum Gehen und zu Spaziergangsveranstaltungen in Leipzig unter:

atelier-latent.de
leipzig-zu-fuss.de
talk-walks.net

Warum eine Gesellschaft in der Wohlstands-Quengelzone so viel Angst vorm Erwachsenwerden hat

Warum eine Gesellschaft in der Wohlstands-Quengelzone so viel Angst vorm Erwachsenwerden hat

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar