Am Ende reichte die Zeit nicht mehr. Der Tagesordnungspunkt 21.6 „Mobilitätsstrategie 2030 für Leipzig“ musste am Mittwoch auf die nächste Sitzung des Stadtrates am Donnerstag, 27. September, verschoben werden. Wobei sich längst abzeichnet, dass der Stadtrat wohl für das Nachhaltigkeitsszenario stimmen wird. Schon aus simplen finanziellen Überlegungen. Und natürlich Überlegungen zur Attraktivität der Stadt.

„Das Nachhaltigkeitsszenario ist (neben dem Gemeinschaftsszenario) das einzige, bei welchem trotz der wachsenden Bevölkerung die Attraktivität des städtischen Raums steigt, die Bedingungen für ÖPNV, MIV und Wirtschaftsverkehr sich nicht verschlechtern und die Einhaltung der Schadstoffgrenzwerte wahrscheinlich ist“, schreibt der zeitweilig beratende Ausschuss Verkehr und Mobilität in seiner Vorlage für die Ratsversammlung.

Dieser Ausschuss wurde extra gegründet, um die sechs von der Verwaltung vorgelegten Mobilitätsszenarien bis zum Jahr 2030 zu bewerten und dann der Ratsversammlung ein Szenario vorzuschlagen, das wirklich passt zu Leipzig.

Und das Nachhaltigkeitsszenario hat noch mehr Punkte, die dafür sprechen: „Zudem handelt es sich um ein leises Szenario. Durch eine gleichberechtigte Entwicklung aller Verkehrsträger wird die Attraktivität der Stadt für alle Verkehrsteilnehmer gleichermaßen erhöht. Trotz der derzeit noch ungelösten Finanzierungsfragen erscheint es bei einer Fokussierung der Investitionen ab Mitte der zwanziger Jahre auf dieses Thema und der Einwerbung von Fördermittel noch umsetzbar. Dies ist beim Gemeinschaftsszenario mit Mehrkosten von über 1 Mrd. Euro gegenüber dem Nachhaltigkeitsszenario nicht mehr der Fall.“

Besonders teuer würde das Gemeinschaftsszenario durch die Projektierung eines neuen Ost-West-Tunnels – gedacht zwar für die Straßenbahn. Aber seit die Idee auf dem Tisch ist, geistern ja wieder alle möglichen Tunnelvorschläge für Leipzig durch den Raum. Doch egal, welche Tunnellösung man andenkt – sie wird teuer und ohne Extra-Kosten von weit über 1 Milliarde Euro nicht umsetzbar sein. Und ob jemand so ein Wünsch-dir-was-Projekt auch noch fördert, ist höchst fraglich.

Die Debatte über die sechs Szenarien hat zumindest Klarheit geschafft – auch darüber, was die wachsende Stadt tatsächlich braucht an Verkehrslösungen.

„Die Fortführungs-Szenarien sind so offensichtlich nicht geeignet, Mobilität in Leipzig in einem angemessenen Maße zu sichern, sodass sie keine Option sind“, stellt der zeitweilig tagende Ausschuss fest, der mittlerweile auch davon ausgeht, dass seine Arbeit bis mindestens 2022 gebraucht wird. Denn die Szenarien bilden ja nur einen groben Rahmen – die konkrete Untersetzung mit Planungen fehlt noch völlig.

„Dem Stadtrat ist bewusst, dass die Umsetzung des Nachhaltigkeitsszenarios zum heutigen Zeitpunkt finanziell noch nicht vollständig untersetzt ist“, schreibt der Ausschuss deshalb in seiner Vorlage.

Und eine durchaus deutliche Kritik lässt man sich dort auch nicht nehmen. Denn während der Stadtrat noch über die beste Strategie berät, fährt die Stadtholding LVV ihre eigene Schiene: „In der LVV ist das ÖPNV-Vorrangszenario Gegenstand der Planung. Daher ist dort zum einen der im Nachhaltigkeitsszenario laut Vorlage gegenüber dem ÖPNV-Vorrangszenario bis zum Jahr 2030 zusätzliche Investitionsbedarf in Höhe von 150 bis 300 Mio. Euro und zum anderen der durch die Deckelung der Fahrpreissteigerungen auf höchstens 2 Prozent gegenüber der Planung von 3,5 Prozent entstehende, bis zum Jahr 2030 kumulierte Einnahmeausfall von 130 bis 320 Mio. Euro offen.“

Dass sich die LVV auf das ÖPNV-Vorrang-Szenario beschränkt, hat natürlich auch damit zu tun, dass man sich um Straßenbahnen und Busse kümmern muss, nicht aber um die Radwege, um deren Ausbau sich die Stadt kümmern muss. Die gesellschaftliche Akzeptanz für ein reines ÖPNV-Vorrangszenario aber wäre denkbar gering. Es würde nicht einmal die Attraktivität des ÖPNV erhöhen. Es ist eher eine Art Sparvariante – also ungefähr das, was die LVB derzeit schon praktiziert: Konzentration aufs unbedingt Nötige, Kostensteigerungen durch Fahrpreiserhöhungen auffangen und den Zuschussbedarf durch die Stadt möglichst gering halten.

Ein System, das heute schon viele Fahrgäste verärgert. Denn das haben die sechs Szenarien den Stadträten deutlich gemacht: Wenn Leipzig nicht endlich wirklich Geld in nennenswerter Größenordnung in den Umweltverbund steckt, wird der Verkehr in Leipzig in den 2020er Jahren unangenehm bis hässlich. Auch die LVB müssen ihre Investitionen deutlich erhöhen. Ein Weiterso im jetzigen Netz wäre eine Katastrophe.

„Der Investitionsbedarf für alle Szenarien ist im städtischen Haushalt weitgehend unberücksichtigt. Dieser würde für das ÖPNV-Vorrangszenario 500 Mio. Euro betragen. Beim Nachhaltigkeitsszenario erhöht sich dieser Investitionsaufwand um 100 bis 200 Mio. Euro, sodass insgesamt 600 bis 700 Mio. Euro zu finanzieren wären“, stellt der Sonderausschuss fest.

Und gibt damit auch OBM Burkhard Jung das Signal, dass gleich nach Schulen und Kitas die nötigen Investitionen in den ÖPNV (und ins Radwegenetz) kommen müssen. Darüber berate er schon mit LVV und LVB, sagte Burkhard Jung am Mittwoch, die Finanzierung könne nur im Dreiklang Stadt, LVV und LVB gestemmt werden.

Und der Vorlauf ist wichtig. Denn wer zu spät startet, landet zwangsläufig im Stau.

„Der Stadtrat trifft diese Entscheidung im Bewusstsein, dass bis zum Jahr 2024 zwischen ÖPNV-Vorrangszenario und Nachhaltigkeitsszenario die Unterschiede in der praktischen Umsetzung der erforderlichen Investitionen sehr gering sind und kaum ins Gewicht fallen, sich die Projekte gegenüber der Annahme in der Vorlage aufgrund des geringen Planungsvorlaufs verzögern werden und sich die Finanzierunglücken bei den Investitionen und Einnahmeausfällen bis dahin in Grenzen halten“, heißt es in der Vorlage des zeitweiligen Ausschusses.

„Dem Stadtrat ist bewusst, dass es sich bei den Einzelmaßnahmen welche im Zusammenhang mit dem Szenarienprozess vorgestellt wurden, um Beispiele und Ideensammlungen handelt, welche überwiegend weder hinsichtlich ihrer verkehrlichen Wirksamkeit untersucht, noch durch Vorplanungen untersetzt und auch nicht priorisiert sind.“

Aber weil die Planung echter neuer Verkehrsprojekte Jahre braucht und die Antragstellung für Fördergelder erst recht, muss gleich nach der Stadtratsentscheidung die konkrete Ausarbeitung des dann wohl beschlossenen Nachhaltigkeitsszenarios begonnen werden.

„Es ist dringend notwendig, sehr schnell mit der Priorisierung und Umsetzung der notwendigen Maßnahmen zu beginnen, da es sich bei den vorgestellten Maßnahmen überwiegen um Projektideen handelt und für die Einwerbung von Fördermitten mindestens eine Vorplanung erforderlich ist. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Personalausstattung schnell zu erhöhen“, erinnert der Ausschuss daran, dass es im Rathaus an Planungsingenieuren mangelt.

„Die zusätzlichen Stellen und die damit verbundenen Finanzmittel müssen daher bereits im Doppelhaushalt 2019/2020 bereitgestellt werden. Die Vorplanungen bieten auch eine verbesserte Grundlage zur Bewertung der Investitionsentscheidungen. Daher ist eine Evaluierung im Jahr 2022 angezeigt. Der Ausschuss Verkehr und Mobilität sollte als Begleitgremium für diesen Prozess bis zum Abschluss der Evaluierung fortgeführt werden.“

Dass die Verwaltung überhaupt erst einmal solche langfristigen Szenarien vorgelegt hat, finden die Ausschussmitglieder natürlich gut. Denn endlich gibt es damit eine Grundlage, wirklich langfristig an wichtige Planungen zu gehen. Die gab es bis jetzt tatsächlich nicht.

„Angesichts der noch ungelösten Finanzierung gehen wir jedoch gerade davon aus, dass eine langfristige Strategie für die Mobilität in Leipzig die Chancen erheblich verbessern wird, für diese auch die entsprechenden Fördermittel organisieren zu können“, stellen die Ausschussmitglieder fest. „Hierfür bietet der Szenarioprozess eine gute Grundlage, weil er mit dem Nachhaltigkeitsszenario sowohl die Grundlage für eine solche Strategie legt als auch deutlich macht, was passiert, wenn sich nichts grundlegend ändert: Der Verkehr wird langsamer und trotzdem teurer.“

Und da alle Fraktionen ihre Experten in diesen Ausschuss entsandt haben, weiß man, was das heißt: Die Ratsfraktionen sind sich allesamt einig, dass ÖPNV und Radverkehr zwingend ausgebaut werden müssen, damit Leipzig 2030 nicht im Verkehrschaos versinkt.

In der Ratsversammlung am Mittwoch, 19. September, fehlte dann freilich am Ende die Zeit, über diese Vorlage zu diskutieren. Besonders die Verkehrsexpertin der Linksfraktion, Franziska Riekewald, zappelte schon auf ihrem Platz. Aber OBM Burkhard Jung konnte – da ja an dem Tag schon intensiv über den Doppelhaushalt diskutiert wurde – nur feststellen, dass man es einfach nicht mehr schaffe. So wird die Entscheidung zum Mobilitätsszenario am Donnerstag, 27. September, auf der Tagesordnung stehen.

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